Samstag, 31. Oktober 2015

Zündfunke (Rundfunkandacht) am 31. Oktober 2015

Kleine Ursache – große Wirkung.
Ein Theologie-Professor macht einen Aushang. Er lädt zu einer wissenschaftlichen Disputation ein. Mit Kollegen möchte er seine Thesen vor dem akademischen Publikum diskutieren. Und, wie es üblich ist, macht er sie vorher per Aushang bekannt. 95 Thesen über das Bußsakrament, über zeitliche und ewige Sündenstrafen, darüber, was Kirche und Pfarrer in diesen Dingen sagen und entscheiden dürfen und was nicht, darüber, was Gläubige tun können, um Gottes Strafen zu entgehen. Solche Themen würden heute außer zwei, drei Spezialisten keinen Menschen mehr interessieren.
Vor fast 500 Jahren war das anders. Das Leben war kurz und hart; entscheidend war, was danach kommt: Himmel, Hölle, Fegefeuer? Was kann ich tun, um den ewigen Qualen zu entgehen und die zeitlichen Qualen – dafür stand das Fegefeuer – zu verkürzen. Zur Beichte gehen, Sünden bekennen, Bußleistungen erbringen, klar. Vielleicht aber auch einen Ablass kaufen: Gegen Geld die zeitlichen Sündenstrafen erlassen oder verkürzt bekommen. Warum nicht – wenn man damit gleichzeitig die Kirche unterstützte und den Bau des Petersdoms in Rom? „Wenn das Geld im Kasten klingt,“ – gemeint war der Geldkasten der Ablasshändler – „die Seele aus dem Fegefeuer springt“, hieß es.
Die 95 Thesen des Theologieprofessors Luther behaupteten: Das stimmt nicht. So nicht. Gottes Gnade ist nicht käuflich. Und Buße ist keine Geldbuße oder irgendwelche besonders guten Werke zum Ausgleich für die Sünden. Buße ist es, sich jeden Tag neu an Gott zu wenden, ihm zu vertrauen und in diesem Gottvertrauen zu leben.
Am 31. Oktober 1517, hat Martin Luther seine 95 Thesen über den Ablass veröffentlicht. Einen Aushang an der Kirchentür von Wittenberg gemacht. Und damit eine Revolution des Glaubens ausgelöst. Reformation hat man das genannt.
Nicht nur in der Universität wurde über Luthers Thesen diskutiert, sondern auch auf den Straßen und in den Wirtshäusern. Schnell waren sie aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt. Schnell hatte man sie gedruckt, und schnell verbreiteten sie sich übers Land.
So begann die Reformation, die Erneuerung der Kirche aus dem Wort der Bibel und dem Geist des Evangeliums. Evangelisch sollte die Kirche sein, dem Evangelium gemäß, der Botschaft von Gottes Liebe und Barmherzigkeit.

Daran erinnert uns der heutige Reformationstag.

Freitag, 30. Oktober 2015

Zündfunke (Rundfunkandacht) am 30. Oktober 2015

„Es gab Höhen und Tiefen.“ – Wenn Ehepaare zu mir kommen, die ihre Silberne, Goldene oder Diamantene Hochzeit mit kirchlichem Segen feiern wollen, dann versuche ich, mit ihnen ins Gespräch zu kommen über die gemeinsame Zeit, die sie erlebt haben. Und sehr häufig fällt dann dieser Satz: „Es gab Höhen und Tiefen.“
Die Topografie eines gemeinsamen Lebens: Berge und Täler. Orte mit grandiosem Ausblick und erhebenden Gefühlen. Und dazwischen harte Wegstrecken, über Stock und Stein, durch dunkle Täler oder schwer bergauf. Schmerzende Füße, brennender Durst, Hitze, Kälte, Erschöpfung. Einer geht vorneweg, der andere kommt nicht nach. Unterwegs verlaufen, die Richtung verloren. Und dann doch gemeinsam angekommen heute und hier: Bis hierher hat mich Gott gebracht durch seine große Güte. So singen wir dann oft – nach 25, 50 oder 60 Jahren.
Höhen und Tiefen. Das ist normal. Wer will denn nur immer die Ebene, das Flache? Nein, wer Höhepunkte erleben will, der darf die Mühe des Anstiegs nicht scheuen, und der soll nicht traurig werden, wenn es wieder bergab geht. Im besten Fall entschädigen die Höhen ja für die Tiefen.
Meistens bringen wir die Höhen eher mit Gott in Verbindung als die Tiefen. Ich habe in den vergangenen Tagen über Berge gesprochen und davon, dass sie unsere Herzen zu Gott erheben. Wie gut aber, dass Gott nicht nur auf den Höhepunkten unseres Lebens zu finden ist, da, wo alles gut ist, wo wir glücklich sind, sondern auch – und vielleicht sogar noch mehr – an den Tiefpunkten, in den dunklen Tälern, wo es uns schlecht geht. In dem wunderbaren Psalm 23 heißt es: Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, du bist bei mir.
Wörtlich ist dieses finstere Tal das Tal der Todesschatten. Selbst da, wo es ganz dunkel wird, ist Gott da. Dessen sind wir gewiss, weil er mit Jesus Christus den Weg durchs Todesdunkel ins Leben gegangen ist.

