Sonntag, 29. September 2013

Predigt am 29. September 2013 (Tag des Erzengels Michael und aller Engel)

Liebe Schwestern und Brüder,
ihr kennt sicher alle die Geschichte von Josua und den Mauern von Jericho. Vielleicht auch den schönen alten Gospel: Joshua fit the battle of Jericho and the walls came a tumbling down. – Die Israeliten sollten sieben Tage hintereinander um die Stadt ziehen und dabei die Posaunen blasen und am siebenten Tag sollten sie sieben Mal um die Stadt ziehen, und als sie das taten, fiel die Stadtmauer um. – Eine sagenhafte Geschichte!
Was hat die Mauern von Jericho eigentlich zum Einsturz gebracht?
Als ich Kind war, glaubte ich, die hätten einfach so kräftig in die Posaunen geblasen, dass die Mauern davon erzittert und zusammengefallen wären. Wenn man nachliest, waren es aber nur sieben Priester mit ihren Posaunen, also eher ein kleines Blechbläserensemble … Ach was, von Blech kann keine Rede sein, das waren Kuh- und Widderhörner, und mit den gepflegten Klängen einer Brass Band oder eines Posaunenchores hatte das nur wenig zu tun. Trotzdem: Die Schallwellen können es nicht gewesen sein, die die Mauern zum Einstürzen gebracht haben, und das Kriegsgeschrei des Volkes, das dazukam, wahrscheinlich auch nicht.
Als ich älter wurde, glaubte ich, dass es an dem Ritual lag. Wie bei einem Zauber, wo alles genau stimmen muss, hielten sich die Israeliten an die Anweisungen Josuas: genau sieben Mal und beim siebenten Mal siebenmal um die Stadt ziehen. Etwas aufwändig, aber wirksam! – Ein Zauber in dem Sinne wirkt wie ein geheimes Naturgesetz: Wenn ich A tue, dann geschieht genau B; nur warum, weiß keiner so genau. Das ist das Prinzip Hogwarts … Ihr wisst schon: Harry Potter und so …
Das kann es aber auch nicht sein in der Bibel. Biblische Wunder sind keine Zauberei. Es gibt kein Funktionsprinzip. Wir könnten heute ganz genau so mit Widderhörnern und Kriegsgeschrei um eine Stadt ziehen, da würde sich kein Krümelchen von einer Mauer lösen. – Wir könnten auch genau wie Jesus einem Blinden Speichel auf die Augen streichen, er würde auch nicht sehend werden. Denn Gottes Wunder sind keine Zauberei, die funktioniert, wenn man nur die Regeln genau befolgt.
Viel mehr, glaubte ich etwas später, war es wohl der Gehorsam: In diesem Augenblick, in dieser Situation genau das tun, was Gott erwartete, auch wenn es verrückt klang: Posaunen blasen, um eine Stadt zu erobern. Gott gehorsam sein, dann geschehen auch Wunder!
Noch später erkannte ich: Gehorsam ist es nicht wirklich, sondern eigentlich Glaube. Der Gehorsam sagt: Ich tue, was Gott mir sagt, und dann tut Gott auch, was er versprochen hat. Der Glaube sagt: Gott tut, was er versprochen hat, darum tue ich, was er mir sagt. Ein kleiner, aber feiner Unterschied. Der Glaube versetzt Berge, nicht der Gehorsam.
Trotzdem, es ist auch nicht eigentlich der Glaube, der Berge versetzt oder Bäume ausreißt – oder Mauern zum Einstürzen bringt. Es sind Gottes unsichtbare Mächte, die das Entscheidende tun.
Manchmal, in seltenen Augenblicken, dürfen Menschen hinter die Kulissen schauen und etwas wahrnehmen von Gottes eigentlich unsichtbaren Mächten.
Die Geschichte von Josua und den Mauern von Jericho hat eine Vorgeschichte, und die ist heute unser Predigttext:
Es begab sich, als Josua bei Jericho war, dass er seine Augen aufhob und gewahr wurde, dass ein Mann ihm gegenüberstand und ein bloßes Schwert in seiner Hand hatte. Und Josua ging zu ihm und sprach zu ihm: „Gehörst du zu uns oder zu unsern Feinden?“ Er sprach: „Nein, sondern ich bin der Fürst über das Heer des Herrn und bin jetzt gekommen.“ Da fiel Josua auf sein Angesicht zur Erde nieder, betete an und sprach zu ihm: „Was sagt mein Herr seinem Knecht?“ Und der Fürst über das Heer des Herrn sprach zu Josua: „Zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn die Stätte, darauf du stehst, ist heilig.“
Josua 5, 13-15

