Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.
Da sprach der HERR zu Kain: "Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie."
Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: "Lass uns aufs Feld gehen!" Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
Da sprach der HERR zu Kain: "Wo ist dein Bruder Abel?" Er sprach: "Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?" Er aber sprach: "Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruder Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden." Kain aber sprach zu dem HERRN: "Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet." Aber der HERR sprach zu ihm: "Nein, sondern wer Kain totschlägt, der soll siebenfältig gerächt werden." Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN.
1. Mose (Genesis) 4, 1-16a
Liebe Schwestern
und Brüder,
Gott schuf den Menschen zu seinem
Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn … Und Gott sah an alles, was
er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. – Drei
Kapitel weiter erschlägt ein Mensch den andern. Nichts ist mehr gut
in Gottes gefallener Schöpfung.
Die Geschichte von
Kain und Abel ist eine ganz alltägliche Geschichte seither. Der
Menschenbruder erschlägt seinesgleichen. Das Blut der Erschlagenen
schreit zum Himmel, und die Mörder leben weiter.
Jeden Tag geschieht
das:
Aus Nachbarn, die
friedlich im selben Land, in derselben Stadt gewohnt haben, sind
Kriegsgegner geworden – so in Syrien. So auch vor zwei Jahrzehnten
in Jugoslawien.
Aus einem Paar, das
unter einem Dach wohnt, das Tisch und Bett geteilt hat, werden
Feinde, verzweifelte Gegner. Einer erschlägt den anderen, bringt die
Kinder um, dann sich selbst. „Familiendrama“ nennen wir das, es
passiert aller paar Wochen irgendwo.
Ein Mann, als Jude
erkennbar, weil er eine Kippa trägt, ist mit seiner kleinen Tochter
unterwegs. Er wird zusammengeschlagen und halbtot liegen gelassen vor
den Augen seiner Tochter, nur weil er Jude ist. So geschehen vor ein
paar Tagen in Berlin.
Ein anderer Mann
kommt Teenagern zu Hilfe, die von älteren Jugendlichen bedroht und
abgezogen werden, er wird zu Tode geprügelt. Das war in München vor
drei Jahren.
Die Geschichte von
Kain und Abel geschieht überall, immer wieder. Es ist da offenbar
etwas im Menschen, das ihn zum Mörder seines Bruders macht – oder
zum Opfer seines Bruders. Beides ist möglich, beides ist in uns.
Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen und nicht davon ausgehen,
dass wir selber zu Opfern oder gar zu Tätern werden. Und doch sind
ja die Opfer und die Täter immer nur Menschen wie du und ich. Es ist
da etwas in uns …
Die
Bibel erzählt uns in ihren Anfangskapiteln Geschichten davon, wie
wir Menschen sind, schon immer, seit Anbeginn der Schöpfung.
Geschichten, die sich seither millionenfach wiederholt haben.
Geschichten von Liebe und Hass, vom Stolz der Eltern und von der
Konkurrenz unter Geschwistern. Geschichten von Neid und Eifersucht,
von Mord und Totschlag, von Schuld und Strafe, vom Tod und vom Leben.
Das alles findet sich z.B. in dieser kurzen Erzählung von Kain und
Abel. Und das alles findet sich in uns. In unterschiedlicher
Ausprägung. Aber es ist das Menschliche, das keinem von uns fremd
ist und das uns zu schaffen macht. Denn es ist nicht gut. Ist
offenbar nicht so, wie es gedacht war, als der Schöpfer sich für
einen Tag zurücklehnte und ausruhte, weil alles, was er gemacht
hatte, wie er fand, sehr gut war. Am achten Tag jedenfalls muss er
wieder tätig werden, um auszubügeln und in Ordnung zu bringen, was
nicht mehr gut ist, weil seine Menschen es kaputtmachen: Adam und
Eva, Kain und Abel, Du und Ich.
Warum kommen zwei
Menschenbrüder nicht miteinander klar? Was löst diesen Neid, diese
Eifersucht, diesen tödlichen Hass aus?
Es
sind ganz einfach – die Unterschiede. Keine zwei Menschen sind
gleich. Aber sie vergleichen.
Wenn sie sich besser wähnen als der andere, dann frohlocken sie,
dann fühlen sie sich gut und stark. Wenn sie sich schlechter wähnen
als der andere, dann wurmt sie das, macht sie eifersüchtig und
missgünstig.
Kain ist
Ackerbauer, Abel ist Viehzüchter. Sie haben unterschiedliche
Lebensentwürfe gewählt, weil sie unterschiedliche Menschen sind,
vielleicht auch, um sich keine direkte Konkurrenz zu machen. Und dann
ist doch der eine, Abel, erfolgreich, und der andere nicht. Man weiß
nicht warum. Es heißt nur, dass Gott das Opfer des einen gnädig
ansah, das Opfer des anderen nicht. Es ist da schon allerhand
hineininterpretiert worden, aber diese Interpretationen führen nicht
weiter. Gott macht einfach Unterschiede.
