Sonntag, 29. Januar 2012

Predigt am 29. Januar 2012 (Letzter Sonntag nach Epiphanias)

Ich, Johannes, euer Bruder und Mitgenosse an der Bedrängnis und am Reich und an der Geduld in Jesus, war auf der Insel, die Patmos heißt, um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses von Jesus. Ich wurde vom Geist ergriffen am Tag des Herrn und hörte hinter mir eine große Stimme wie von einer Posaune, die sprach: "Was du siehst, das schreibe in ein Buch und sende es an die sieben Gemeinden: nach Ephesus und nach Smyrna und nach Pergamon und nach Thyatira und nach Sardes und nach Philadelphia und nach Laodizea."
Und ich wandte mich um, zu sehen nach der Stimme, die mit mir redete. Und als ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter und mitten unter den Leuchtern einen, der war einem Menschensohn gleich, angetan mit einem langen Gewand und gegürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel. Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie der Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme und seine Füße wie Golderz, das im Ofen glüht, und seine Stimme wie großes Wasserrauschen; und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und aus seinem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Angesicht leuchtete, wie die Sonne scheint in ihrer Macht.
Und als ich ihn sah, fiel ich zu seinen Füßen wie tot; und er legte seine rechte Hand auf mich und sprach zu mir: "Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle."
Offenbarung 1, 9-18



Liebe Schwestern und Brüder,

alles ist ganz anders. Das ist das Geheimnis des Glaubens: Alles ist ganz anders, als wir es gewohnt sind zu sehen. Alles ist ganz anders als im Alltag, als im gewöhnlichen Leben. Alles ist ganz anders, da, wo wir dem lebendigen Gott begegnen. Da, wo wir Jesus Christus als dem Herrn begegnen.

Alles ist ganz anders. Die Begegnung mit Jesus Christus ist Offenbarung. Sie legt offen, was vorher verdeckt war. Sie lässt uns sehen, was vorher Geheimnis war. Sie lässt uns die ewige Wahrheit erahnen hinter der sichtbaren Wirklichkeit. Was wir zuvor wussten, war nur Fassade, Oberfläche, Schein. Was wir zuvor wussten über unsere Welt, über uns selber, über Gott – das löst sich auf in der Begegnung mit dem Ewigen, und die wahre Wirklichkeit scheint auf.


Alles ist ganz anders: für Petrus, Jakobus und Johannes, als sie mit Jesus auf dem Berg der Verklärung sind. Sie haben etwas gesehen vom Geheimnis Jesu Christi, von Gottes Wahrheit hinter der sichtbaren Oberfläche.

Alles ist ganz anders: für Johannes, den Seher, den Apokalyptiker. Ihm hast sich Jesus Christus offenbart als Gottes Wahrheit für die Welt.

Alles ist von vornherein außergewöhnlich:
Ein anderer Ort: die Insel, abgelegen vom Weltgeschehen. Johannes ist herausgenommen aus dem normalen, alltäglichen Leben, auch aus dem normalen alltäglichen Leben seiner Kirchengemeinde. Herausgenommen um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses von Jesus. Als Christus-Zeuge verbannt auf eine einsame Insel. Oder aber – alles ist ganz anders, von Gott her gesehen – dorthin geschickt, um das Wort Gottes noch mal ganz neu, ganz anders zu hören, und das Christus-Zeugnis auf noch mal neue, ganz andere Weise zu sagen – als Offenbarung: Alles ist ganz anders.

Eine andere Zeit: nicht Alltag, sondern Sonntag, Domingo, Herrentag. Zeit, die wir herauslösen aus dem Alltag als Zeit für Gott. Oder eigentlich: Zeit, die Gott für uns herausgelöst hat aus dem Alltag als Zeit für ihn. Zeit für den Gottesdienst. Zeit für das ganz Andere. Genau zu dieser anderen Zeit offenbart sich der ewige Gott.

Ein anderer Zustand: ergriffen vom Geist. – Nicht ergriffen und gefangen von den römischen Soldaten, die sich gezielt christliche Gemeindeälteste, Bischöfe und Pastoren herausgriffen und sie unter Androhung von Folter und Tod dazu zwingen wollten, dem Kaiser in Rom als allmächtigem Gott zu huldigen. – Das ist nur die äußerliche Situation, auch für den verbannten Johannes. Die innere Situation ist eben jenes andere Ergriffensein – das Ergriffensein von dem, der in Wahrheit Herr ist, und dem sich in Wahrheit alle Knie beugen müssen, auch derer, die sich in dieser Weltzeit dünken, Herren zu sein, und sich Gott nennen lassen.

Eine andere Stimme: eine große Stimme wie von einer Posaune. Da übertönt Gottes Wort alle anderen Worte. Da bestimmen nicht mehr die vielen Stimmen um ihn herum, was stimmt, worauf zu hören, wovon Notiz zu nehmen ist. Sondern die eine Stimme, die Stimme seines Herrn, sie sagt: „Höre, und sieh und schreibe! Was ich dir sage, das halte fest! Sonst nichts!“

Eine andere Blickrichtung: Die Stimme kommt von anderwärts her, von hinten. Der Hörer wendet sich um und wird zum Seher. Gott offenbart sich, wo Menschen die Blickrichtung ändern. Weltanschauung sagte man im vergangenen Jahrhundert. Unsere Weltanschauung ist meistens der Blick in eine bestimmte Richtung. Dabei übersehen wir mindestens die Hälfte. Augen geradeaus! – so wird Weltanschauung befohlen. – Sich umsehen, dorthin schauen, wo ich noch nicht hingesehen habe, wo die anderen auch nicht hinschauen. Anders sehen, die Perspektive wechseln. Das Geheimnis des Glaubens entdecken. – Dazu fordert Gottes Stimme heraus.

Aber es ist gefährlich: Denn der Seher sieht, was er so noch nicht gesehen hat: Alles ist ganz anders. Erschreckend anders!

Und das ist es ja auch für uns. Eine Christus-Vision, die uns total fremd ist. Die so wenig mit dem Jesulein in der Weihnachtskrippe, mit dem Schmerzensmann am Kreuz, mit dem milde segnenden, sanftmütigen und demütigen Heiland zu tun hat, den wir so oft vor unserem inneren Auge haben, den wir so von Tausenden Darstellungen kennen.

Und doch sieht der Seher Christus – den anderen Christus. Und zugleich denselben. Er sieht den Menschensohn, und er sieht den ewigen Gott.

