Sonntag, 31. August 2014

Predigt am 31. August 2014 (11. Sonntag nach Trinitatis)

Predigttext: 2. Samuel 12, 1-15a

Liebe Schwestern und Brüder,
Menschen erzählen sich Geschichten. Schon immer. Und immer wieder: Immer neue Geschichten. Und immer weiter: Die alten Geschichten.
Vielleicht ist es sogar genau das, was uns Menschen zu Menschen macht: Dass wir einander Geschichten erzählen.
Wir erzählen, was wir gestern erlebt haben.
Wir erzählen, was uns erzählt worden ist.
Wir erzählen unser Leben.
Und wir hören den Erzählungen zu.
Dem Witz oder der Anekdote, und wir lachen.
Der Geschichte vom Unglück oder Missgeschick eines anderen, und wir fühlen mit ihm.
Den kunstvollen Erzählungen und Romanen der Literatur, und wir folgen gespannt dem Geschick und den Taten ihrer Protagonisten.
Film und Theater erzählen uns Geschichten, und wir werden ein Teil von ihnen; wir lachen und weinen, als wäre die erzählte Geschichte ein Teil unseres eigenen Lebens.
Und wenn sie gut ist, wird sie das auch. Sie macht was mit uns (wie man so schön im Psycho-Jargon sagt).
Warum hören wir zu? Was bewegt uns an der erzählten Geschichte anderer Menschen, selbst wenn sie nur Fiktion ist? Was macht sie mit uns?
Wir haben die wunderbare Gabe der Einfühlung. Bewusst oder unbewusst, mehr oder weniger intensiv identifizieren wir uns mit den Personen der erzählten Welt. So werden wir selber Teil der Geschichte. Und die Geschichte wird ein Teil unseres Lebens.
*
Die Bibel erzählt uns viele Geschichten. Eine davon steht im heutigen Predigttext:
Es waren zwei Männer in einer Stadt, der eine reich, der andere arm. Der Reiche hatte sehr viele Schafe und Rinder; aber der Arme hatte nichts als ein einziges kleines Schäflein, das er gekauft hatte. Und er nährte es, dass es groß wurde bei ihm zugleich mit seinen Kindern. Es aß von seinem Bissen und trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß und er hielt’s wie eine Tochter. Als aber zu dem reichen Mann ein Gast kam, brachte er’s nicht über sich, von seinen Schafen und Rindern zu nehmen, um dem Gast etwas zuzurichten, der zu ihm gekommen war, sondern er nahm das Schaf des armen Mannes und richtete es dem Mann zu, der zu ihm gekommen war.
Auch wenn die altertümlich-ländliche Lebenswelt dieser beiden weit weg ist von uns: Etwas rührt uns doch an bei dieser kleinen Geschichte. Und es ist wohl klar, mit wem wir hier mitfühlen, mit welchem der beiden Männer wir uns eher identifizieren: dem Armen oder dem Reichen…
*
Diese kleine Geschichte ist Teil einer größeren Geschichte. In der Bibel wird uns davon erzählt, wie sie zum ersten Mal erzählt wurde
Und es wird uns erzählt, wie der reagiert hat, der sie als erster gehört hatte: nämlich zornig.
Der reiche Mann gehört bestraft! Er soll das Schaf des armen Mannes vierfach bezahlen! Ach, mehr noch: Wer sowas tut, der dürfte eigentlich gar nicht mehr leben!
Wahrscheinlich verstehen wir diese Reaktion sehr gut. Sie ist nahe bei dem, was wir empfinden.
*
Der Geschichtenerzähler sagt: Richtig, du kannst dich ruhig mit dem Mann in dieser Geschichte identifizieren! – Denn: Du bist der Mann!
Aber nicht der arme Mann, dem so bitter Unrecht getan wurde und sein einziges Schäfchen genommen. Du bist der andere, der Reiche, der Böse, der dem, der wenig hatte, auch noch das Letzte genommen hat.
*
Denn diese Geschichte ist Teil einer größeren Geschichte. In der Bibel wird sie uns erzählt:
König David trat am Abend nach einer ausgiebigen Siesta auf seine Dachterrasse und sein Blick fiel auf eine Frau – eine schöne Frau, eine nackte Frau, die sich gerade wusch. David ließ erkunden, wer denn die schöne Nachbarin wäre und erfuhr, das sei doch Batseba, die Tochter Eliams, die Frau Urias, des Hetiters, der gerade für König, Volk und Vaterland an der Front kämpfte. Und weil er es konnte – als König – ließ er Batseba zu sich kommen und schlief mit ihr.