Wie tief wir auch fallen, wir fallen in Gottes Hand. Und Gottes Hand wird uns aufheben, bis wir ganz oben sind – bei ihm.

Donnerstag, 29. Oktober 2015

Zündfunke (Rundfunkandacht) am 29. Oktober 2015

Als Jugendlicher war ich manchmal mit dem Zug unterwegs zwischen Dresden und Chemnitz. Auf der Fahrt sah ich immer eine kleine Stadt, die auf einem Berg lag. Der Kirchturm und Schlosstürme überragten die Häuser, die darunter am Hang lagen. Und ich musste an das Wort von Jesus aus der Bergpredigt denken: Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt nicht verborgen sein. – Damals wusste ich noch nicht einmal, wie dieses Städtchen hieß, erst recht ahnte ich nicht, dass ich einmal dort leben würde und in der Kirche, deren gelben Turm man von weitem sah, als Pfarrer predigen würde. Augustusburg heißt dieser schöne Ort.
Später habe ich manche Städte auf Bergen gesehen. Letztes Jahr zum Beispiel im Norden von Spanien, im Baskenland, das Städtchen Laguardia: Enge Gassen, umgeben von einer mittelalterlichen Stadtmauer, auf einem Hügel, inmitten einer weiten Ebene voller Weingärten. Kilometerweit sichtbar: die Stadt auf dem Berg.
Im Nahen Osten gibt es viele solcher Städte. Aus Gründen der Verteidigung wurden in alter Zeit Siedlungen auf Bergen und Hügeln errichtet. Manchmal wurden sie zerstört oder verfielen, und dann wurde auf den Ruinen wieder neu gebaut, so lagen sie dann noch höher als zuvor. Weithin sichtbar: Stadt auf dem Berg.
So seid ihr, sagt Jesus seinen Jüngern. So sollen wir sein, verstehen wir: als Christen, als Kirchen. Weithin sichtbar und erkennbar in der Landschaft dieser Welt.
Baulich haben wir das immer wieder versucht, indem wir unsere Kirchen am höchsten Ort der Stadt oder des Dorfes errichteten und ihr den höchsten Turm des Ortes gaben. Heute und hier müssen wir die Kirchen meistens suchen. Aber als Christen, als Kirchen sollten wir dennoch sichtbar sein.

Mag sein, dass Religion Privatsache ist. Aber die Botschaft von Gottes Liebe zu den Menschen, die ist öffentlich. Und an uns soll sie erkennbar werden. An unseren Worten und Taten.

Zündfunke (Rundfunkandacht) am 28. Oktober 2015

Bergsteiger des Herrn. Gestern habe ich von Mose erzählt, der mehrmals auf den Heiligen Berg Sinai steigen musste, um von Gott die Gebote für die Menschen zu empfangen.
Immer wieder hat es solche Bergsteiger des Herrn gegeben: Leute, die in der Bergeinsamkeit Gott gefunden haben.
Auch Jesus von Nazareth war ein Bergsteiger des Herrn. Wichtige Stationen seines Lebens und Wirkens waren Berge, wenn auch niemals so hohe und bedeutende Berge wie der Sinai. Mose hatte die Gebote vom Berg mitgebracht. Jesus stieg mit seinen Jüngern und vielen Zuhörern auf einen Berg und erklärte dort Gottes Gebote. Sprach davon, dass es Gott nicht nur um das Einhalten von bestimmten Regeln geht, sondern um das Herz der Menschen: Nicht nur nicht töten, sondern niemandem etwas Böses wünschen. Nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern dem anderen mehr Gutes geben, als ihm zusteht. Nicht nur die Freunde lieben, sondern auch die Feinde. Und zu Gott Vater sagen, weil er die Menschen von Herzen liebt. Selig sind, die reinen Herzens sind. Das war die berühmte Bergpredigt.
Jesus stieg wieder auf einen Berg, und die drei Freunde, die ihn begleiteten, sahen ihn völlig verändert im Glanz des Gotteslichts und erkannten: So nahe ist uns Gott gekommen in diesem Menschen. Wir können ihn Gottes Sohn nennen.