Ja, die Geschichte von Josua und den Mauern von Jericho, die kennt ihr alle. Aber diese kleine Vorgeschichte wahrscheinlich nicht. Dabei ist genau sie der Schlüssel, um das große Wunder zu verstehen:
Das Heer des Herrn, die legendären himmlischen Heerscharen haben hier ganze Arbeit geleistet. Und zuvor ist der himmlische Heerführer dem irdischen Heerführer Josua erschienen. Und hat es ihm deutlich gemacht: Hier geht es nicht um die Eroberung einer Stadt mit menschlicher Militärmacht, hier kämpfen himmlische Mächte für Gottes Sache und für Gottes Volk. Auf der sichtbaren Ebene haben die Israeliten ein bisschen Militärmusik gemacht, vielleicht auch eher – es waren ja die Priester – alttestamentlichen Lobpreis. Auf der unsichtbaren Ebene haben Gottes Engelheere gekämpft und gesiegt.
Liebe Schwestern und Brüder, der Fürst über das Heer des Herrn heißt an späteren Stellen der Bibel Michael. Der Erzengel Michael ist der Engelfürst, dem der heutige Tag, der 29. September, gewidmet ist: Michaelis.
Wir wissen relativ wenig über die Engel – einerseits. Aber die Engel sind doch sehr populär – andererseits. Insbesondere Schutzengel und unsichtbare Boten aus dem Jenseits haben es vielen Menschen angetan. Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen (Psalm 91,101 – Seit Jahren ist das allüberall der beliebteste Taufspruch. Der kleine noch so schutzlose Mensch möge von den unsichtbaren Schutzengeln behütet sein. Das wünschen sich alle Eltern.
Ja, es gibt da wohl Mächte und Kräfte zwischen Himmel und Erde, die uns beschützen und bewahren können. Aber wohl auch die anderen, die uns bedrohen und gefährden können. Oft, meistens nehmen wir nichts davon wahr. Manchmal gibt es diese Augenblicke, wo wir uns behütet und bewahrt wissen: Da wo es gerade noch gut gegangen ist. Da hatte ich einen Schutzengel, oder da hatte mein Schutzengel viel zu tun – so was sagen wir dann. Meistens sind wir behütet und bewahrt und merken gar nicht, dass wir gefährdet waren: Da hatte mein Schutzengel vielleicht sogar noch mehr zu tun. Aber das wissen wir alles nicht so genau.
Manchmal aber, in seltenen Augenblicken dürfen Menschen etwas wahrnehmen von Gottes unsichtbaren Engelsmächten. Eine Frau erzählte mir, wie sie an ihrem Krankenbett einen Engel gesehen hatte, und dann ist sie wieder gesund geworden. So etwas hört man immer mal wieder.
Josua ist der Engelfürst erschienen, und er hat es gar nicht gleich gemerkt. „Freund oder Feind?“, hat er gefragt – es war ja praktisch Krieg – und der Unbekannte sagt „Nein“ – Nein auf eine Entweder-Oder-Frage. Er kommt von Gott. Interessant: Bei Gott gibt es nicht nur Entweder-Oder, sondern noch etwas ganz Anderes: Möglichkeiten, die für Menschen jenseits aller Möglichkeiten liegen. Zum Beispiel, dass Mauern einfach umfallen, weil Engel in der unsichtbaren Welt kämpfen.
Die alte Geschichte von Josua und den Mauern von Jericho ist uns damals 1989 in der DDR wieder eingefallen. Siebenmal ist das Volk um die Stadt gezogen – den Stadtring von Leipzig an sieben großen Montagsdemonstrationen, dann ist die Mauer gefallen (nicht in Leipzig, sondern in Berlin): Ein Wunder, das keiner erwartet hat. Ein Wunder auch, weil in dieser extrem gefährlichen Situation alles friedlich und fröhlich abgelaufen ist. – Vermutlich waren auch da Gottes Engelheere mächtig im Einsatz.
Liebe Schwestern und Brüder, vor kurzem habe ich über das Geist-Materie-Problem gesprochen: Wie kann der Geist etwas in der materiellen Welt bewegen, verändern? Ich habe gesagt, dass im Menschen Geist, Gedanken, Ideen, Vorstellungen sich materialisieren, verleiblichen, weil wir einen Körper haben, der tut, was der Geist ihm sagt. – So ist der Mensch das große Wunder, in dem Geist und Leib zusammenkommen. Wir sind dabei aber ganz auf der leiblichen, der sichtbaren Seite. Auf der geistigen, der unsichtbaren Seite, da sind die Engel. Auch sie bewegen und verändern etwas in der sichtbaren Welt: Mauern fallen, Kranke werden gesund, Unfälle werden verhindert oder gehen glimpflich aus … Wir sehen meistens nur das Ergebnis. Was dahinter steht, Gottes Mächte, die sehen wir nicht. Sie bleiben unsichtbar. – Allein der Glaube, nimmt manchmal etwas von ihnen wahr. Gott greift ein durch seine Engel. Der Geist bewegt etwas in der materiellen Welt.
Viele Menschen, auch  Christen, glauben nicht an Engel: Sie vertrauen auf ihre eigenen Kräfte, auf das, was man sehen, messen und berechnen kann. Sie sagen: Wir müssen selber etwas tun: Berge versetzen, Mauern niederreißen. Aber sie vergessen, was Luther einst gedichtet hat: Mit unsrer Kraft ist nichts getan, wir sind gar bald verloren…
Viele Menschen, auch Nichtchristen, glauben an Engel: gute Mächte, die uns zur Seite stehen. Aber manche vergessen, dass es nicht einfach irgendwelche guten Mächte sind, sondern Gottes gute Mächte, Gottes Boten, Gottes Kämpfer (ganz wichtig: Gotteskämpfer oder Gotteskrieger sind niemals Menschen, es sind immer nur unsichtbare geistige Mächte, nicht bewaffnete Kämpfer auf Erden). Und sie handeln nicht nach unseren Wünschen, sondern nach Gottes Willen, damit sein Wille geschehe: im Himmel, und immer öfter auch auf Erden.
Michael – der Name des Engelfürsten hat im Hebräischen eine tiefe Bedeutung: Mi ka El – Wer ist wie Gott? – Das ist eine rhetorische Frage. Niemand. Auch kein Engel. Die Engel handeln ausschließlich in Gottes Auftrag und zu Gottes Ehre. Darum: Wo Engel sind, da haben wir es mit Gott zu tun. Und wo Gott es mit den Menschen zu tun haben will, da schickt er häufig seine Engel.
Martin Luther hat uns seinen bekannten Morgen- und Abendsegen hinterlassen. Der endet beidemal so: Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde.
Ja, Gottes heiliger Engel sei mit uns allen, dass der böse Feind keine Macht an uns finde. Amen.

Sonntag, 22. September 2013

Predigt am 22. September 2013 (17. Sonntag nach Trinitatis)

Es kam vor Jesus, dass sie den Blindgeborenen, den er geheilt hatte, ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: „Glaubst du an den Menschensohn?“ Er antwortete und sprach: „Herr, wer ist’s?, dass ich an ihn glaube.“ Jesus sprach zu ihm: „Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist’s.“ Er aber sprach: „Herr, ich glaube, und betete ihn an.“
Und Jesus sprach: „Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden.“ Das hörten die Pharisäer, die bei ihm waren, und fragten ihn: „Sind wir denn auch blind?“ Jesus sprach zu ihnen: „Wärt ihr blind, os hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: ‚Wir sind sehend‘, darum bleibt eure Sünde.“
Johannes 9, 35-41