Und
das ist ein Problem, mit dem wir leben müssen – und das doch
schwer und rätselhaft ist. Warum geht es dem einen gut und dem
andern schlecht? Warum lebe ich im reichen Teil der Welt und ein
anderer in einem Slum in Nairobi? Warum erfreut sich der eine mit 93
Jahren guter Gesundheit und geistiger Frische (und das als
Kettenraucher), während ein anderer in jungen Jahren erkrankt und
stirbt? Warum ist es dem einen in der Schule leicht gefallen und dem
anderen nicht? Warum ist die eine so hübsch, dass ihr die Jungs
reihenweise zu Füßen liegen, und die andere ist ein hässliches
Entlein, das am Ende bestenfalls auch nur einen hässlichen Erpel
abbekommt? – Warum hat der eine das Gefühl, Gott überschütte ihn
mit Gnade und Segen, und der andere hat den Eindruck, er sei vom
lieben Gott vergessen worden? Und vielleicht ist es ja sogar so, dass
der erste sein Glück und seinen Segen mit leichter
Selbstverständlichkeit hinnimmt, während der andere um so mehr mit
seinem Schicksal hadert. Das ist der Stoff für Neid- und
Eifersuchtsdramen à la Kain und Abel: die Unterschiede zwischen
Menschen.
Gewiss, wir leben
ja auch von den Unterschieden: von der Unterschiedlichkeit der
Charaktere, der Begabungen. Jeder einzelne in seiner
Unterschiedlichkeit zu allen anderen verwirklicht in ganz einmaliger
und unwiederholbarer Weise ein Stück davon, wie Menschsein aussehen
kann. Und schließt doch damit zugleich jede andere Weise als Mensch
zu leben aus. Ich bin ich, ich kann nicht du sein. Das ist schön,
aber manchmal auch schwer.
Das politische
Anliegen, alle Menschen gleich machen zu wollen, möglichst alle
Unterschiede zum Verschwinden bringen zu wollen, mag im Blick auf
die, die sich vom Leben, vom Schicksal oder von Gott benachteiligt
fühlen, nachvollziehbar sein. Aber mehr als Chancengleichheit kann
man wohl nicht erreichen. Sonst enden solche Versuche der
Gleichmacherei im großen Maßstab in Mord und Totschlag.
Gerechtigkeit ist eben nicht Gleichheit; Gerechtigkeit heißt
vielmehr, den Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht werden.
Also: Kain möchte
wie Abel sein. Aber er kann nicht wie Abel sein, denn er ist Kain.
Also muss Abel weg. Damit ist Kain zwar immer noch kein bisschen
besser dran, aber der, der besser dran war, ist nicht mehr da, und
Kain muss sich nicht mehr schlechter fühlen als er. Das ist die
innere Logik des Brudermords, obgleich es eine dumme Logik ist. Denn
keiner kann dabei gewinnen.
Aber
die Geschichte muss ja gar nicht so enden. Bevor Kain den Abel hinaus
aufs Feld lockt, um ihn zu töten, gibt es eine Zäsur. Gott bringt
sich in Erinnerung. Gott fragt nach, wie es Kain geht, und wie ein
Freund rät er ihm zur Achtsamkeit, zur Selbstachtsamkeit: Warum
ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist‘s nicht also?
Wenn du fromm bist – das
heißt: wenn du rechtschaffen bist und Gutes im Sinne hast
–, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm,
so lauert die Sünde – wie ein
gefährliches wildes Tier – vor der Tür, und nach dir
hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. –
Gott erinnert Kain daran, dass er die Verantwortung hat für sein Tun
und Lassen, dass er sich nicht von seinen Gefühlen beherrschen
lassen muss. Er kann wohl
unterscheiden, was gute und schlechte Gefühle sind. Er kann wohl
wissen, was Sünde ist und was nicht. Und er muss ihr die Tür nicht
öffnen. Er kann sich und die Sünde beherrschen. Er könnte
es, wenn er wollte, sagt ihm
Gott. – Ich finde das hoch interessant: Gott sagt Kain nicht, dass
er nicht töten darf. Das weiß Kain eigentlich, und Gott setzt es
voraus. Jeder Mörder weiß, dass er nicht töten darf. Gott spricht
ihn auf seine Selbstbeherrschung an, auf seinen Umgang mit seinen
eigenen Gefühlen und Befindlichkeiten: Du bist deinen Gefühlen
nicht machtlos ausgeliefert, du sollst über sie herrschen, sonst
können sie dich zerstören!
Spannend: Die
Tugend der Disziplin und Selbstbeherrschung steht im Allgemeinen
nicht mehr so hoch im Kurs. Aber innere Stärke zeigt sich gerade in
Selbstbeherrschung. Ich muss meiner Wut nicht nachgeben. Ich muss
mich nicht von Eifersuchts-, Neid- und Rachegelüsten treiben lassen
…
Man kann jedenfalls
nicht sagen, dass Gott den Kain sehenden Auges in sein Verderben
laufen ließe. Man kann aber auch nicht sagen, dass Gott ihm die
Entscheidung abnimmt und ihm direkt in die Arme fällt. – Das ist
ja ein Grund, warum es bis heute überall und immer wieder Mord und
Totschlag gibt: Gott entbindet niemanden von seiner Verantwortung und
von seiner eigenen Entscheidung.