Nachdem Jesus gestorben war, stiegen sie wieder auf einen Berg, und – da war er, Jesus, sprach mit ihnen, segnete sie und gab ihnen einen Auftrag für die ganze Welt und für alle Zeit: Erzählt den Menschen von mir, macht sie zu meinen Nachfolgern, tauft sie und lehrt sie, was ich euch gelehrt habe! – Das tun wir. Bis auf den heutigen Tag. Und so ist Gott uns nahe. Wir müssen nicht auf Berge steigen, um ihm zu begegnen. Er ist zu uns herabgestiegen und wir können ihn hören und verstehen – wenn wir denn wollen.

Zündfunke (Rundfunkandacht) am 27. Oktober 2015

Die Berge, liebe Hörer, können uns an Gott erinnern, an seine Größe, Macht und Herrlichkeit. Wenn wir hier in den Bergen unterwegs sind – mit Auto oder Bus durch die Cañadas, mit der Seilbahn auf den Teide oder zu Fuß über Stock und Stein im Teno- oder Anaga-Gebirge –, dann ahnen wir vielleicht etwas davon. Religiöse Gefühle stellen sich ein im Anblick der Schönheiten der Natur und der Berge insbesondere.
Schon immer waren Berge für Menschen Orte der Gottesbegegnung. Da oben, auf den unerreichbaren Bergen, da mochten sie wohnen, die Götter, oder dorthin stiegen sie herab, wenn die Menschen ihrerseits den Aufstieg wagten zu ihnen hin.
Das Alte Testament erzählt von Mose, einem der ersten Bergsteiger des Herrn. Im Sinaigebirge lag der Gottesberg. Dort hinauf stieg Mose, um den Herrn zu treffen, nicht nur einmal, sondern insgesamt siebenmal. Dort hinab stieg Gott, um Mose zu treffen und ihm seine Gebote mitzuteilen. Auf Steintafeln geschrieben brachte er sie dann zu den Menschen ins Tal, wollte sie ihnen erklären – und zerschmetterte sie am nächsten Felsen, als er sah, dass sie sich ohnehin nicht daran hielten. Gott versuchte es noch mal: Mose stieg wieder auf den Berg und brachte neue Tafeln mit – mit den alten Geboten. Die wurden dann in einem vergoldeten Holzkasten verwahrt, im Tempelheiligtum versteckt und sind schließlich verloren gegangen. Aber ihre Worte kennen wir noch: Die Zehn Gebote.
Gott ganz oben, so weit oben, dass er auf den Berg herabsteigen muss. Der Mensch ganz unten, so weit unten, dass er auf den Berg hinaufsteigen muss. Ein Wunder, dass sich Gott und Mensch überhaupt begegnen können. Gottes Gebote sollen dazu helfen, dass Oben und Unten, Gott und Mensch einander etwas näher kommen. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden, beten wir im Vaterunser. Wenn wir Gottes Gebote beachten, dann geschieht auch etwas von Gottes Willen bei uns, und es wird ein bisschen himmlischer.
Manchmal denke ich: Wie gut, dass es Berge gibt; sie erinnern uns daran, dass sich Himmel und Erde, Gott und Menschen ein bisschen näher kommen können.