Liebe Schwestern und Brüder!
Sind wir denn etwa auch blind? – So fragen Jesus die Pharisäer. Die Pharisäer, das sind die Leute, die sich eben nicht für blind halten, sondern für sehend. Die meinen, dass sie den Durchblick haben, dass sie verstanden haben, dass sie mehr wissen und besser leben als die andern. Wir kennen den Typus des Pharisäers gut. Aus der Bibel. Aus der Politik. Und aus dem wirklichen Leben.
Natürlich sind sie blind, diese Pharisäer. Sie sehen es nicht und wollen es nicht wahrhaben, dass Jesus von Gott kommt.
Ich erinnere mich an meinen ersten Männerkreis im Erzgebirge. Da war besonders ein alter Herr, für den war es immer wieder unfassbar, wie die Menschen damals nicht an Jesus glauben konnten. Der hatte doch vor ihren Augen all die Wunder getan, und sie haben ihn trotzdem abgelehnt und gekreuzigt! Unfassbar! – Ich musste diesen Herrn, dann immer etwas bremsen, wenn er das so verallgemeinerte in Richtung: die Juden! – Nein, nicht die Juden; Pharisäer gibt es überall.
Aber es ist in der Tat unfassbar, dass Menschen nicht sehen, was doch vor aller Augen ist!
Apropos Juden! – Nach 1945 stellte sich heraus, dass kaum einer was gesehen hatte, kaum einer was gewusst hatte, was mit den Juden geschehen war, die bis vor kurzem noch in der Nachbarschaft gelebt hatten. Man hatte wohl etwas gesehen, aber man hatte lieber nicht so genau hingeschaut.
So ähnlich war es umgekehrt bei den Pharisäern zur Zeit Jesu: Man hat etwas gesehen, aber man hat weggeschaut. In der Geschichte von der Blindenheilung im Johannesevangelium behaupten die Pharisäer sogar, er wäre gar nicht blind gewesen. Es konnte einfach nicht sein, was nicht sein durfte.
Es ist eine eigentümliche Sache mit der Blindheit. Weil wir immer irgendetwas sehen, darum kann es ja nicht sein, dass wir blind sind! – Und wir sind es doch. Wenigstens teilweise.
Im vergangenen Jahr wurden auf Flügen einer bekannten deutschen Fluggesellschaft Ausschnitte aus einem Video gezeigt, wo einer vorführte, wie sehr sich unser Denken und Sehen beeinflussen lässt. – Da war z.B. folgendes kleines Experiment; vielleicht können wir das ja auch machen: Schaut euch mal 30 Sekunden lang hier im Raum um und achtet auf alle grünen Gegenstände. Schaut euch um, ihr werdet eine Menge entdecken, was grün ist. Bei euch, bei den anderen Gottesdienstbesuchern und irgendwo hier im Kirchenraum. Prägt euch so viele grüne Dinge wie möglich ein … – Und jetzt schaut euch nicht mehr um, sondern schließt die Augen – und versucht für euch fünf Dinge aufzuzählen, die hier im Raum – rot sind … – Schwierig? – Ja, schwierig!
Wir Menschen sind so gestrickt, dass wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren, sie auf etwas Bestimmtes lenken oder lenken lassen – zum Beispiel auf grüne Gegenstände. Und dann achten wir nicht auf die anderen – zum Beispiel auf die roten. Indem wir das eine sehen, sind wir für etwas anderes nahezu blind.
Sind wir etwa auch blind? – Ich finde, das ist eine ganz, ganz wichtige Einsicht: Dass wir das begreifen, dass auch wir – zumindest teilweise blind sind. Wer das nicht wahrhaben will und meint, er hätte den vollen Durchblick, der ist ein Pharisäer.
Heute sind Bundestagswahlen. Und ich denke dabei auch an politisches Pharisäertum. Da gibt es immer diejenigen, die alles ganz genau wissen, die den Durchblick haben, die wissen, was getan werden muss und was nicht, die den Weg zur vollkommenen Gerechtigkeit, zur vollkommenen Freiheit oder zur Rettung der Welt kennen. – Das ist für mich politisches Pharisäertum.
Wohin das führt, haben wir gesehen: „Die Partei, die Partei, die hat immer Recht“, wurde bei uns in der DDR gesungen. Die Partei war letztlich das Politbüro, wo ein paar alte Herren meinten, den totalen Durchblick zu haben. Widerspruch wurde nicht geduldet. Widerstand war gefährlich. Eine Diktatur der Blinden, die uns nahe an den Abgrund geführt hat. Zum Glück gab es ein paar Leute, denen die Augen aufgegangen sind und die die Welt anders gesehen haben, als man uns zu sehen gelehrt hatte.
Noch schlimmer war es vorher, da sind uns bzw. unseren Eltern und Großeltern die Augen erst aufgegangen, als sie schon im Abgrund lagen.
Bei politischem Pharisäertum denken wir vielleicht auch an die Blindheit der Grünen im Blick auf die Pädophilen in den eigenen Reihen so vor 30 Jahren. Jetzt kommt das gerade alles hoch. Man hätte es doch damals schon sehen können; aber man hat irgendwie drüber weg gesehen. Dass diese Partei anderen jahrzehntelang Moral gepredigt hat, kommt dann heute besonders übel an. – Aber das ist auch nur die halbe Wahrheit. Was damals geschah, was damals gesagt und geschrieben worden ist, ist öffentlich, vor aller Augen gesagt und geschrieben worden. – Nicht nur die Grünen selber, sondern wir alle haben nicht so genau hingeschaut, haben es nicht wirklich wissen wollen, obwohl wir es schon damals hätten wissen können. Darum hat auch manche wohlfeile Entrüstung über die Grünen einen pharisäischen Anstrich.