Nein,
Gott entbindet niemanden von seiner Verantwortung, und darum zieht er
den Übeltäter, den Mörder dann auch wirklich zur Verantwortung.
Keiner kann sich seiner Verantwortung entziehen. Auch dafür steht
Gott. Kain meint, es gäbe keinen Zeugen für seinen Mord. Aber Gott
ist Zeuge. Und er ist sofort zur Stelle: Wo ist dein Bruder
Abel?
Das ist eine
wichtige, eine große Wahrheit: Vor Gott lässt sich nichts
verbergen. Bei Gott bleibt kein Verbrechen unaufgeklärt, kein
Mordfall ungelöst. Gott steht für die endgültige Gerechtigkeit. Er
hört das vergossene Blut zum Himmel schreien. Wir kennen noch den
Ausdruck vom himmelschreienden Unrecht. Wir dürfen gewiss sein: Sein
Schreien wird im Himmel gehört.
Wo ist dein
Bruder Abel? – Der Menschenbruder Kain ist so klein und feige.
Er steht nicht zu seiner Tat, er will sich vor seiner Verantwortung
drücken: Ich weiß nicht, wo er ist. Soll ich meines
Bruder Hüter sein? – Natürlich sollte er. Wir haben
Verantwortung für unseren Mitmenschen für unseren Bruder, für
unsere Schwester. – Kain hat nicht nur seinen Bruder nicht gehütet,
er hat ihn umgebracht. Und er weiß es ganz genau.
Und dann nimmt die
Geschichte eine merkwürdige Wendung, sogar eine doppelte Wendung:
Gottes Strafe für Kain fällt lachhaft niedrig aus. Kains Acker wird
verflucht, so dass er nicht mehr von seiner Scholle leben kann, die
ihm bisher die Existenz gesichert hat und die er nun mit dem Blut
seines Bruders getränkt hatte. Wohl gemerkt: Gott verflucht den
Acker, nicht den Menschen. Der soll jetzt als Fremdling und
Flüchtling leben. – Aber Kain findet selbst das noch zu hart:
Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. –
Könnte ja passieren, dass ihn, den Mörder, jemand anders
totschlägt, so befürchtet er. – Nochmal klein und feige, unser
Menschenbruder Kain. – Verantwortung zu übernehmen hieße,
einzugestehen: Meine Strafe ist zu mild, denn sie kann nicht wieder
gut machen, was ich verschuldet habe.
Aber Gott nimmt
sogar diesen merkwürdig feigen Einwand ernst und versieht Kain mit
einem Schutzzeichen, damit ihm nur ja nichts passiert. Kain darf
weiterleben. Zwar fern vom Angesicht des Herrn, wie es heißt,
aber leben. Der Mörder wird nicht, wie es konsequent wäre, mit dem
Tode bestraft, er wird nicht mal weggesperrt und aus dem Verkehr
gezogen. Nein, er steht unter Gottes besonderem Schutz.
Das ist schwer zu
verstehen. Gott tut hier, was wir oft genug leidvoll der heutigen
Justiz vorwerfen: Er geht viel zu nachsichtig mit dem Täter um und
kümmert sich überhaupt nicht weiter um das Opfer.
Doch was soll auch
mit dem Opfer, unserem Menschenbruder Abel werden? – Gewiss, er
wird auferstehen am jüngsten Tag, ihm wird Gerechtigkeit
widerfahren. Doch das ist hier noch nicht das Thema.
Das Thema ist: Wie
kann das Leben weiter gehen für Menschen, die an ihrem
Menschenbruder schuldig geworden sind? Wie kann das Leben weiter
gehen für eine Menschheit, die immer aus Tätern und Opfern besteht,
wobei sich diese beiden Rollen oft genug kaum trennen lassen? Wie
kann das Leben für uns weitergehen, für uns Schwestern und Brüder
von Kain und Abel, von Abel und Kain?
Wahrscheinlich nur
mit einem Schutzzeichen Gottes, damit dem gegenseitigen Morden und
Rächen Einhalt geboten wird. Es ist ja ein Wunder, dass wir noch
leben. Dass wir uns noch nicht alle umgebracht haben. Dass wir neben
allem Mord und Totschlag, allem Elend und aller Gewalt Wege finden,
um einigermaßen friedlich miteinander zu leben, unsere Unterschiede
auszuhalten und sie in guten Momenten sogar als Geschenk und
Bereicherung zu erleben.
Ja, wir können und
müssen es sehen und wahrnehmen, dass wir Menschen einander
schrecklich sein können. Aber wir dürfen es auch dankbar zur
Kenntnis nehmen, dass wir einander auch Schwestern und Brüder sind,
die sich normalerweise nicht die Köpfe einschlagen, sondern einander
ansehen, dass wir Gottes Geschöpfe sind und unter seinem Schutz
stehen.
Gott möchte, dass
wir leben und einander leben lassen.
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