Die Worte, mit denen er ihn beschreibt, sind an der Grenze dessen, was Sprache vermag. Worte für Licht, für Glanz, für Herrlichkeit und Macht. Vergleiche, denen man es abspürt, dass sie das Eigentliche nur unterbieten können: Wie weiße Wolle, wie Schnee, wie eine Feuerflamme, wie glühendes Golderz, wie die Sonne in ihrer Macht. Sterne in seiner Hand. Ein zweischneidiges Schwert kommt aus seinem Mund hervor.
Das ist Christus, der ganz auf der Seite Gottes steht. Der mit dem Vater und dem Heiligen Geist lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der die ganze Welt in seiner Hand hält. Der kein Teil ist der geschaffenen Welt, sondern durch den die Welt geschaffen ist.

Diese Vision macht das, was wir nicht sehen, und doch glauben, sichtbar. Sichtbar und doch auch nicht. Denn wir spüren es, dass die Worte das nicht beschreiben können, was hier erschaut wird.

Dieses ganz Andere, dieser ganz andere Christus lässt den Menschen vor ihm zu Boden stürzen, raubt ihm die Sinne und den Verstand. Lässt ihn wie tot sein. Die Gegenwart der göttlichen Macht, wie sie Johannes widerfährt, ist für einen Menschen schier unerträglich. Vor Gott muss er vergehen.

Hier wird mit einem Schlag deutlich, was Gottesfurcht bedeutet. Gott in seiner Majestät und Heiligkeit ist furchteinflößend. Es ist geradezu ein Gottesschrecken, der den Menschen überfällt.


Aber ist dieser uns so fremde, so ferne, so andere Christus, diese furchteinflößende Weltenherrscher denn wirklich der, an den wir glauben, auf den wir hören, der als Mensch unter uns Menschen gelebt und gelitten hat?

Ich sage: Ja, er ist es. Auch in seiner irdischen Existenz ist immer wieder etwas von seiner göttlichen Macht und Herrlichkeit durchgedrungen. Vor ihm sind Menschen niedergefallen und haben ihn angebetet. Angefangen von den Hirten und Königen an der Weihnachtskrippe. Und später dann einer wie Petrus: Herr, geh weg von mir, ich bin ein sündiger Mensch! Und viele mehr, die etwas von ihm erwartet und erbeten haben. Denn sie haben genau das gespürt, dass sie es in ihm mit Gott selber zu tun hatten.

Das Evangelium von der Verklärung, das wir gehört haben, macht es ebenfalls deutlich: Dieser Jesus ist anders und ist mehr als ein bedeutender Mensch. Er ist Gottes Sohn von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und auch da fallen seine Jünger nieder und sind überwältigt von seiner Majestät, die Gottes eigene Macht und Herrlichkeit ist.

Und dann ja wieder, als sie dem Auferstandenen begegnen. Sie sind überwältigt, sie fallen vor ihm nieder. Sie erbitten sein Erbarmen, weil sie von sich aus nicht bestehen können vor ihm.

Ich bin bei der Vorbereitung auf einen für mich bedeutenden Satz gestoßen: „Wo man Jesus wirklich begegnet, da bricht man zusammen, und wenn das nicht geschehen ist, dann hat man's noch vor sich. Es ist keine harmlose Sache, Christus zu begegnen.“ (Gottfried Voigt, Die Himmlische Berufung)

Nein, ist es nicht. Und auch wenn ich Christus so wie hier Johannes nicht, noch nicht gesehen habe, so ist das doch auch meine Erfahrung: Es gibt den Moment, in dem einem Christus so groß wird, dass man selber nur noch ganz klein und ohnmächtig ist. Vor diesem Herrn bin ich nichts mehr aus mir selber, kann ich nichts vorweisen, muss ich schier vergehen.

Und dann geschieht auch wirklich das Folgende: dass er seine Hand auf mich legt und mich berührt und zu mir sagt: Fürchte dich nicht!

Dieses Fürchte dich nicht! bezieht sich nicht zuerst auf das, was uns in der Welt Angst machen will. Es bezieht sich auf die Furcht vor Gottes Macht und Majestät, vor der wir nicht bestehen können, die uns eigentlich umbringen müsste. Fürchte dich nicht!, sagt Jesus Christus. Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.

Er sagt etwas, was sonst niemand sagen kann, einen menschenunmöglicher Satz: Ich war tot. – Er hat den Tod hinter sich gelassen, hat ihn überwunden. Und er richtet den wieder auf, der vor Gott wie tot ist. Ich lebe, und ihr sollt auch leben!


Alles ist ganz anders. Das ist das Geheimnis des Glaubens: Alles ist ganz anders, als wir es gewohnt sind zu sehen. Alles ist ganz anders als im Alltag, als im gewöhnlichen Leben: Der Tod ist tot. Jesus, der vor 2000 Jahren gestorben ist, lebt. Er hält die ganze Welt in seiner Hand. Und obwohl wir vor ihm nicht bestehen können, rührt er uns an, richtet er uns auf, lässt er uns die Welt und unser Leben in einem neuen Licht sehen, in seinem Licht.

Die Wahrheit unter der Oberfläche, das Geheimnis, das er uns offenbart ist Gott selber: Gott, der im Himmel regiert, Gott, der den Erdkreis richtet, Gott, der die Toten erweckt. Dieser Gott will, dass wir mit ihm und für ihn leben.

Nicht immer wird uns Gottes Wahrheit mit solcher Gewalt ergreifen, wie sie den Johannes ergriffen hat. Aber halten wir uns offen und bereit für das ganz Andere. Halten wir uns offen und bereit für Jesus Christus.
Gut, dass wir Zeiten, Orte und Gemütszustände kennen, die herausgehoben sind aus dem Alltag der Welt, die uns auf die Wahrheit hinter der Wirklichkeit hinweisen können. Gut, dass Jesus Christus uns begegnet als Gott und Herr.

Sonntag, 22. Januar 2012

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Sonntag, dem 22. Januar 2012


Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

ein Freiheitskämpfer des christlichen Glaubens war Martin Luther. Er hatte die innere Freiheit, zunächst ganz allein mit seinen Einsichten, die er für richtig erkannt hatte, an die Öffentlichkeit zu gehen und sie gegen eine große Mehrheit Andersdenkender zu verteidigen. Er hatte die Freiheit, der damaligen römischen Kirche zu widersprechen – selbst auf die Gefahr hin, seine körperliche Freiheit, ja sein Leben zu verlieren. Luther berief sich auf die Wahrheit der Bibel, die ihn frei machte, und er berief sich auf sein Gewissen, in dem er sich frei wusste.

Mit dem Thema Freiheit hat er sich auch in seinen Schriften beschäftigt; so in einer seiner wichtigsten und bekanntesten: Von der Freiheit eines Christenmenschen. Darin fallen zwei ganz entscheidende Sätze: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Und: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.

Der zweite Satz scheint dem ersten zu widersprechen. Da wird doch die Freiheit zurückgenommen und davon gesprochen, dass Christen doch Knechte sein sollen.