Heute sind Bundestagswahlen. Das großartige an der freiheitlichen Demokratie ist, dass sie mit der partiellen Blindheit rechnet. Aber sie rechnet eben auch damit, dass der eine etwas sieht, was der andere vielleicht übersieht. „Ich sehe was, was du nicht siehst“, sollte das Motto demokratischer Parteien sein, oder noch besser: „Du siehst etwas, was ich nicht sehe.“
Ich sehe, dass Menschen mit ihrer Arbeit nicht genug zum Leben verdienen, sagen die einen, und fordern einen entsprechenden Mindestlohn.
Ich sehe, dass Löhne auch bezahlbar sein müssen und sonst die Existenz von Arbeitsplätzen oder ganzen Betrieben gefährdet ist, sagen die anderen, lehnen den Mindestlohn ab und fordern Steuersenkungen.
Ich sehe, dass Deutschland nicht für die Schulden und das schlechte Wirtschaften anderer EU-Länder in Verantwortung, gerade auch finanzielle Verantwortung, genommen werden darf, sagen manche.
Ich sehe, dass wir in Europa solidarisch miteinander sein müssen und den Schwachen nicht noch einen Stoß versetzen dürfen, sagen andere.
Es sind verschiedene Sichten, verschiedene Argumente. Keines ist von vornherein falsch oder ausgeschlossen. Keiner hat die Wahrheit für sich gepachtet. Wer so tut, ist ein Pharisäer.
Das schöne an der freiheitlichen Demokratie ist, dass nicht eine Partei immer Recht hat, sondern dass wir diskutieren, argumentieren und abstimmen können.
Wir wissen, dass wir blind sind. Und ich vertraue den Politikern am ehesten, die nicht so tun, als könnten und wüssten sie alles. Und könnten und müssten deshalb auch alles für die anderen entscheiden und regulieren.
Wichtiger noch als die politischen Dinge sind mir die Glaubensfragen. Da gibt es auch so viel Blindheit. Und so viel Pharisäertum. Wir nehmen die Wirklichkeit, auch und gerade Gottes Wirklichkeit, nur eingeschränkt wahr. Und viele von uns Christen haben dabei ihren ganz spezifischen Aufmerksamkeitsfokus.
Da gibt es welche für die macht sich das Christliche am liebsten an sexualethischen Fragen fest: Homosexualität, Ehe und Familie, Verhütung und Abtreibung, Wiederverheiratung Geschiedener usw. Und da gibt es fast immer ganz klare Positionen dafür oder dagegen. – Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es gerade an dieser Stelle ganz schwer ist, im Sinne des „Ich sehe was, was du nicht siehst“ zu argumentieren. Dabei sind das doch gar nicht die zentralen Glaubensfragen! Wer sich da hinstellt und seine Sicht für die allein richtige und allein gültige hält, der muss sich schon fragen lassen, ob das nichts mit Pharisäertum zu tun hat.
Es gibt Christen, für die besteht das Christliche vor allem in sozialen Aktivitäten, Weltverantwortung, Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
Es gibt Christen, für die ist das Christliche vor allem die persönliche Jesus-Beziehung, das Bibellesen und Beten.
Es gibt Christen, für die ist es einfach nur wichtig, dass Gott sie an den entscheidenden Stellen beschützt und segnet; die kommen zur Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung zur Kirche, und dann vielleicht noch Weihnachten.
Und es gibt Christen, die diesen Christen ihr Christsein absprechen, weil sie sich etwas häufiger beim lieben Gott sehen lassen.
Wer seine Form, den Glauben zu leben für die allein richtige und allein seligmachende hält, der sollte sich auch fragen, ob das nicht etwas Pharisäerhaftes hat.
Sind wir denn etwa auch blind? – So fragen die Pharisäer. – Und Jesus antwortet: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde. Man sollte es vielleicht so verstehen: Wärt ihr bloß blind, so hättet ihr keine Sünde. – Blindheit, eingeschränkte Sicht, fehlender Durchblick, partielle Aufmerksamkeit – das ist normal, das ist keine Sünde! – Wir sind eben noch nicht in der himmlischen Klarheit Gottes angekommen. Oder wie Paulus schreibt (stand gestern gerade in der Losung): Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht (1. Korinther 13, 12). – Aber diese unsere Blindheit zu verleugnen und so zu tun, als hätten wir den Durchblick, hätten schon alles verstanden, würden mehr wissen und besser leben als die anderen – das ist die Sünde der Pharisäer. Weil ihr sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.
Wir sind nicht besser als jene Pharisäer damals. Vielleicht hätten wir es auch nicht erkannt, dass Jesus von Gott gekommen ist. Vielleicht hätten wir vor 70, 80 Jahren auch nicht gesehen, was Hitler und der Nationalsozialismus für einen mörderischen Wahnsinn über die Menschen gebracht haben. Vielleicht haben wir auch heute – in dieser Zeit oder auch an diesem Wahlsonntag nicht die klügste politische Entscheidung getroffen. Unsere Sicht ist leider eingeschränkt.
Aber wenn wir das wissen, dann können und sollen wir die Augen offen halten, und die Ohren. Uns von anderen sagen lassen, was sie sehen, was wir nicht sehen. Und uns nicht allzu sehr auf unsere eigene Sicht der Dinge festlegen.
Unser Glaube, unsere Bibel wollen uns den Blick weit machen. Gott will letztlich unseren Blick weit machen. Weil er wirklich den totalen Durchblick hat.