Zündfunke (Rundfunkandacht) am 26. Oktober 2015

Landeanflug auf Teneriffa. Sie kennen das, liebe Hörer. Noch über 20 Minuten bis die Maschine auf dem Südflughafen aufsetzt. Aber von ferne grüßt er uns schon, ragt aus den Wolken, sagt uns: „Willkommen auf meiner Insel!“ Der Teide, der schlafende Riese, der Berg, der alles überragt. 3718 Meter, höchster Gipfel Spaniens. Und der Kanarischen Inseln sowieso.
Wenn das Wetter gut und klar ist – und da oben ist es das meistens, auch wenn weiter unten die Wolken hängen – wenn das Wetter gut und klar ist, stehen sie stundenlang in der Schlange an der Seilbahn, um dort hoch zu gelangen. Und dann diesen grandiosen Ausblick zu genießen. Die ganze Insel zu Füßen. Und die Nachbarinseln in der Ferne.
Was ist das für ein Gefühl, das uns da bewegt, wenn wir den Bergriesen vor uns sehen, und erst recht, wenn uns von da oben aus die Welt zu Füßen liegt – auch wenn es am Ende doch nur ein kleines Stück Welt ist!
Vielleicht ist dieses Gefühl am besten mit dem Wort Erhabenheit beschrieben. Der Berg in seiner gigantischen Größe, gegen die wir Menschen winzige Zwerge sind, die Höhe, die Aussicht, das Licht, die jahrmillionenalte Geschichte seiner Entstehung, die Gewalt der vulkanischen Eruptionen, die man auch nach Jahrhunderten und Jahrtausenden noch sieht und spürt, das gibt uns dieses Gefühl von Größe und Erhabenheit.
Es ist im Grunde ein religiöses Gefühl. Wir bekommen eine Ahnung von den Dimensionen der Schöpfung, von dem Wunder des Seins, von der Größe Gottes.
Schon immer haben Menschen im Angesicht der Berge an Gott oder an Götter gedacht. In allen Gegenden der Welt und in allen Religionen gab und gibt es heilige Berge, Gottesberge.
Ein altes Gebet aus der Bibel erinnert daran:
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? – Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. (Psalm 121, 1.2)
Vielleicht erinnert Sie der Blick zum Teide ja gelegentlich an den, den wir den Herrn nennen, der alles gemacht hat, und auch unser Leben lenkt und behütet.

Sonntag, 11. Oktober 2015

Predigt am 11. Oktober 2015 (19. Sonntag nach Trinitatis)

Nach einigen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, so dass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“
Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: „Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?” Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: „Was denkt ihr solches in euren Herzen! Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: ,Dir sind deine Sünden vergeben‘, oder zu sagen: ,Steh auf, nimm dein Bett und geh umher‘? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden“ – sprach er zu dem Gelähmten: „Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!“ Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so dass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: „Wir haben so etwas noch nie gesehen.“
Markus 2, 1-12