Gemeint ist damit aber etwas anderes. Gemeint ist die Frage, was denn ein Christ mit seiner Freiheit anstellen soll. Soll er seine Freiheit rücksichtslos ausleben, soll er Gottes Gebote und die Regeln des Zusammenlebens vergessen, weil er ja so frei ist? – Natürlich nicht. Denn wer frei ist, der ist auch verantwortlich dafür, was er mit seiner Freiheit anstellt. Und das Beste und Verantwortlichste, was ein Mensch mit seiner Freiheit tun kann, ist, anderen zu der Freiheit zu verhelfen, die er selber gefunden hat. Wer wirklich frei ist, wird zum Diener der Freiheit.

Altmodisch ausgedrückt: Freiheit verwirklicht sich in der Nächstenliebe. Freiheit ist eben nicht nur die Freiheit, die ich mir nehme, sondern auch die Freiheit, die ich gebe.

Martin Luther hat für sich eine große Freiheit im Sinne von innerer Unabhängigkeit gefunden. Und gerade deshalb hat er seine Freiheit aufs Spiel gesetzt. Er hat sich in Freiheit zum Knecht derer gemacht, denen er die christliche Freiheit nahebringen wollte.

Ich jedenfalls hoffe, ich konnte es Ihnen in diesen Tagen nahebringen, die Freiheit, die Sie genießen, noch ein bisschen höher zu schätzen.

Samstag, 21. Januar 2012

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Samstag, dem 21. Januar 2012


Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

Freiheit heißt unter anderem: Die Gedanken sind frei. Das Gewissen ist frei. Was ich glaube, wovon ich im innersten überzeugt bin, darin bin ich frei. Keiner kann es mir vorschreiben. Und so gehört die Religionsfreiheit zu den elementaren Menschenrechten.

Das war nicht immer so und, und es ist nicht überall so. Wir Christen haben es in dunklen Jahrhunderten und in grausamen Glaubenskriegen lernen müssen: Es kann keinen Zwang geben in Glaubens- und Gewissensfragen.

In unseren westlichen Staaten kann jeder glauben was er will, kann zu der Kirche, Religionsgemeinschaft oder auch Sekte gehören, zu der er will. Er kann auch austreten aus seiner Gemeinschaft, er kann den Glauben wechseln. Das steht in seiner Freiheit. Ob einer mit seinen religiösen Überzeugungen richtig liegt oder nicht, ob ihm sein Glaube nützt oder schadet, das ist seine Sache bzw. eine Sache zwischen ihm und Gott.

Auch wenn ich selber von meinem Glauben überzeugt bin, kann ich niemanden anders zu meinen Überzeugungen zwingen. Ich glaube viel mehr, dass mein Glaube, der christliche Glaube, in sich selber die Kraft hat, Menschen zu überzeugen.

Ich möchte dabei nicht vergessen, dass die Religionsfreiheit in vielen Gegenden unserer Welt nicht die Normalität ist. Während bei uns Buddhisten, Hindus und Muslime mit großer Selbstverständlichkeit leben und auch ihren Glauben leben können, werden in Nigeria Kirchen überfallen und Christen erschossen, werden im Iran Menschen mit der Todesstrafe bedroht, die vom Islam zum Christentum übertreten, wandern aus dem Irak, aus Ägypten und aus den Palästinensergebieten Christen aus, weil sie von der muslimischen Mehrheit benachteiligt und bedroht werden, werden in Nordkorea Christen wie auch Angehörige anderer Religion in Arbeitslager gesperrt, aus denen die wenigsten lebend wieder herauskommen. – Anfang des Jahres hat die Organisation Open Doors erst wieder den Index der weltweiten Christenverfolgung aktualisiert. Die genannten Länder stehen darin auf den vorderen Plätzen.

Die Verfolgung Andersgläubiger ist keine kulturelle Eigenart, die wir eben tolerieren müssen. Es ist die brutale Verweigerung eines Menschenrechtes, das wir für uns selbstverständlich in Anspruch nehmen. Wir dürfen die Verfolgten nicht vergessen, denen dieses Menschenrecht verweigert wird. Und wir dürfen den Wert der Freiheit nicht vergessen, die wir so selbstverständlich genießen.

Freitag, 20. Januar 2012

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Freitag, dem 20. Januar 2012


Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

Gott hat uns Menschen frei geschaffen. Wir können und sollen unser Leben in eigener Verantwortung gestalten. Mit allen Chancen und Risiken.

Diese Aussage scheint aber doch im Widerspruch zu manchem anderen zu stehen, was die christliche Religion lehrt. Denn da gibt es verbindliche Lebensregeln, am bekanntesten die Zehn Gebote. Und wo Gebote und Regeln sind, da sind wir doch nicht frei, oder?

Wir können Gottes Gebote eigentlich mit den Gesetzen in einem freiheitlichen Staat vergleichen. Gesetze sind ja nicht dazu da, um die Freiheit einzuschränken, sondern um die Freiheit zu ermöglichen.

Gut, dass mir die Straßenverkehrsordnung sagt, dass ich rechts fahren soll, dass, wer von Rechts kommt, Vorfahrt hat, dass ich bei Rot stehen bleiben und bei Grün fahren darf. So habe nicht nur ich, sondern haben alle anderen Verkehrsteilnehmer, die beste Chance auf freie und sichere Fahrt.

Gut, dass das Strafgesetz Mord und Totschlag, Raub und Erpressung unter Strafe stellt. So ist die Gefahr geringer, dass jeder seine Interessen mit Gewalt durchsetzt und der andere Opfer wird.

Und gut, dass Gott uns sagt, dass wir die Interessen der anderen so ernst nehmen sollen wie unsere eigenen. Denn das ist zum großen Teil der Sinn der Gebote: Du sollst nicht töten, denn du willst doch selber unbeschadet leben. Du sollst nicht ehebrechen, denn du willst doch selber nicht, dass dein Partner dich betrügt. Du sollst nicht stehlen, denn du willst doch selber nicht beklaut werden. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden, denn du willst doch selber nicht verleumdet werden.

Wir merken: Es geht bei diesen Geboten nicht darum, dass unsere Freiheit eingeschränkt wird, sondern darum, dass wir uns nicht gegenseitig die Freiheit nehmen.

Freilich gibt es auch noch andere Gebote: die, die mit Gott zu tun haben: Sie sagen eigentlich nichts anderes, als dass wir Gott respektieren sollen, der uns mit Respekt begegnet und uns unsere Freiheit gegeben hat.

Donnerstag, 19. Januar 2012

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Donnerstag, dem 19. Januar 2012


Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

Freiheit ist schön, aber Freiheit ist nicht einfach.

Ständig muss man sich entscheiden. Wenn ich im Supermarkt zwischen einer Sorte Butter und einer Sorte Margarine entscheiden müsste, wäre es einfach. Aber leider gibt es mindestens zehn Sorten Butter und zwanzig Sorten Margarine, und das macht das Einkaufen so schwer.

