Sonntag, 11. Oktober 2015

Predigt am 11. Oktober 2015 (19. Sonntag nach Trinitatis)

Nach einigen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, so dass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“
Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: „Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?” Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: „Was denkt ihr solches in euren Herzen! Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: ,Dir sind deine Sünden vergeben‘, oder zu sagen: ,Steh auf, nimm dein Bett und geh umher‘? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden“ – sprach er zu dem Gelähmten: „Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!“ Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so dass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: „Wir haben so etwas noch nie gesehen.“
Markus 2, 1-12


„Hauptsache gesund!“, sagen sie.
„Das ist deine Chance!
Bald kannst du wieder aufstehn, laufen, arbeiten, mit uns feiern, spielen, vielleicht sogar wieder tanzen – und lieben.
Jesus ist wieder in der Stadt.
Jesus, der macht alle gesund.
Dich auch!
Das ist deine Chance!“
Sie legen ihn auf eine Strohmatte, vier Mann vier Ecken, und tragen ihn hin zu Jesus, zu dem Haus, wo er wohnt.
Und dann kommen sie nicht rein.
Nicht an ihn ran.
Keine Chance!
Zu viel Andrang.
Zu viele Leute.
Alle wollen ihn hören.
Keiner macht Platz.
Aber einer hat eine Idee:
Wenn wir durch die Tür nicht reinkommen, dann eben durchs Dach.
Eine Außentreppe führt hinauf aufs Flachdach.
Hacken und Spaten stehen draußen im Garten.
Und dann geht es los:
Zwischen den Dachbalken besteht die Decke aus Reisig, Stroh und Lehm.
Da ist schnell ein Loch hineingehackt.
Kreativ sind sie.
Hauptsache gesund!
Dafür kann auch mal ein Hausdach dran glauben.
Drinnen gehen die Blicke zur Decke ob der Schritte da oben und des Hackens und Kratzens, das da anhebt.
Dann beginnt es auch schon zu rieseln, und dem Petrus fällt ein Lehmbrocken auf den Kopf.
Die Leute schreien und drängen Richtung Ausgang, aber Jesus kann sie gerade noch beruhigen:
„Passt jetzt genau auf!
Was ihr gerade hier seht, das ist Glaube.“
Und schon schwebt die Strohmatte mit Mann drauf herab vor Jesu Füße.
Mit einem Mal ist es mucksmäuschenstill im Raum.
Den Leuten, die gerade noch panisch durcheinanderriefen, bleibt der Mund offenstehen.
Was geschieht jetzt?
Gibt’s wieder ein Wunder zu sehen?
Oder eine Standpauke zu hören, wie man so unverschämt sein kann und ein Wohnhaus demolieren für ein bisschen Gesundheit?
Jesus sieht den Mann auf der Matte an, schaut ihm in die Augen und sagt:
„Mein Kind, dir sind deine Sünden vergeben.“
Hauptsache gesund,
hatten sie gedacht und von Jesus die Wunderheilung erwartet.
Jesus sagt nicht: „Sei gesund!“
Er sagt: „Dir sind deine Sünden vergeben!“
Das war für ihn die Hauptsache.
Hauptsache, dir ist vergeben!
Hauptsache, du bist mit Gott im Reinen!
War das für den Gelähmten auf der Matte auch die Hauptsache?
Wollte er wirklich mit Gott ins Reine kommen?
Oder wollte er nicht einfach nur gesund werden?
Reicht das nicht:
Hauptsache gesund?
Würde dann nicht alles andere auch gut werden:
aufstehn, laufen, arbeiten, feiern, spielen, tanzen, vielleicht sogar lieben?
Seltsam: Wir können ihm nicht ins Herz sehen.
Die Erzählung gibt nichts her:
Was er denkt, was er fühlt, was das mit ihm macht.
Ist da Enttäuschung, weil er nicht geheilt wird?
Oder Erleichterung, Befreiung, Erlösung, weil ihm die Last seines Lebens weggenommen wird, die ihn niedergedrückt hat – vielleicht auch gerade körperlich so niedergedrückt hat, dass er nicht mehr hoch kam von seiner Matratze?
Wir wissen es nicht.
*