Sonntag, 15. September 2013

Predigt am 15. September 2013 (16. Sonntag nach Trinitatis)

Jesus ging in eine Stadt mit Namen Nain, und seine Jünger gingen mit ihm und eine große Menge. Als er aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe; und eine große Menge aus der Stadt ging mit ihr. Und als sie der Herr sah, jammerte sie ihn, und er sprach zu ihr: „Weine nicht!“ Und trat hinzu und berührte den Sarg, und die Träger blieben stehen. Und er sprach: „Jüngling, ich sage dir, steh auf!“ Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden, und Jesus gab ihn seiner Mutter. Und Furcht ergriff sie alle, und sie priesen Gott und sprachen: „Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden“, und: „Gott hat sein Volk besucht.“
Lukas 7, 11-16


Liebe Schwestern und Brüder,
Bestattungen gehören zu unserem kirchlichen Kerngeschäft. Hier auf der Insel sind es weniger. In unseren deutschen Gemeinden waren es mehr. Wir begleiten Trauernde auf ihrem letzten Weg mit ihren Verstorbenen. Wir versuchen zu trösten. Wir versuchen Sinn zu geben. Und Hoffnung.
Manchmal habe ich bei einer Bestattung das Gefühl: Ja, es ist gut so. Da ist einer, wie es biblisch heißt, alt und lebenssatt gestorben. Gewiss sind die Angehörigen traurig, aber es überwiegt die Dankbarkeit.
Manchmal ist das Leben zuletzt nur noch Leiden und Qual gewesen, nicht nur für den Verstorbenen, sondern auch für seine Angehörigen. Dann liegt das biblische Wort von der Erlösung besonders nahe. Und alle sagen: Es ist besser so.
Aber immer wieder gibt es dann auch diejenigen, wo wir sagen: Der hätte noch nicht sterben dürfen. Es ist eine Unverschämtheit, eine Frechheit, dass dieser Mensch aus dem Leben gerissen wurde! – Das sind die Bestattungsfeiern, vor denen auch wir Pfarrer uns fürchten. Das sind die Lebens- und Todesgeschichten, die wir auch nach Jahren und Jahrzehnten nicht vergessen. Das sind die Angehörigen, deren Schicksal uns noch lange beschäftigt, weil wir ihnen keine befriedigende Antwort und keinen wirklichen Trost geben konnten.
Ein junger Mann, Anfang 30, fremd in unserer Stadt, mit zwei kleinen Kindern. Aus völlig heiterem Himmel sirbt ihm die Frau, die Mutter seiner Kinder …
Ein anderer junger Mann, Ende 20, ist mit seiner Freundin im Auto unterwegs, die Hochzeit ist schon geplant. Da kommt ihm in einer Kurve ein Geisterfahrer entgegen. Er stirbt noch am Unfallort. Ich begleite den Polizisten, der den Eltern die Todesnachricht überbringen muss …
Einer Frau, die zu unserer Gemeinde gehört, sterben innerhalb weniger Jahre zwei ihrer erwachsenen Söhne. Ihr Ehemann ergibt sich in seiner Verzweiflung dem Alkohol. Sie ist kurz vor dem Nervenzusammenbruch …
Unser Nachbarskind. Nach Jahren des Kampfes gegen den Krebs und des Kampfes um ein normales Leben stirbt er mit zwölf Jahren. Seine Mutter hadert mit Gott und kommt jahrelang aus dem Loch der Sinnlosigkeit und Verzweiflung nicht heraus …
Diese und ähnliche Lebens- und Todesgeschichten machen mich wütend. Ich bin wütend auf den Tod. Ich bin wütend, dass er nicht nur einfach das Leben von einzelnen Menschen beendet; das ist schon schlimm genug. Er zerstört ja viel mehr. Er reißt Liebende auseinander. Er trennt Familien. Er treibt in Sucht und Verzweiflung. Er bedroht den Glauben an Gottes Liebe.
Und er tut das sogar schon in seinem Vorfeld und in seinem Umfeld. Ich beobachte es immer wieder, wie allein bei der Diagnose Krebs der Tod schon hinter der Tür steht. Es ist noch gar nicht entschieden, ob er eintreten darf; unsere Mittel und Chancen, ihn daran zu hindern, sind ja in den letzten hundert Jahren massiv gestiegen – Gott sei Dank! Und trotzdem macht er uns Angst und Unruhe, verändert unser Denken, Fühlen und Handeln. Vielleicht sind wir allzu besorgt um einen Menschen, den wir verlieren könnten und erdrücken ihn und uns selbst mit unserer Sorge. Oder wir fühlen uns überfordert und lassen ihn im Stich in seiner Angst und seinem Kampf ums Leben. – Das beides ist mir schon begegnet. Und oft ficht zu alldem der Tod – schon im Modus der bloßen Möglichkeit – unseren Glauben, unsere Hoffnung und unsere Liebe an.
Ja, ich bin wütend auf den Tod, und auf die Macht, die er über unser Leben ausübt, gerade da, wo er nach unserem Nächsten und Übernächsten greift. Dass Menschen sterben müssen, das ist einfach Scheiße!
Ich denke, ich darf das so sagen. Denn die Bibel selber nennt den Tod ausdrücklich einen Feind: Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. (1. Korinther 15, 26)
Gott ist der Gott des Lebens. Er hat eine lebendige Schöpfung geschaffen. Er hat lebendige Menschen geschaffen. Der Tod ist der Feind des Lebens, der Feind des Menschen, der Feind Gottes. Gott hat versprochen, diesen Feind zu vernichten: Der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, heißt es auf den letzten Seiten der Bibel (Offenbarung 21, 4). Der Tod ist zum Tode verurteilt. Der Tod muss des Todes sterben.
Noch ist es nicht so weit. Aber so weit ist es schon, dass wo Gott ist, er dem Tod mit seiner Lebensmacht entgegentritt.
Genau davon erzählt die kleine Geschichte des „Jünglings von Nain“.
Es ist genau eine dieser Bestattungen, wo wir deutlich spüren: Es ist nicht in Ordnung, dass dieser Mensch gestorben ist. Eine der Geschichten, die uns wütend machen. Gerade weil der Tod hier so tief ins Leben eingreift: Einer Witwe stirbt ihr einziger Sohn. Das ist grausam! Nicht nur aus sozialen Gründen, weil er ihr einziger Ernährer ist, wie so gerne betont wird. Nein, aus menschlichen Gründen. Da verliert eine Frau erst ihren Mann, dann ihren Sohn. Auch wenn sie Rentenansprüche hätte, wäre das furchtbar. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, hatte Gott ausdrücklich gesagt, und nun ist sie eben doch allein. Die Menschen, mit denen und für die sie gelebt hat, sind nicht mehr bei ihr. Das ist nicht gut. Wofür soll sie selber jetzt noch leben? – Genau solche Schicksale machen mich traurig und wütend. Wütend auf den Scheiß-Tod!
Doch bei dieser Bestattung ist Jesus da. Er trifft auf den Leichenzug, und auch er ist traurig und wütend. Er spürt den ganzen Jammer, die ganze Verzweiflung dieser Frau. Und wie all die Anteilnahme der Nachbarn ihr nicht helfen kann. In diesem Augenblick ist ihm klar: Es ist nicht akzeptabel, dass der Tod das Leben zerstört. Er muss, er kann, er wird der Macht des Todes Gottes Lebensmacht entgegensetzen.
Weine nicht!, sagt er der Mutter. Denn Gott will trösten. Gott will die Tränen abwischen. – Ich würde eher sagen: „Weinen Sie ruhig!“ Wenn Jesus sagt: Weine nicht!, dann sagt er es, weil es gleich keinen Grund mehr geben wird zum Weinen. Jesus schenkt neues Leben.
Ich sage dir, steh auf! – Aufstehen – Auferstehung! Einer wird dem Tod entrissen. Einer wird dem Leben und den Lebenden zurückgegeben. Eine Mutter braucht nicht mehr um ihren Sohn zu weinen.
Wo Gott ist, da tritt er mit seiner Lebensmacht dem Tod entgegen. Hier geschieht das in extremster und deutlichster Form. Hier ist es vorweggenommen, dass der Tod besiegt und vernichtet sein wird: Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen.
Wir erleben so was nicht. Bei unseren Bestattungsfeiern werden keine Toten auferweckt. Die Lebensmacht Gottes ist nicht immer so nahe und so konkret wie in dieser Jesus-Geschichte.
Aber sie ist da. Wir bekennen uns zu ihr, wenn wir dieses Glaubensbekenntnis sprechen: Auferstehung der Toten und das ewige Leben.
Weine nicht!, das kann ich als Pastor den Trauernden nicht befehlen. Aber ich kann ihnen die biblischen Worte weitersagen, dass Gott alle Tränen abwischen wird: Auferstehung der Toten und das ewige Leben.
Stehe auf!, das kann ich dem Toten nicht befehlen. Aber ich kann es sagen, dass Jesus auferstanden ist, damit alle, die gestorben sind, mit ihm leben werden. Der Tod behält nicht das letzte Wort. Seine Macht ist gebrochen. Seine endgültige Vernichtung steht bevor: Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen.
Ich muss den schlimmen Tod nicht zu etwas Gutem verklären. Ich muss dem Sinnlosen keinen Sinn abgewinnen. Wenn der Tod junge Menschen aus dem Leben reißt, Familienväter ihrer Ehefrauen, Mütter ihrer Kinder beraubt und schon dort, wo er drohend vor der  Tür steht, menschliches Miteinander bedroht und zerstört, dann ist das schlimm, dann ist das sinnlos, dann macht mich das wütend.
Aber mein Glaube, meine Hoffnung, meine Liebe sagen mir, dass das nicht Gottes wahrer Wille und nicht Gottes letztes Wort ist. Gott will das Leben, und Gott schafft das Leben, und Gott erhält das Leben, und Gott erweckt neues Leben aus dem Tod. Und daran halte ich mich fest, und das sage ich denen, die trauern und wütend und verzweifelt sind:
Findet euch nicht ab mit dem Tod! Und wenn ihr vom Leben nichts mehr erwartet, dann erwartet alles von Gott!