Wenn ich bei der Wahl meines Lebenspartners zwischen genau einer Frau und einem Mann entscheiden könnte, dann wäre die Wahl sehr einfach. Tatsächlich aber musste ich unter rund 3 Milliarden Frauen die richtige finden – für Männer interessiere ich mich zum Glück nicht, sonst wäre die Auswahl noch schwieriger geworden.

Diese Beispiele zeigen uns, warum wir uns mit der Freiheit mitunter so schwer tun. Freiheit heißt: Wir müssen auswählen, wir müssen uns entscheiden, und indem wir uns entscheiden, schließen wir andere Möglichkeiten aus. Wir haben eine so große Freiheit, und dann müssen wir uns doch irgendwie einschränken.

Auf der anderen Seite merken wir: nur zwischen Butter und Margarine, nur zwischen Weißkohl und Rotkohl, nur zwischen Sabine und Kerstin entscheiden zu können, das ist zu wenig. Das ist das Prinzip der Unfreiheit, der Bevormundung, der Diktatur.

In Gesellschaften, die die moderne Freiheit nicht kennen ist das so oder war das so. Das Angebot im Konsum damals in der DDR, wo ich herkomme, war so ähnlich. Keiner musste hungern oder frieren, aber Avocados und Oliven, irische Butter und französischen Käse gab es nicht zum Auswählen. Diktatur hieß: Andere entscheiden, was gut für dich ist und schränken deine Möglichkeiten ein.

Was das andere Beispiel, die Partnerwahl, betrifft, so ist das auch in den Parallelgesellschaften deutscher Städte nicht ungewöhnlich. Da entscheiden schon mal Eltern oder große Brüder, wer der richtige Mann für Aishe ist. – Vielleicht bequem für sie; wahrscheinlich aber macht es sie nicht glücklich, und jedenfall ist sie nicht frei dabei.

Freiheit ist nicht einfach, aber Unfreiheit ist viel schlimmer. Gott hat den Menschen so geschaffen, dass er selber entscheiden kann. Dass wir in Verhältnissen leben, wo das auch weitgehend möglich ist, darüber bin ich ausgesprochen froh und dankbar.

Mittwoch, 18. Januar 2012

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Mittwoch, dem 18. Januar 2012


Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

schon auf den allerersten Seiten der Bibel geht es um die Freiheit. Da steht die berühmte Geschichte von Adam und Eva und dem Apfel (wobei da in Wirklichkeit gar nichts von einem Apfel steht, sondern nur von einer Frucht).

Gott hatte den Menschen den Paradiesgarten gegeben, wo es alles gibt, was sie brauchen und genießen können. Es gab nur eine einzige Einschränkung: Von diesem einen bestimmten Baum im Garten sollten sie nicht essen. Und dann lassen sich die beiden verführen und tun genau das: Sie essen von diesem Baum, essen von der verbotenen Frucht, und mit der paradiesischen Existenz ist es vorbei. Ab jetzt ist das Leben Mühe und Arbeit, es kennt Schmerzen und Gefahren, und es endet tödlich.

Das ist die Urform des Dramas der menschlichen Freiheit. Der Mensch hat alle Freiheit der Welt, kann wählen unter unzähligen Möglichkeiten – aber er wählt genau das Falsche, das, was ihn ins Verderben stürzt.

Hätte Gott das nicht verhindern können? Musste er überhaupt diesen Baum in den Garten pflanzen? Und dann trotzdem verbieten, davon zu essen?

Die Paradiesesgeschichte symbolisiert die Freiheit, die Gott dem Menschen mitgegeben hat. Aber eine Freiheit, die die Möglichkeit, Fehler zu machen, ausschließt, ist keine wirkliche Freiheit. Und eine Freiheit, die uns nicht mit den Folgen unserer Fehler konfrontiert, ist auch keine wirkliche Freiheit.

Gott will die Freiheit. Er will, dass wir Menschen nicht zu unserem Glück gezwungen werden, sondern dass wir selber entscheiden können, wie wir glücklich werden wollen – oder auch nicht.

Der Preis der Freiheit ist der Verlust des Paradieses. Wir haben keine Rundumversorgung und Sicherheit vor allen Gefahren. Wir stehen vor den Türen des Paradieses und müssen unser Leben selber in Freiheit gestalten. Wir werden dabei immer wieder versagen und Fehler machen. Wir werden mit den Folgen unserer Fehler konfrontiert werden. Aber – und das lernen wir daraus, wie die Bibel weiter geht – in der Freiheit jenseits von Eden ist immer noch Gott zu finden, der uns hilft, unser Leben in Freiheit zu bestehen.

Dienstag, 17. Januar 2012

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Dienstag, dem 17. Januar 2012


Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

ich bin allen Ernstes der Ansicht, dass das Christentum die Religion der Freiheit ist.

Dagegen scheint vieles zu sprechen. Gerne wird aus der Geschichte der christlichen Kirche von Zwangsbekehrungen, Kreuzzügen, der Inquisition und dem Hexenwahn berichtet. Und aus der Gegenwart werden die Ablehnung von Kondomen, die Ehelosigkeit der Priester, die Behauptung, die Ehe sei unauflöslich, oder die Ablehnung von praktizierter Homosexualität als Beispiele angeführt, um zu belegen, dass die Religion im allgemeinen und die Kirche – und dabei ist meistens die katholische gemeint – im besonderen, für Zwang und Unfreiheit stehen.

In der Bibel, der Heiligen Schrift, an der wir Christen uns orientieren, stehen ganz großartige Sätze über die Freiheit:

Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.

Oder: Zur Freiheit hat uns Christus befreit; darum lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen.

Oder: Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.

Damit ist vor allem eins gemeint: Zu Gott kommen kann der Mensch nicht aus Zwang, sondern immer nur freiwillig. Jesus und dann die ersten Christen haben für ihren Glauben geworben, und die Menschen sind freiwillig gekommen, haben sich überzeugen lassen ohne Zwang. Manche haben sich auch wieder abgewendet. Das gehört zur Freiheit dazu. Wo die Kirche versucht hat, Menschen durch Zwang zu Christen zu machen, hat sie ihrem Auftrag und ihrer Botschaft widersprochen. In Glaubensdingen darf es keinen Zwang geben.

Und auch darin, was Christen dürfen und was nicht, soll es keinen Zwang geben. Es gibt wohl Lebensregeln und Gebote, die für Christen gelten – vor allem das Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe –; aber mit Zwang und Gewalt können und wollen wir diese Gebote nicht durchsetzen. Wir vertrauen da viel mehr auf die Freiheit – und auf Gottes Geist, der Menschen überzeugt und der sie zu einem verantwortlichen Leben in Freiheit befähigt.