„Hauptsache gesund!“, sagen sie.
„Das ist deine Chance!
Bald kannst du wieder aufstehn, laufen, arbeiten, mit uns feiern, spielen, vielleicht sogar wieder tanzen – und lieben.
Jesus ist wieder in der Stadt.
Jesus, der macht alle gesund.
Dich auch!
Das ist deine Chance!“
Sie legen ihn auf eine Strohmatte, vier Mann vier Ecken, und tragen ihn hin zu Jesus, zu dem Haus, wo er wohnt.
Und dann kommen sie nicht rein.
Nicht an ihn ran.
Keine Chance!
Zu viel Andrang.
Zu viele Leute.
Alle wollen ihn hören.
Keiner macht Platz.
Aber einer hat eine Idee:
Wenn wir durch die Tür nicht reinkommen, dann eben durchs Dach.
Eine Außentreppe führt hinauf aufs Flachdach.
Hacken und Spaten stehen draußen im Garten.
Und dann geht es los:
Zwischen den Dachbalken besteht die Decke aus Reisig, Stroh und Lehm.
Da ist schnell ein Loch hineingehackt.
Kreativ sind sie.
Hauptsache gesund!
Dafür kann auch mal ein Hausdach dran glauben.
Drinnen gehen die Blicke zur Decke ob der Schritte da oben und des Hackens und Kratzens, das da anhebt.
Dann beginnt es auch schon zu rieseln, und dem Petrus fällt ein Lehmbrocken auf den Kopf.
Die Leute schreien und drängen Richtung Ausgang, aber Jesus kann sie gerade noch beruhigen:
„Passt jetzt genau auf!
Was ihr gerade hier seht, das ist Glaube.“
Und schon schwebt die Strohmatte mit Mann drauf herab vor Jesu Füße.
Mit einem Mal ist es mucksmäuschenstill im Raum.
Den Leuten, die gerade noch panisch durcheinanderriefen, bleibt der Mund offenstehen.
Was geschieht jetzt?
Gibt’s wieder ein Wunder zu sehen?
Oder eine Standpauke zu hören, wie man so unverschämt sein kann und ein Wohnhaus demolieren für ein bisschen Gesundheit?
Jesus sieht den Mann auf der Matte an, schaut ihm in die Augen und sagt:
„Mein Kind, dir sind deine Sünden vergeben.“
Hauptsache gesund,
hatten sie gedacht und von Jesus die Wunderheilung erwartet.
Jesus sagt nicht: „Sei gesund!“
Er sagt: „Dir sind deine Sünden vergeben!“
Das war für ihn die Hauptsache.
Hauptsache, dir ist vergeben!
Hauptsache, du bist mit Gott im Reinen!
War das für den Gelähmten auf der Matte auch die Hauptsache?
Wollte er wirklich mit Gott ins Reine kommen?
Oder wollte er nicht einfach nur gesund werden?
Reicht das nicht:
Hauptsache gesund?
Würde dann nicht alles andere auch gut werden:
aufstehn, laufen, arbeiten, feiern, spielen, tanzen, vielleicht sogar lieben?
Seltsam: Wir können ihm nicht ins Herz sehen.
Die Erzählung gibt nichts her:
Was er denkt, was er fühlt, was das mit ihm macht.
Ist da Enttäuschung, weil er nicht geheilt wird?
Oder Erleichterung, Befreiung, Erlösung, weil ihm die Last seines Lebens weggenommen wird, die ihn niedergedrückt hat – vielleicht auch gerade körperlich so niedergedrückt hat, dass er nicht mehr hoch kam von seiner Matratze?
Wir wissen es nicht.
*
Und für dich, was ist da die Hauptsache?
Heute bist du in der Kirche,
und der Pfarrer hat gesagt: „Dir sind deine Sünden vergeben.“
Morgen gehst du zum Arzt, zur Physiotherapie, zum Yoga oder Pilates, in die Apotheke, ins Fitnessstudio oder zur Ernährungsberatung, vielleicht auch zum Osteopathen, Homoöpathen, Quantenheiler und was es nicht noch alles gibt, und sie sagen dir, was du tun musst, um gesund zu werden.