Sonntag, 8. September 2013

Predigt am 8. September 2013 (15. Sonntag nach Trinitatis)

Die Apostel sprachen zu dem Herrn: „Stärke uns den Glauben!“ Der Herr aber sprach: „Wenn ihr Glauben hättet so groß wie ein Senfkorn, dann könntet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: ‚Reiß dich aus und versetze dich ins Meer!‘, und er würde euch gehorchen.“
Lukas 17, 5-6

Liebe Schwestern und Brüder,
da stimmt doch was nicht! Eigentlich war das doch ganz anders mit dem Senfkorn und dem Baum: Das Korn wird in die Erde geworfen und es wächst heran zu einem großen Baum, der den Vögeln Raum zum Leben gibt (Lukas 13, 18f). – Schön, hoffnungsvoll: „Alles muss klein beginnen, und endlich ist es groß!“ Stattdessen: Glaube als Gewaltfantasie. Bäume ausreißen und ins Meer werfen. Was soll das?
Es klingt nach Unmöglichem. Es klingt nach Tadel an die von Jesus oft so genannten Kleingläubigen: Nicht mal so groß wie ein Senfkorn ist euer Glaube, denn wer von euch hat denn schon mit seinem Glauben Bäume ausgerissen? – Seht ihr! – Ich stelle mir vor, wie die Jüngerschar betreten schweigt.
Ich denke an manche ohnmächtigen Versuche, mit dem Glauben Bäume auszureißen. Natürlich nicht wörtlich. Aber ich denke daran, wie wir für Kranke gebetet haben, und sie sind nicht geheilt worden. Und wir haben uns gefragt: Wessen Glaube war hier nicht groß genug? – Nicht mal so groß wie ein Senfkorn?
Ich denke an die vielen, die in diesen Tagen für den Frieden in Syrien beten. – Der Papst und der Weltkirchenrat hatten ja für gestern zu einem weltweiten Gebet für den Frieden aufgerufen. – Wird ihr Glaube nun den Baum des Hasses und der Gewalt ausreißen und ab heute dem Frieden und der Versöhnung Raum schaffen? – Gott möge mir vergeben: Mein Glaube ist da bei weitem nicht senfkorngroß. Mir scheint das eher ein Ausdruck von Hilflosigkeit zu sein. Und vielleicht auch eine wohlfeile Demonstration gegen die USA. Warum fällt ihnen erst dann das Beten ein, wenn Amerika droht, mit Waffengewalt einzugreifen, wo schon lange die Waffengewalt tobt? – Nein, ich bin durchaus nicht der Meinung, dass ein militärisches Eingreifen in Syrien irgendwas bringt, aber so zu tun, als ob der Krieg erst beginne, wenn der Westen eingreift, ist doch zumindest eine sehr fragwürdige Sicht. – Es ist ja mit Sicherheit richtig, für die Menschen in Syrien zu beten. Trotzdem bleiben da große Zweifel: Was bewirken unsere Gebete? Vor allem: Was bewirken sie, wenn wir nicht mal glauben, dass sie etwas bewirken?

Beim Glauben, der Bäume ausreißt und Berge versetzt, haben wir es mit einem der größten philosophischen Probleme zu tun: dem Geist-Materie-Problem. Wie kann etwas Geistiges, also Gedanken, Ideen, Wünsche, Hoffnungen, die materielle Welt beeinflussen? – In der materiellen Welt verändert sich nichts, nur weil wir es uns so vorstellen. Wir können mit unseren Gedanken keine Gegenstände bewegen – Telekinese, so nennt sich das, gibt es nicht. Und darum können wir mit unserem Glauben auch keine Bäume ausreißen. Jedenfalls nicht, wenn wir meinen, wir müssten nur angestrengt glauben.
Aber in Wahrheit können wir natürlich doch sehr, sehr viel mit unseren Gedanken, Ideen, Wünschen und Hoffnungen erreichen. Denn wir Menschen sind das Wunderwesen, in dem Geist und Materie sich treffen. Wir können nämlich mit unseren Gedanken unseren Körper dazu bringen, das zu tun, was wir uns vorstellen. Ich stelle mir vor: Ich strecke meinen Arm aus, und mein Arm streckt sich aus. Ich stelle mir vor, ich gehe auf dich zu, und meine Beine tun es. Ich stelle mir vor: Ich sehe dich an, und mein Auge tut es. Ich stelle mir vor: Ich spreche dich an, und mein Mund sagt zu dir: „Du bist ein wunderbarer Mensch!“ Und ich stelle mir vor: Du lächelst dabei, und du tust es wirklich … Und ich stelle mir vor, du reichst mir die Hand, und du tust es auch. (Ich habe das praktisch mit einer Frau aus der Gemeinde getan, natürlich unabgesprochen.)
Was in meinem Geist geschieht, kann sich materialisieren. Genau genommen, passiert das ständig. Es geschieht durch meinen Leib. Unser Körper ist Organ des Geistes. Ich kann etwas bewegen, weil ich meinen Körper bewegen kann. Und weil in mir etwas ist, das aus bloßen Gedanken etwas verändert in der materiellen Welt.
Vielleicht kann ich mit meinem Glauben keine Bäume ausreißen, aber ich kann mit meinen Händen Bäume pflanzen. Ich kann Samenkörner aussähen. Und es verändert sich etwas in der Welt. Am Anfang war da nur eine Idee …
Und ich kann ja noch mehr. Ich kann auch andere Menschen dazu bringen, meine Idee umzusetzen. Ich kann dich dazu bringen, mir die Hand zu geben und mich anzulächeln. – Mein Geist beeinflusst deinen Geist und dein Leib tut, was ich mir vorgestellt habe.
Natürlich kann man das auch gebrauchen, um Menschen zu manipulieren. Aber dagegen kannst du dich wehren, wenn du mir nicht die Hand geben willst, dann musst du es nicht. Aber das kostet Widerstandskraft…
Was ich sagen will: Im Menschen liegt die Möglichkeit, aus Glauben, aus Gedanken, aus Worten Realitäten werden zu lassen. Über den Umweg unseres Leibes. Dazu hat ihn uns Gott gegeben.
Das Geist-Materie-Problem haben wir noch mal auf einer anderen Stufe, wenn wir über Gott nachdenken. Gott ist Geist. – Wie kann Gott in der materiellen Welt etwas bewegen? – Manche haben gemeint, die materielle Welt wäre gewissermaßen der Leib, der Körper Gottes. Wenn Gott sich etwas vorstellt oder etwas ausspricht, dann kann er allein dadurch die Welt verändern. So wie ich meinen Arm heben kann, kann Gott in der Welt etwas verändern. Bäume ausreißen zum Beispiel. Oder Krankheiten wegmachen.
Meist wählt Gott aber einen anderen Weg. Er wählt den Umweg über den Menschen. So wie ich dich dazu bringen kann zu lächeln oder mir die Hand zu geben, so kann Gott dich auch dazu bringen, das zu tun, was er will. Wenn du nämlich seine Worte und Gedanken einlässt in dein Herz, dann wird dein Leib zu Gottes Leib. Dann tut er durch dich, was er getan haben will in dieser Welt.
Gott will uns beeinflussen, uns manipulieren – und weil Gott Gott ist, natürlich nur zu unserem Besten. Und dann verändert Gott die Welt, indem er uns losschickt zum Bäumeausreißen und Senfkörnersäen.
Und was heißt dann Glauben haben so groß wie ein Senfkorn? – Es heißt: Dass wir uns offen halten für Gott, für das, was er uns sagt, für das, was er von uns erwartet. Und dass wir es auch tun.
Beim Glauben, der Bäume ausreißt und Berge versetzt, geht es am Ende nicht darum, dass wir der Welt unseren Willen aufzwingen, sondern dass durch uns Gottes Wille geschieht, wie im Himmel so auf Erden.
Die Beispiele dafür sind nicht fern. Sie stehen unmittelbar vor unserem Predigtwort: Da warnt Jesus davor, Menschen zum Abfall vom Glauben zu verführen. Und da erwartet er, dass wir unserem Bruder (oder unserer Schwester oder unserem Ehepartner) siebenmal am Tage vergeben. – Immer wieder vergeben, niemals etwas tun oder sagen, das nicht vom Glauben wegführen könnte – wie soll das möglich sein? – Das sind wohl eigentlich die Bäume, die unser Glaube ausreißen soll: das Ärgernis, das andere von Gott trennt, und die Unversöhnlichkeit, die uns voneinander trennt.
Glaube, so groß wie ein Senfkorn, heißt: Uns von Gottes Geist bestimmen lassen.