Montag, 16. Januar 2012

Barcelonas Kirchen – zum Katholisch-Werden

Die letzten Tage war ich, wie manche wissen, in Barcelona. Zum ersten Mal. Und ich war tief beeindruckt.

Nicht so sehr von der Stadt als solcher. Ich habe kein Faible für Großstädte. Sie sind laut und unpersönlich.

Beeindruckt war ich zum Teil von den persönlichen Begegnungen mit meinen Pfarrkollegen aus Iberien (im erweiterten Sinne: mit Canarias und Griechenland!). Aber das hat nun wieder nichts mit dem Ort zu tun. Brüder und Schwestern im Glauben und Dienst können sich überall treffen.

Beeindruckt war ich vor allem von den Kirchen.

Es war eine Steigerung.

Am ersten Tag hatten wir noch Zeit für private Erkundungen, und wir stießen zunächst auf die Basílica Santa Maria del Pi, eine der großen gotischen Stadtkirchen Barcelonas. Ein Kirchenraum, der uns zunächst aus der äußeren Unruhe der Großstadt herausnahm und uns am meisten durch eine riesige Rosette in der – nein, nicht West- – in der Nordwestfassade beeindruckte.

Eigentlich aber suchten wir die Kathedrale und fanden sie dann auch. Der große Raum, die gotische Architektur, sogar einige der vielen Kapellen rund um das Kirchenschiff mit ihren Heiligendarstellungen beeindruckten mich, zogen meine Gedanken ins Gebet. Es war, glaube ich, das erste Mal, dass mir darin etwas von der Sanctorum Communio deutlich wurde, von der Verbindung des irdischen Gottesdienstes mit dem himmlischen Gottesdienst der Erlösten.

Schon die einleitenden Worte im Touristenfaltblatt hatten mich angesprochen:
 ... a holy place dedicated to worship and prayer; a meeting place between God and men ... May its contemplation help you discover the Gospel of the Lord Jesus.
If you wish, after admiring the Gothic art oft this temple, you can rest and pray in the side-chapel of the Blessed Sacrement. Pray especially for world peace. Pray for the construction of the civilisation of love. Pray for the unity of Christians. Pray for your needs, without forgetting to pray for those who are in material and spiritual need. Please do not leave without praying, however humble your prayer may be ...
Und dann standen da noch Plakate von der Adventszeit mit einem Gebet: ¡Ven, Señor Jesús! (Das muss ich wohl nicht übersetzen.) Dann erklang die Orgel. Es war unverkennbar eine Choralbearbeitung von Bach, und es war der Choral Es ist gewisslich an der Zeit, dass Gottes Sohn wird kommen. – Berührend, der Klang dieses deutschen evangelischen Chorals in einer katalanischen katholischen Kathedrale. Und berührend die Begegnung von Wort und Musik.

Am nächsten Tag stand eine deutsche Gruppenführung in der Sagrada Família an. – Ich war auf Bombast-Kitsch eingestellt. Ich habe etwas ganz anderes gefunden: Stein gewordene Theologie – nein, mehr als Theologie: Offenbarung, Anbetung, Darstellung des Heils und der Herrlichkeit in Architektur!

Was mich am meisten fasziniert hat, war das statische Konstruktionsprinzip: Säulen und Gewölberippen wurden im Modell mit Schnüren dargestellt, die an den Knotenpunkten gleichmäßig mit Lasten behängt wurden (hier kann man das sehen), so dass ein auf dem Kopf stehendes Architekturmodell entstand. Dass das statisch optimal ist (gerade auch mit geneigten Säulen), kann man sich vorstellen. Das Bedeutsame liegt für mich aber darin, dass hier durch die Architektur praktisch die Gravitation umgekehrt wird. Was im Modell nach unten hing, weist jetzt nach oben. Und ich stehe als Besucher, als Gläubiger, als Betender darin, und werde nach oben gezogen.

Was mich auch hier, wie schon in der Kathedrale, bewegt hat, war die Symbolisierung der Kirche. Hier wird nicht der Glaube des Einzelnen dargestellt, sondern hier bin ich mit meinem Glauben im Glauben, in der Anbetung der Kirche aufgehoben: Die Heilsgeschichte ist präsent. Die Apostel und Evangelisten sind symbolisiert, Maria und Christus, die Mitte (der Hauptturm, der alle Türme der Stadt überragen wird). Die Dreifaltigkeit ergießt sich geradezu von hoch oben aus der Apsiskuppel hinab an den Ort, wo Christus im Sakrament gegenwärtig ist ... – Das ist nur ein Bruchteil, und es sind schwache Worte, die nur ein weniges von dem wiedergeben, was mich bewegt hat.

... und da ist dann die Frage: Ist unsere protestantische Ekklesiologie vielleicht doch etwas zu klein für das Geheimnis der Kirche? ... Manchmal ist es zum Katholisch-Werden!


Zündfunke (Rundfunkandacht) am Montag, dem 16. Januar 2012


Liebe Hörerinnen und Hörer,

“Machen Sie sich frei!” So heißt es manchmal bei Arzt. So heißt auch das Büchlein eines deutschen Kabarettisten, das ich zu Weihnachten geschenkt bekommen habe. Sein Thema ist die Freiheit. Und es regt mich dazu an, in dieser Woche ebenfalls über die Freiheit zu sprechen.

Freiheit – das heißt auf den ersten Blick: Ich kann tun und lassen, was mir gefällt. Freiheit - das heißt auch: Ich kann denken und glauben, was ich für richtig halte.

Freiheit spüren wir, wenn wir in den Bergen wandern. Oder wenn wir am Strand spazierengehen.

Freiheit praktizieren wir, wenn wir aus fünfzehntausend Produkten im Supermarkt auswählen, oder aber das alles ablehnen und stattdessen beim Biobauern einkaufen.

Freiheit üben wir, wenn wir Parlamente oder Stadträte wählen, oder aber nicht zur Wahl gehen, weil uns die Auswahlmöglichkeiten nicht zusagen.

Freiheit ist es, wenn wir uns entscheiden können, für zehn Tage, ein paar Monate oder Jahre statt in Deutschland hier auf Teneriffa zu leben.

Freiheit ist auch, wenn wir Sonntags zur Kirche gehen, wenn wir die Gemeinde wechseln, weil uns der Nachbarpfarrer besser gefällt, oder wenn wir ganz weg bleiben und aus der Kirche austreten, um die Steuern zu sparen.

Freiheit ist die Entscheidung, mit wem ich mein Leben teilen möchte, ob mein ganzes Leben oder nur eine bestimmte Zeit, ob wir Kinder haben wollen oder nicht.

Das alles ist für uns selbstverständlich – selbstverständlich geworden. Manche wissen noch, dass das alles nicht immer und überall so war.