Was ist für dich wichtiger?
Was ist für dich die Hauptsache?
*
Für die Schriftgelehrten im Raum ist es klar, was die Hauptsache ist, was mehr Gewicht hat:
Kranke gesund machen, das können viele, auf vielerlei Wegen.
Sie beobachten Jesus skeptisch, aber dagegen, dass er heilt, ist an sich nichts zu sagen.
Aber Sünden vergeben, das ist etwas viel Gewichtigeres.
Das kann kein Mensch.
Was zwischen einem Menschen und Gott steht, das kann nur Gott selber wegnehmen – vergeben.
Jesus weiß, dass sie so denken.
Jesus weiß, dass sie Recht haben:
Gott allein kann Sünden vergeben.
Aber sie wissen nicht, mit wem sie es zu tun haben.
Er stellt ihnen eine Rätselfrage:
Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Nimm deine Matte und geh heim?
Ein Rätsel:
Was ist leichter?
Sagen kann man alles:
„Dir ist vergeben.“
„Du bist geheilt.“
Aber was bewirkt es?
Und kann man es überprüfen?
Wer sagt: „Nimm deine Matte und geh!“, und es passiert nichts, der hat sich als Scharlatan enttarnt.
Wer sagt: „Dir ist vergeben“, und es passiert nichts, der ist nicht so leicht zu enttarnen.
Aber es ist riskant: Einem Menschen die Vergebung versprechen, wenn Gott gar nicht vergeben hat?
Darum ist das für die Schriftgelehrten Gotteslästerung.
Wir Menschen können nicht über Gottes Vergebung verfügen.
Auf den ersten Blick scheint es leichter zu sein, zu sagen: „Dir ist vergeben.“
Aber in Wahrheit ist es schwer.
Was ist das für eine Verantwortung, für Gott zu sprechen!
Jesus kann das.
Der Menschensohn hat Vollmacht, Sünden zu vergeben auf Erden.
Er kann für Gott sprechen.
Und wie zum Beweis spricht er nach dem Wort der Vergebung auch das Wort der Heilung:
Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!“
*
„Dir sind deine Sünden vergeben.“
Als Jesus das sagte, war es für einige Gotteslästerung.
Seitdem haben wir, Jesu Nachfolger, es millionen- und milliardenfach gesagt.
In Beichtgesprächen und in Gottesdiensten.
An Krankenbetten und in Gefängnissen.
Manchmal mit Auflagen verbunden – Bußleistungen, Gesten der Wiedergutmachung.
Manchmal leicht und billig:
Der liebe Gott drückt sowieso alle Augen zu, und alles ist vergeben.
Ist das auch Gotteslästerung?
Haben wir es uns zu leicht gemacht?
Oder ist es genau der Auftrag, den der Herr seiner Kirche gegeben hat?
Für mich ist klar:
Das ist der Auftrag, den der Herr seiner Kirche gegeben hat.
Hauptsache Vergebung!
Hauptsache, dein Verhältnis mit Gott kommt ins Reine.
Hauptsache, die Lasten deines Lebens, die dich niederdrücken und lähmen, werden dir abgenommen.
Dafür ist Jesus gekommen, der Menschensohn.
Hauptsache Vergebung!
Das ist deine Chance!
Der Menschensohn ist hier:
in dieser Kirche,
in dieser Gemeinde,
in dieser Abendmahlsfeier
und Er sagt dir:
„Dir sind deine Sünden vergeben!“
Und manchmal sagt er auch:
„Steh auf, nimm dein Bett und geh heim!“
*
Der Mann steht von seiner Strohmatte auf, nimmt sie unter den Arm und geht hinaus.
Die ihn zuvor nicht hineingelassen hatten, machen jetzt Platz und lassen ihn durch.
Gemurmel setzt ein:
„So etwas haben wir noch nie erlebt.“