Und für dich, was ist da die Hauptsache?
Heute bist du in der Kirche,
und der Pfarrer hat gesagt: „Dir sind deine Sünden vergeben.“
Morgen gehst du zum Arzt, zur Physiotherapie, zum Yoga oder Pilates, in die Apotheke, ins Fitnessstudio oder zur Ernährungsberatung, vielleicht auch zum Osteopathen, Homoöpathen, Quantenheiler und was es nicht noch alles gibt, und sie sagen dir, was du tun musst, um gesund zu werden.
Was ist für dich wichtiger?
Was ist für dich die Hauptsache?
*
Für die Schriftgelehrten im Raum ist es klar, was die Hauptsache ist, was mehr Gewicht hat:
Kranke gesund machen, das können viele, auf vielerlei Wegen.
Sie beobachten Jesus skeptisch, aber dagegen, dass er heilt, ist an sich nichts zu sagen.
Aber Sünden vergeben, das ist etwas viel Gewichtigeres.
Das kann kein Mensch.
Was zwischen einem Menschen und Gott steht, das kann nur Gott selber wegnehmen – vergeben.
Jesus weiß, dass sie so denken.
Jesus weiß, dass sie Recht haben:
Gott allein kann Sünden vergeben.
Aber sie wissen nicht, mit wem sie es zu tun haben.
Er stellt ihnen eine Rätselfrage:
Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Nimm deine Matte und geh heim?
Ein Rätsel:
Was ist leichter?
Sagen kann man alles:
„Dir ist vergeben.“
„Du bist geheilt.“
Aber was bewirkt es?
Und kann man es überprüfen?
Wer sagt: „Nimm deine Matte und geh!“, und es passiert nichts, der hat sich als Scharlatan enttarnt.
Wer sagt: „Dir ist vergeben“, und es passiert nichts, der ist nicht so leicht zu enttarnen.
Aber es ist riskant: Einem Menschen die Vergebung versprechen, wenn Gott gar nicht vergeben hat?
Darum ist das für die Schriftgelehrten Gotteslästerung.
Wir Menschen können nicht über Gottes Vergebung verfügen.
Auf den ersten Blick scheint es leichter zu sein, zu sagen: „Dir ist vergeben.“
Aber in Wahrheit ist es schwer.
Was ist das für eine Verantwortung, für Gott zu sprechen!
Jesus kann das.
Der Menschensohn hat Vollmacht, Sünden zu vergeben auf Erden.
Er kann für Gott sprechen.
Und wie zum Beweis spricht er nach dem Wort der Vergebung auch das Wort der Heilung:
Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!“
*
„Dir sind deine Sünden vergeben.“
Als Jesus das sagte, war es für einige Gotteslästerung.
Seitdem haben wir, Jesu Nachfolger, es millionen- und milliardenfach gesagt.
In Beichtgesprächen und in Gottesdiensten.
An Krankenbetten und in Gefängnissen.
Manchmal mit Auflagen verbunden – Bußleistungen, Gesten der Wiedergutmachung.
Manchmal leicht und billig:
Der liebe Gott drückt sowieso alle Augen zu, und alles ist vergeben.
Ist das auch Gotteslästerung?
Haben wir es uns zu leicht gemacht?
Oder ist es genau der Auftrag, den der Herr seiner Kirche gegeben hat?
Für mich ist klar:
Das ist der Auftrag, den der Herr seiner Kirche gegeben hat.
Hauptsache Vergebung!
Hauptsache, dein Verhältnis mit Gott kommt ins Reine.
Hauptsache, die Lasten deines Lebens, die dich niederdrücken und lähmen, werden dir abgenommen.
Dafür ist Jesus gekommen, der Menschensohn.
Hauptsache Vergebung!
Das ist deine Chance!
Der Menschensohn ist hier:
in dieser Kirche,
in dieser Gemeinde,
in dieser Abendmahlsfeier
und Er sagt dir:
„Dir sind deine Sünden vergeben!“
Und manchmal sagt er auch:
„Steh auf, nimm dein Bett und geh heim!“
*
Der Mann steht von seiner Strohmatte auf, nimmt sie unter den Arm und geht hinaus.
Die ihn zuvor nicht hineingelassen hatten, machen jetzt Platz und lassen ihn durch.
Gemurmel setzt ein:
„So etwas haben wir noch nie erlebt.“

Draußen steigen vier Männer vom Dach.
Der Hausbesitzer erwartet sie schon.
Und er sagt:
„Lasst Hacke und Spaten hier und geht heim.
Euch ist vergeben.


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