Dass wir so frei leben können, das hat für mich auch mit dem christlichen Glauben zu tun. Warum, das möchte ich Ihnen in den nächsten Tagen ein wenig näher bringen.

Und heute genießen Sie einfach bewusst ein Stück von der Freiheit, die Sie haben.

Montag, 9. Januar 2012

Predigt am 8. Januar 2012 (1. Sonntag nach Epiphanias – Proprium: Epiphanias)


Liebe Schwestern und Brüder,

Menschen entdecken den Glanz Gottes in der Welt. Das ist das Thema von Epiphanias, diesem Festtag nach Weihnachten, der für uns kaum noch eine besondere Rolle spielt.

Menschen entdecken den Glanz Gottes in der Welt. Dazu haben wir beispielhaft die Weihnachtsgeschichte nach Matthäus gehört, die von den geheimnisvollen Magiern aus dem Osten erzählt, aus denen dann in der kirchlichen Überlieferung Heilige drei Könige geworden sind. Dass sie wirklich Könige waren, ist zu bezweifeln. Und ob es wirklich drei waren, wissen wir auch nicht. Aber das ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sie Gottes Glanz in der Welt entdeckt haben. Zuerst, indem ihnen der Glanz eines Sternes so bedeutungsvoll wurde, dass sie sich deswegen auf den Weg in ein fernes Land machten. Dann, indem ihnen Gottes Wort zum Wegweiser nach Bethlehem wurde. Danach, als ihr Stern über dem Geburtsort Jesu ihnen bestätigte, was Gottes Wort gesagt hatte, und schließlich, als sie das Kind und seine Mutter fanden. Vor diesem Kind fielen sie nieder, sie beteten es an, sie schenkten ihm, was ihnen am wertvollsten war, weil sie genau dort Gottes Glanz entdeckt hatten, inmitten der Welt.

In diesem Kind war Gott selber als Mensch unter den Menschen erschienen. Wie man das herausbekommt, dass da Gott ist, wie man Gottes Glanz sieht in den Augen eines neugeborenen Kindes, wie man ergriffen und verwandelt wird durch ihn, durch Jesus Christus, das ist ein Geheimnis.

Um dieses Geheimnis, das Weihnachtsgeheimnis Gottes, darum geht es auch dem Apostel Paulus, wenn er im Brief an die Kolosser, Kapitel 1, schreibt:

Ich freue mich in den Leiden, die ich für euch leide, und erstatte an meinem Fleisch, was an den Leiden Christi noch fehlt, für seinen Leib, das ist die Gemeinde. Ihr Diener bin ich geworden durch das Amt, das Gott mir gegeben hat, dass ich euch sein Wort reichlich predigen soll, nämlich das Geheimnis, das verborgen war seit ewigen Zeiten und Geschlechtern, nun aber ist es offenbart seinen Heiligen, denen Gott kundtun wollte, was der herrliche Reichtum dieses Geheimnisses unter den Heiden ist, nämlich Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit. Den verkündigen wir und ermahnen alle Menschen und lehren alle Menschen in aller Weisheit, damit wir einen jeden Menschen in Christus vollkommen machen. Dafür mühe ich mich auch ab und ringe in der Kraft dessen, der in mir mächtig ist.
Kolosser 1, 24-29

Das Geheimnis Gottes, es war verborgen und ist offenbart worden, sagt der Apostel. Es ist also nicht mehr verborgen. Es kann entdeckt werden: Gottes Glanz in der Welt. – So wie die Magier aus dem Osten es entdeckt haben. So wie die Hirten von Bethlehem es entdeckt haben. So wie es die Jünger und Apostel Jesu entdeckt haben, die an ihn geglaubt haben und ihm nachgefolgt sind. So wie der Apostel Paulus es entdeckt hat, als er von Gottes Glanz überwältigt und verwandelt wurde: vom Saulus zum Paulus.

So wie wir es entdeckt haben, die wir, trotz allem, was dagegen spricht, an Gottes Geschichte, an Gottes Gegenwart, an Gottes Zukunft glauben: für uns und für unsere Welt. Irgendwo in unserem Leben ist dieser Glanz auch erschienen.

Was ist es, dieses Geheimnis Gottes? – Es ist genau das Geheimnis von Weihnachten: Gott als Mensch unter den Menschen. Gott, nicht mehr verborgen im Himmel, sondern verborgen im armen Stall. Verborgen – aber zu entdecken.

Paulus beschreibt dieses Geheimnis mit anderen Worten: Christus in euch. – Das klingt etwas mystisch. So, als müssten wir nur in uns gehen, um dort Gott zu entdecken, Christus, von dem auch gesagt wurde, er müsste nicht nur in Bethlehem, sondern auch in uns geboren werden. – Wir sollten uns schon klar sein: Der Christus in uns kann nur der sein, der in Bethlehem geboren wurde: Gott als Mensch unter den Menschen. Aber eben auch: So nahe ist er uns, wie uns ein Mensch nur sein kann, wie wir uns selber nur sein können.

Christus in euch – das dürfen wir nicht zu eng verstehen. Es heißt auch: Christus, mitten unter euch – in der Gemeinde, wo zwei oder drei … – ihr wisst schon. Es heißt auch: Christus bei euch: Er ist nicht fern einem jeden von uns. Es heißt auch: Christus über dir, unter dir, vor dir, hinter dir, neben dir – der segnende Christus.

Christus in euch – das ist überall, wo wir Gottes Glanz entdecken in der Welt.

Paulus geht es darum, dass Menschen genau das können: Gottes Glanz entdecken in der Welt. Christus in euch, der nahe Gott, Gott als Mensch unter Menschen – das soll kein Geheimnis bleiben für wenige Auserwählte; es soll ein Geheimnis werden, das alle entdecken sollen, und das trotzdem ein Geheimnis bleibt.

Ich möchte drei Dinge aus diesem Text entnehmen, die Gegenwart Gottes bei den Menschen anzeigen:

Das erste: Gott ist uns nahe, wo Menschen leidenschaftlich füreinander da sind.

Das nennen wir auch Liebe. – Leidenschaft ist da, wo ein Mensch für den anderen Leiden, also Nachteile in Kauf nimmt. Wir erleben das manchmal, wo jemand sich verliebt und dafür sehr viel, vielleicht seine ganze Lebensplanung aufs Spiel setzt – oder seine bisherige Liebe samt Familie … Das ist eine irrationale Leidenschaft, die eher nichts Gutes schafft. Aber es gibt auch die Leidenschaft, die bewusst und überlegt verzichtet, nachgibt, opfert. Zum Beispiel gerade da, wo es andersherum ist, wo einer schwierig gewordenen Beziehung, wo einem Menschen in Krankheit oder Versagen die Treue zu halten ist.