Draußen steigen vier Männer vom Dach.
Der Hausbesitzer erwartet sie schon.
Und er sagt:
„Lasst Hacke und Spaten hier und geht heim.
Euch ist vergeben.


Sonntag, 4. Oktober 2015

Predigt am 4. Oktober 2015 (Erntedanktag)

Es sprach einer aus dem Volk zu Jesus: „Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile.“ Er aber sprach zu ihm: „Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbschlichter über euch gesetzt?“
Und Jesus sprach zum Volk: „Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.“
Und er sagte ihnen eine Gleichnis und sprach: „Es war ein reicher Mann, dessen Feld hatte gut getragen. Und er dachte bei sich selbst und sprach: ,Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle.‘ Und sprach: ,Das will ich tun: ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen, und will darin sammeln all mein Korn und meine Vorräte und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut!‘ Aber Gott sprach zu ihm: ,Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?‘ So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.“
Lukas 12, 13-21

Alles ist gut.
Die Ernte ist eingebracht.
Die Ernte seines Lebens.
Mehr, als er erwarten durfte.
Reichlicher, als er es sich je erträumt hatte.
Das Feld hatte gut getragen.
Das Feld seines Lebens.
Jahraus jahrein hatte er es beackert.
Gepflegt, gedüngt, die Steine ausgelesen, die Fruchtfolge bedacht.
Und jetzt hat er die Ernte seines Lebens eingebracht.
Alles ist gut.
Vollkommen.
Besser geht’s nicht mehr.
Aber wie geht’s dann weiter?
Alles ist gut.
25 Jahre deutsche Einheit.
Manche haben sich mehr erwartet.
Aber in Wahrheit haben wir mehr erreicht, als man erwarten durfte.
Blühende Landschaften.
Einheit, Freiheit, Wohlstand – das stand damals auf den Wahlplakaten, 1990.
Das haben wir erreicht.
Wir haben gearbeitet und gefeiert.
Wir haben Neues gebaut
und Altes liebevoll wiederhergerichtet.
Steine weggetragen und Steine neu zusammengesetzt.
Gelernt miteinander klarzukommen und Unterschiede auszuhalten.
Und jetzt ist alles gut.
Fast.
Gerade jetzt macht sich das bange Gefühl breit:
Besser wird’s nicht mehr.
Wir stehen an einem Punkt, wo alles zu kippen droht.
Weil wir dem, was kommt, denen, die kommen, nicht mehr gewachsen zu sein scheinen.
Und wie geht’s dann weiter?
Wie geht’s weiter, wenn’s uns gut geht?
Wenn’s nicht mehr besser werden kann, sondern nur noch schlechter?
Scheunen bauen,
sagt der reiche Kornbauer.
Die Ernte einsammeln.
Einlagern.
Von den Vorräten leben.
Das Gute festhalten.
Sich am Guten festhalten.
Für die Jahre, die kommen.
Essen und trinken und guter Dinge sein.
Es ist das Lebensprinzip „Wohlverdienter Ruhestand“.
Ihr kennt das.
Vom Ersparten leben auf der Insel der Seligen.
Und das Leben genießen.
Alles ist gut.
Alles bleibt gut.
Ja, alles ist gut.
Heute, hier.
Ob es morgen noch gut sein wird, wissen wir nicht.
Dass es schlechter werden kann, ahnen wir.
Eine Zeitlang können wir uns auf unsere Insel der Seligen zurückziehen – vielleicht.
Und wie lang wird diese Zeitlang sein?
Heute Nacht wird man deine Seele von dir fordern!,
muss der Reiche sich sagen lassen.
Nicht weil er reich ist,
sondern weil es jeden treffen kann.
Heute Nacht wird man deine Seele von dir fordern!
Heute Nacht.
Oder Morgen.
Oder nächstes Jahr.
Wir wissen es nicht.
Aber wir wissen, dass es dann nicht mehr gut ist.
Dann ist es alles weg,
was wir uns erarbeitet haben,
was wir gesammelt und eingelagert haben in die Scheunen unseres Lebens.
Dann ist sie verloren – die Ernte unseres Lebens.
Verloren: alles, was wir nicht mitnehmen können.
Unsere Scheunen und Häuser.
Unsere Konten und Depots.
Unsere Schränke und Garagen.
Unsere Bibliotheken und Hobbykeller.
Wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?
Den Erben, die sich darum streiten.
Oder denen das Haus, das du gebaut hast, nichts bedeutet, und die es weiterverkaufen.
Die das was du in deinen Schränken und Regalen gesammelt hast, zur Kleidersammlung bringen oder ins Antiquariat.
Die dein sauer erspartes Geld für Quatsch ausgeben, den du nie im Leben gut geheißen hättest.
Futsch – die Ernte deines Lebens.
Und die Erinnerung an dich, sie wird verblassen.
Mit Nichts fährst du in die Grube, und das war’s.
Alles ist gut.
Heute.
Morgen ist alles vorbei.
Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot! Was ist daran eigentlich so dumm?
Genieße dein Leben, so lange du es kannst.
Schon morgen kann es zu spät sein.
Auch das steht in der Bibel.
Und nichts daran ist verkehrt.
Und trotzdem stimmt da was nicht.
Es stimmt nicht, weil Gott fehlt.
Es stimmt nicht, weil der Erntedank fehlt.
Die Ernte ist eingebracht, und alles ist gut.
Dann wollen wir innehalten, das Gute genießen und Danke sagen.
Gott danken für die Ernte eines Jahres.
Das haben sie seit Menschengedenken so getan:
Innegehalten, an Gott gedacht und Gott gedankt.
Für seinen Segen.
Die Ernte deines Lebens ist eingebracht, und alles ist gut.
Du kannst dein Leben genießen,
essen und trinken und guter Dinge sein.
Und du kannst einen Moment innehalten,
an Gott denken und ihm danken:
für alles, was gut war,
für alles, was schwer war,
für alles, was du geschafft hast,
für alles, bei dem du Glück hattest.
Und du kannst das alles beim Namen nennen:
Gottes Segen.
Wir können Einheit, Freiheit und Wohlstand genießen.
Und wir können an Gott denken und ihm danken:
für das Wunder der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung,
für neu Geschaffenes und für alte Landschaften, die neu erblüht sind,
und für wunderbare Menschen und gute Begegnungen.
Und wir können dem allen einen Namen geben:
Gottes Segen.
Wir dürfen und wir sollen auch an die Zukunft denken:
An das Morgen und das Übermorgen.
Unsere Sorgen und Ängste beim Namen nennen:
Was wird werden aus dem, was wir geschaffen haben?
Wir können es nicht festhalten und nicht mitnehmen.
Aber wir können es in Gottes Hände legen.
Der bis hierher geholfen hat und Segen gegeben,
wird das auch künftig tun.
Alles ist gut.
Und alles wird gut.
Innehalten und Gott danken.
Weiter gehen und Gott vertrauen.
Wenn sie heute oder morgen deine Seele von dir fordern, dann wird das bleiben:
Dein Vertrauen und dein Dank.