Vorige Woche habe ich von Martin Luther King und seinem Traum von der Gerechtigkeit und der Freiheit für alle gesprochen. Ich glaube, das ist ein ganz reales Beispiel für den Glauben, der Berge versetzt. Sein Traum, seine Ideen, seine Vorstellungen haben sich realisiert, weil es Gottes Traum war. Und weil Menschen daran gegangen sind, ihn zu verwirklichen. Sie haben sich von Gott beeinflussen lassen, so konnte er durch sie handeln. Und so haben sie den schlechten Baum des Rassismus, der mit seinen verschlungenen Wurzeln die Brunnen der Gerechtigkeit zu zerstören drohte, ausgerissen. Mit ihrem Glauben und mit ihrem Handeln, das aus dem Glauben kam.
Träumen allein war es nicht. Händefalten und Beten allein war es auch nicht. Aber Losgehen und Protestieren allein war es auch nicht. Es war der Glaube, der sich aus Gottes Traum gespeist hat, der sich im Händefalten und im Händeausstrecken verwirklicht hat. Es war das Senfkorn, das der Lehrer aus Nazareth gesät hatte. Und das stark genug ist, die Welt zu verändern.
Ich will nicht drumherumreden: Manchmal ist unser Glaube klein und schwach und hilfos. Manchmal richten unsere Gebete nichts aus, und wir können nicht mal glauben, dass sie etwas ausrichten. – Aber ich verstehe eines: Der Senfkornglaube, von dem Jesus spricht, ist kein Kraftakt, den er von mir fordert, sondern Gottvertrauen. Ich muss keine Bäume ausreißen. Ich brauche nur im Vertrauen auf Gott seine Samenkörner zu säen.

Sonntag, 1. September 2013

Predigt am 1. September 2013 (14. Sonntag nach Trinitatis)

Liebe Schwestern und Brüder,
„Ich habe einen Traum – I have a dream“. In der vergangenen Woche wurde allüberall erinnert an die große Rede Martin Luther Kings vor 50 Jahren, wo er diese berühmten Worte sprach von seinem Traum: Dem Traum, dass die Kinder der früheren Sklaven und der früheren Sklavenhalter gemeinsam am Tisch der Brüderlichkeit sitzen würden. Dem Traum, dass Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden. Dem Traum von der Gerechtigkeit. Dem Traum von der Freiheit.*
Heute, fünfzig Jahre später, ist vieles von diesem Traum wahr geworden. Dort in Amerika. Der schwarze Präsident wird, selbst wenn er von seinen politischen Gegnern kritisiert wird, gewiss nicht wegen seiner Hautfarbe angegriffen. Es ist normal geworden, Menschen nur noch nach ihrem Charakter, nach ihren Worten und Taten zu beurteilen und nicht nach ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrem Geschlecht. Und wo es nicht so ist, da regt sich auch heute noch Widerspruch und Widerstand. Inzwischen sogar manchmal auch, wenn im Namen der Gerechtigkeit jetzt auch Weiße benachteiligt werden.
Martin Luther Kings Traum von der Gerechtigkeit und der Freiheit war keine luftige Vision vom Himmelreich, kein leeres Versprechen vom Schlaraffenland oder dergleichen. Es war ein Traum, der hier auf dieser Erde spielt, konkret „auf den roten Hügeln Georgias“ und in den „Gettos der Großstädte im Norden“. Es war ein realistischer Traum. Ein Traum, der wahr werden konnte und wahr geworden ist. Ein geerdeter Traum.
Und doch war es ein Traum, der vom Himmel kam. Weil Gerechtigkeit, gleiche Rechte und Chancen für alle, gleiche Freiheit für alle, Gottes Traum vom Menschen sind. Ein Traum, den sich schon die Gründerväter der Vereinigten Staaten auf die Fahnen geschrieben hatten und dessen Verwirklichung dann vor fünfzig Jahren auch die schwarzen Amerikaner für sich einforderten.
Es war kein Zufall, dass Martin Luther King ein christlicher Prediger und Pastor war. Es war kein Zufall, dass er in seiner Rede die Töne des Glaubens anschlug: von den Tälern, die erhöht, und den Bergen, die erniedrigt werden und von der Herrlichkeit des Herrn (Jesaja 40, 4f).
Und es war kein Zufall, dass er die Befreiungsbewegung der Schwarzen auf den Weg der Gewaltlosigkeit eingeschworen hat. So war sie erfolgreich.
„Ich habe einen Traum“ – Träume sind keineswegs immer nur Schäume. Träume können realistisch sein und real werden, wenn sie in der Erde verwurzelt und vom Himmel inspiriert sind.
Unser heutiges Predigtwort erzählt uns auch von einem berühmten Traum, dem Traum Jakobs von der Himmelsleiter:
Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der HERR stand oben darauf und sprach: „Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.“ – Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: „Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!“ Und er fürchtete sich und sprach: „Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.“ Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben daruaf und nannte die Stätte Bethel.
(Genesis 28, 10-19a)