Solche Leidenschaft ist auch da, wo einer für seinen Glauben an Jesus Christus Nachteile in Kauf nimmt. Wo er lieber zu seinem Herrn steht, als bequem und sicher zu leben. – Uns sind solche Situationen wahrscheinlich recht fern, weil Christsein in unserer Situation nichts kostet (außer Kirchensteuer oder Gemeindebeitrag). Aber ich denke an die Christen, die genau um ihres Glaubens willen verfolgt werden und in Lebensgefahr schweben: in Nordkorea, in Nigeria, in Ägypten oder im Sudan.

Paulus schreibt von seinem eigenen leidenschaftlichen Einsatz für die Gemeinde. Er leidet für die Menschen, denen er das Geheimnis Gottes bekannt machen möchte. Er leidet für den Herrn Jesus Christus, den er bekannt machen möchte. Und er leidet mit dem Herrn Jesus Christus, der Gottes Leidenschaft für uns Menschen erlitten hat.

In dieser Leidenschaft, in dieser Liebe wird Gottes Nähe offenbar. Das ist schwer zu erklären. Es bleibt ein Geheimnis. Aber es lässt sich entdecken. – Und wer es entdeckt, der entdeckt im Leiden, im Opfer, in der Hingabe auf einmal etwas vom Glanz Gottes in der Welt. – Das ist das Geheimnis des Kreuzes.

Das zweite: Gott ist uns nahe, wo Menschen Gottes Wort sagen und tun.

Gottes Wort reichlich predigen, will Paulus. Gottes Wort in seiner Fülle verkündigen, so eine andere Übersetzung. Es gehört zum Geheimnis Gottes unter uns Menschen, dass er in Worten zu uns kommt. In den Worten Jesu. Und in den Worten derer, die die Worte Jesu gehört haben und weiter sagen.

Wir neigen dazu, Worten nicht allzu große Bedeutung beizumessen. Dabei sind es doch Worte, die das meiste in uns auslösen und bewegen. Böses Worte können mehr verletzen als Schläge. Lügenworte können unsere Ehre ruinieren. Aber gute Worte bauen uns auf, machen uns froh, verändern unser Leben. Denk nur daran, was vielleicht die Worte „Ich liebe dich“ in deinem Leben einmal ausgelöst und verändert haben. Denk daran, welche Konsequenz die Worte „Ja, ich will“ oder „Ja, mit Gottes Hilfe“ haben.

So wirken auch Gottes Worte in unserem Leben. Sie verändern unser Denken, Fühlen, Handeln und Sein. Sie machen uns zu Gottes Kindern. Sie machen uns froh und frei. Sie mahnen, sie trösten, sie stärken uns. – Nicht immer, aber manchmal.

Manchmal sind es die großen Worte von der Kanzel. Manchmal sind es die kleinen Worte im Gespräch. Und manchmal sind es sogar nur kleine Gesten, die doch mehr sagen können als Worte: ein Händedruck, eine Umarmung, ein Geschenk, ein Blick. – Und auf einmal ist darin etwas von Gottes Glanz in der Welt. Ja, er ist da. Ja, alles es ist gut.

Und drittens: Gott ist uns nahe, wo Menschen auf ihn hoffen.

Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit, formuliert Paulus. Herrlichkeit – das ist ein anderes Wort für Gottes Glanz, von dem ich in dieser Predigt immer wieder gesprochen habe.

Unter uns Menschen kursiert die Hoffnung, dass bei Gott am letzten Ende alles gut sein wird. Gott ist zu uns Menschen gekommen, um das, was schlecht ist, gut zu machen: um zu heilen, um zu vergeben, um zu retten, um zu versöhnen.

Vieles davon ist noch im Modus der Hoffnung. Unser Leben ist noch nicht heil, sondern von Tod und Krankheit gezeichnet. Bosheit und Bitterkeit verdunkeln unsere Herzen und bedrohen unsere Gemeinschaft. Wir hoffen auf den Himmel, aber wir sind noch auf der Erde.

Aber wir hoffen. Wir resignieren nicht. Wir werden nicht zynisch und nihilistisch. Wir halten daran fest, dass bei Gott alles gut werden wird.

Und wir unterfüttern diese Hoffnung mit den Zeichen von Gottes Nähe: Wo in guten und vollkommenen Momenten sein Glanz aufscheint. Wo in schlichten Worten und Gesten seine Liebe lebt. Wo in Leid und Schmerz der mitleidende Gott gefunden wird.

Menschen entdecken den Glanz Gottes in der Welt: verborgen in Stall und Krippe, verborgen in Kreuz und Grab. Verborgen in menschlichen Worten. Verborgen in Zeichen der Hoffnung.

Lasst uns miteinander diesen geheimnisvollen Glanz Gottes entdecken, und lasst uns – beglänzt von seinem Lichte – selber etwas von Gottes Glanz in diese Welt tragen.

Sonntag, 1. Januar 2012

Predigt am 1. Januar 2012 (Neujahr)


Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
2. Korinther 12, 9

Liebe Gemeinde,

als ich noch Pfarrer in einer großen Stadtgemeinde mit vielen Mitarbeitern war, hatte ich öfter Bewerbungsgespräche zu führen mit Leuten, die sich für bestimmte Stellen bei uns beworben hatten – für den Kindergarten, für den Friedhof oder für die Gemeindepädagogenstelle. Ich habe in den Gesprächen immer auch gefragt, worin die Bewerber ihre Stärken und Schwächen sehen. Oft habe ich erlebt, dass es ihnen leicht gefallen ist, über ihre Stärken zu sprechen, aber schwer, auch Schwächen zu benennen. Dabei ist doch gerade das eine entscheidende Stärke, auch seine Schwächen zu kennen.

Keiner von uns hat nur Stärken, jeder hat seine Schwächen. Es ist nur nicht so einfach, damit umzugehen.

Der eine gesteht sich die Schwächen gar nicht erst ein. „Ich kann alles.“ – Mit dieser Aussage, überraschte mich vor kurzem jemand. Schade nur, dass dieser Alleskönner so selten in der Gemeinde auftaucht. Wir könnten ihn gut gebrauchen. – Vielleicht ist das ja nun gerade seine Schwäche …

Der andere hadert mit seinen Schwächen – nach dem Motto „Ich kann nichts und ich bin nichts.“ Was meistens auch so nicht stimmt.