Liebe Schwestern und Brüder, auch Jakobs Traum ist vom Himmel inspiriert und in der Erde verwurzelt. Himmel und Erde sind verbunden. Es gibt eine Leiter, eine Treppe. Und es ist nicht die Treppe, auf der die Menschen mühevoll hinaufklettern müssen. – Mir fällt da ein alter griechischer Mönchsvater ein, Johannes von der Leiter, der 30 Stufen einer Leiter zum Himmel beschrieben hat, auf der ein Mensch heilig werden und zu Gott hinaufsteigen könnte. – Ganz anders ist es in Jakobs Traum, da steigen Gottes Boten, die Engel herab und wieder hinauf. Gott stellt die Verbindung zu den Menschen her, der Mensch kann das nicht. Er kann nicht aus eigener Kraft zu Gott aufsteigen.
Ein Mensch wie Jakob kann es schon überhaupt nicht. Er war ein Lügner und Betrüger, der seinen Bruder übers Ohr gehauen hatte und jetzt auf der Flucht war. Vielleicht sogar auf der Flucht vor Gott, dessen Strafe er fürchten musste.
Und genau ihm schenkte Gott seinen Traum, den Traum vom offenen Himmel. Und genau er hörte Gottes Stimme. Und genau durch ihn begann Gott auch, den Traum wahr werden zu lassen.
Es ist der Traum vom offenen Himmel für die Erde.
Jakob träumt, dass Gott ihm, dem flüchtigen Sünder Heimat geben wird – hier auf dieser Erde, hier in diesem Land, aus dem er gerade flieht. Ihm und seinen Nachkommen.
Jakob träumt, dass Gott mitgeht und ihn begleitet, wohin er jetzt auch gehen wird. Dass Gott ihn segnet und behütet auf seinen Wegen.
Jakob träumt davon, dass Gott sein Versprechen wahr macht, das er vor Zeiten gegeben hat – seinem Großvater Abraham.
Jakob träumt, dass der Himmel über ihm offen steht.
Jakobs Traum ist nicht sein Traum. Es ist Gottes Traum. – Wir kennen solche vulgär-psychologischen Tipps: Man sollte auf seine Träume hören und seine Träume leben usw. usf. In der Bibel lernen wir, dass Träume an sich noch gar nichts wert sind, wenn sie nur aus den Wünschen unseres in sich selbst verkrümmten Herzens kommen. Träume sind wahr und wertvoll, wenn sie von Gott kommen.
„Ich habe einen Traum“ – das kann jeder sagen, jeden Morgen nach dem Aufstehen. Unsere Träume machen aus uns keinen Jakob und keinen Martin Luther King. Was die Träume dieser beiden und vieler anderer auszeichnet, ist, dass sie von Gott her kommen. Dass sie etwas vom Himmel auf die Erde bringen.
Jakob hat das sofort gemerkt. Er hat das Stückchen Erde, wo er von Gott geträumt hat, gleich zu einem Heiligtum gemacht. Beth-El – das heißt „Haus Gottes“. Man kann das als altertümliche Legende abtun. Da träumt einer an einer bestimmten Stelle von Gott und schon meint er, genau dort sei Gott besonders gegenwärtig. Wie naiv, wo Gott doch eigentlich überall ist! Vielleicht würden heute irgendwelche esoterischen Spinner auch behaupten, an dieser Stelle wäre ein besonderes Energiefeld, besondere Erdstrahlen oder so was. Dabei waren es, wenn, dann besondere Himmelsstrahlen. – Nein, es ist anders – das sagt ja auch Jakobs Traum: Gott geht mit, wohin er auch geht. Er ist nicht nur an so einer besonderen Stelle anzutreffen. Gottes Haus ist nicht nur in Beth-El oder in Jerusalem oder in Rom oder da, wo eine Kirchturmspitze in den Himmel ragt.
Und trotzdem gibt es besondere Stellen, Orte, wo der Himmel in besonderer Weise offen steht, wo Gott beginnt, die Erde zu verändern – mit Menschen, die seinen Traum träumen und dabei mitmachen. Beth-El war für Jakob so ein Ort. Das Lincoln Memorial in Washington war für Martin Luther King und die schwarzen Amerikaner so ein Ort.
Nur dass Gott nicht an diesen Orten bleibt, sondern dass seine Gegenwart, seine Herrlichkeit Kreise zieht und die Erde verändert: Erst Beth-El, dann das Land, das er Jakob und seinen Nachkommen gegeben hat, dann die ganze Erde, die durchdrungen ist von gottbewegten und gesegneten Menschen.
„Ich habe einen Traum“ – Der wahre Traum ist Gottes Traum. Nicht der Mensch erträumt sich seinen Gott, sondern Gott erträumt sich seinen Menschen. Den Menschen, der, obwohl er voller Fehler, Schwächen und Versagen ist – so wie Jakob, so wie übrigens auch Martin Luther King – ein von Gott geführter, bewahrter und gesegneter Mensch ist. Den Menschen, der seinesgleichen als Gottes Kind und seinen Bruder achtet. Und weil es Gottes Traum ist, ist dieser Traum wirklicher als alle Wirklichkeit.
Manchmal träumen Menschen Gottes Traum. Und manchmal leben sie Gottes Traum vom Menschen. Und dann ist es, als ob eine Leiter, eine Verbindungstreppe zwischen Himmel und Erde da ist. Dann ist etwas vom Himmel auf der Erde angekommen.

Träume werden wahr, wenn sie in der Erde verwurzelt und vom Himmel inspiriert sind.
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