Für manchen unter uns ist das Nicht-mehr-Können das Problem: „Früher war ich stark und habe dies und das und jenes gemacht; jetzt werde ich alt, und es geht nicht mehr.“

Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. – Das Wort der Jahreslosung ist zuerst zu Paulus gesagt worden, dem Apostel. Und da mutet es uns reichlich paradox an. Denn Paulus, das ist in unseren Augen gerade kein Schwächling, sondern eine ganz starke Persönlichkeit, ein Power-Christ der ersten Generation, ein Titan des Glaubens. Ohne ihn wäre das Christentum von Anfang an nicht das geworden, was es ist. Er hat mit nur wenigen Mitarbeitern den halben Mittelmeerraum missioniert. Er hat die frühe christliche Kirche für die Nichtjuden geöffnet und hat dabei doch den ganzen Laden zusammenhalten können. Er hat wie nebenbei die Grundzüge christlicher Glaubenslehre formuliert und zusammengefasst, die sonst nur in einzelnen Worten und Geschichten zu fassen ist. – Und genau dieser Paulus, kämpft mit seinen Schwächen.

Ihm sitzt ein Pfahl im Fleisch, so sagt er. Und die Ausleger rätseln seit Jahrhunderten, was er damit gemeint haben könnte. Manche meinen, er hätte epileptische Anfälle gehabt, andere meinen Rheuma oder Schwerhörigkeit oder Migräne … Ich persönlich favorisiere einen Sprachfehler – vielleicht hat er gestottert – darauf würde eine Äußerung im selben Brief hinweisen, wo er seinen Gegnern in den Mund legt: Seine (also des Paulus) Briefe … wiegen schwer und sind stark; aber wenn er selbst anwesend ist, ist er schwach und seine Rede kläglich (2. Korinther 10, 10). Also: Wir wissen es nicht, welcher Pfahl ihm da tatsächlich im Fleische sitzt. Jedenfalls leidet er darunter und bittet den Herrn, ihn davon zu befreien. Dreimal, sagt er, habe er zum Herrn gefleht, um davon befreit zu werden. Und dann ist ihm diese Antwort geworden: Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist den Schwachen mächtig.

Paulus muss es lernen, seine Schwächen zu akzeptieren und aus seiner Schwachheit, seiner Begrenztheit das Beste zu machen.

Und Paulus hat es gelernt. Er hat die Sicht auf seine Schwäche radikal geändert: In jeder Schwäche entdeckte er Gottes Kraft. Er spricht davon, wie er zu leiden hatte in seinem Einsatz als Bote Jesu Christi, wie er verfolgt wurde, gesteinigt, gefangen gesetzt, ausgepeitscht, gefährliche Reisen einschließlich Schiffbruch durchgestanden hat und wie ihm schließlich noch die Gemeinden, wie in Korinth, das Leben schwer machten. Hätte der starke Gott ihm nicht all die Steine, all die Schwierigkeiten aus dem Weg räumen müssen? – Nein, hat Paulus gelernt, nur so konnte Gottes Kraft zum Zuge kommen. Er selbst, Paulus, hatte nichts, womit er sich hätte rühmen können. Was durch ihn erreicht und geschaffen wurde, das war nicht sein Werk, dazu wäre er selbst zu schwach gewesen, es war Gottes Werk, es war Gottes Gnade. An einer anderen Stelle schreibt er es ganz ähnlich: Ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle, nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist (1. Korinther 15, 10).

Diese Sicht, dass Gottes Kraft in der Schwachheit mächtig ist, die schließt ihm eigentlich das ganze Evangelium auf: Gott wird ja selber schwach für uns, schwach in der Krippe, schwach am Kreuz, weil er eine Schwäche für uns Schwache hat.

Und war es nicht genau das, was Jesus gesagt und getan hatte? Er hatte sich den Schwachen zugewendet, den Kranken, den Sündern und erklärt, die Gesunden brauchten ja keinen Arzt, sondern die Kranken. Er hatte die Schwachen seliggepriesen: Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich (Matthäus 5, 3) usw. – Das ist ja in anderen Worten das, was Paulus sagt: Die Schwachen leben von Gottes Gnade, ihnen steht der Himmel offen.

Das ist wichtig für uns, dass wir das mitbekommen: So geht Gott mit unseren Schwächen um. Er fordert nicht, dass wir jede Schwäche überwinden. Er verlangt nicht, dass wir immer stark bleiben. Er erwartet keine moralischen Klimmzüge und keine intellektuellen Saltos von uns. Christsein ist keine Leistung. Glauben ist keine Wissenschaft. Christlicher Glaube ist vielmehr das Vertrauen, dass Gottes Gnade aus unseren Schwächen etwas Starkes machen kann.

Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.

Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in dir mächtig.

Es ist die Kraft, deine Schwächen zu ertragen. Deine Unvollkommenheit auszuhalten. Deine Grenzen zu akzeptieren.

Es ist die Kraft, deine Stärken zu entdecken. Du musst nicht krampfhaft darauf schauen, was du nicht kannst, worin du schlecht bist. Du darfst das annehmen und einsetzen, worin du gut bist. Denn deine Stärken sind Geschenke der Gnade.

Es ist die Kraft, die Schwächen und Stärken der andern auszuhalten. Wo ein anderer schwach bist, kannst du für ihn stark sein. Wo ein anderer stark ist, kannst du von seiner Stärke profitieren.

Auch diesen Kerngedanken finden wir in den Briefen des Paulus wieder: da, wo er davon spricht, dass die Gemeinde Jesu ein Leib ist, ein lebendiger Organismus mit vielen Gliedern, Organen, Körperteilen, von denen nicht jeder alles kann, aber jeder etwas. Aus den einzelnen Stärken und Schwächen wird da ein wunderbares Ganzes: Gemeinde, Leib Christi.

Ja, und da sind wir auch bei unserer Existenz als Kirche und Gemeinde. Es ist uns auch in unserer Gesamtheit gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.

Wir mögen unsere Kirche zur Zeit und jedenfalls für unsere mitteleuropäische Heimat in einer schwachen Lage sehen. Seit der Christianisierung der Germanen war der Anteil der Christen in Europa noch nie so gering wie heute. Wir erleben in Deutschland und wir erleben es in unseren Auslandsgemeinden, dass die Zahlen und die Mittel und Möglichkeiten zurückgehen. – Gerade in dieser Situation ist es tröstlich, dieses Wort zu hören: Meine Kraft ist den den Schwachen mächtig.

Denn die Kirche, die stark und mächtig war, die sich prunkvoll selber feierte und die sich auf politische und militärische Macht stützen konnte, sie war im Rückblick diejenige, die Gottes Gnade verraten hatte. Sie hat sich selbstsicher auf die eigene Macht verlassen und muss sich heute für ihre Vergangenheit schämen.

Die kleine Herde, die Minderheit, die leidende und verfolgte Kirche, sie hat das Evangelium durch die Zeit getragen, in ihr war Gottes Kraft, nicht menschliche Stärke, mächtig.

Ich vertraue auf Gottes Kraft, da wo wir schwach sind. Denn das ist Gottes Prinzip: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.

Mit dieser Zusage können wir zuversichtlich durch dieses neue Jahr gehen.