Ein paar Wochen später schickte sie David eine Nachricht: Ich bin schwanger.
Von wem, wenn ihr Ehemann gerade im Felde war?
Also ließ David den Uria, ihren Ehemann, so schnell wie möglich auf Heimaturlaub kommen. Vorwand: Er sollte vom König selber empfangen und mit einer Tapferkeitsmedaille geehrt werden. Und dann sollte er nach Hause gehen, zu seiner Frau, dort übernachten und am übernächsten Tag zurückkehren an die Front. So könnte er am Ende doch noch als Vater erscheinen.
Doch der Plan scheiterte: Uria war so ein herzensguter Mensch, dass er sagte: Mein Feldherr muss im Zelt schlafen, meine Kameraden unter freiem Himmel – da kann ich doch nicht in mein festes Haus gehen und mit meiner Frau schlafen. Und er suchte sich einen Platz für die Nacht bei der Palastwache.
Also Plan B: Als Uria wieder an die Front zurückkehrte, hatte der König ihm eine versiegelte Botschaft an seinen obersten Vorgesetzten mitgegeben; darin stand sein eigenes Todesurteil. Er sollte sterben, und es sollte so aussehen, als wäre er zufällig im Gefecht gefallen…
Der Bote kehrte zu David zurück und berichtete, Uria sei im Kampf um die Stadt Rabba gefallen.
Man hielt die übliche Totenfeier, die Witwe Batseba trauerte eine angemessene Zeit; dann zog sie bei David ein, wurde seine Frau und brachte einen Sohn zur Welt.
*
Diese Geschichte ist Teil einer noch größeren Geschichte. Denn sie steht in der Bibel.
Und da heißt es: Dem HERRN missfiel die Tat, die David getan hatte.
Der HERR sieht nicht teilnahmslos zu, sondern er identifiziert sich, wird Teil der Geschichte. Und weil er der HERR ist, tritt er selbst ein in die Geschichte.
Selber noch verborgen in den Kulissen, schickte er den Propheten Nathan zu David, damit der ihm eine kleine Geschichte von einem reichen und einem armen Mann und von Schafen erzählte: Davids eigene Geschichte in anderen Worten, mit der er sich identifizieren konnte: Du bist der Mann!
Und Nathan sollte ihm auch gleich noch erzählen, wie seine Geschichte weitergehen würde: Mit Leid und Unheil als Strafe. Deine Frauen werden dir genommen werden; dein Sohn wird sterben.
Dafür steht Gott in den Kulissen, dass das Böse am Ende nicht siegt, sondern die Gerechtigkeit.
So gehen die Geschichten häufig aus, die Menschen einander erzählen: Die Bösen werden bestraft. Die Gerechtigkeit wird wiederhergestellt. Im Märchen, in Hollywood und auch in der Bibel.
*
In der Bibel nur etwas anders. Denn die Geschichte geht immer noch weiter:
Da sprach David zu Nathan: Ich habe gesündigt gegen den HERRN. Nathan sprach zu David: So hat auch der HERR deine Sünde weggenommen; du wirst nicht sterben.
David hat sich selber erkannt in der Geschichte. Er hat sich zu seiner Schuld bekannt. Und Gott hat ihm am Ende vergeben. Seine Geschichte geht weiter. Obwohl er selber – nach seinen eigenen Worten – den Tod verdient hatte.
*
Die Bibel erzählt uns viele Geschichten. Menschliche, allzumenschliche und göttliche. Geschichten, in die wir eintauchen können, mit deren Protagonisten wir uns identifizieren können im Guten wie im Bösen. Geschichten von David und Uria, von Kain und Abel, oder auch von Pharisäern und von Zöllnern. Und natürlich nicht nur Geschichten von Männern, sondern ebenso von Frauen: Frauen wie Thamar oder Ruth, wie Batseba oder Susanna, wie Maria oder Maria. Geschichten von Liebe und Leid. Und Schuld. Und Vergebung.
Die Bibel erzählt uns eine große Geschichte. Eine große Geschichte in vielen kleinen Geschichten. Die eine Geschichte von Gott und den Menschen, von Sünde und von Gnade, von Zorn und von Liebe, und davon, dass Gottes Gnade immer weiter reicht als unsere Sünde und dass seine Liebe immer größer ist als sein Zorn.
Warum? Warum diese Geschichte – von Gottes Liebe?
Weil Gott sich mit unserer Geschichte identifiziert, sich einfühlt und einlebt in unser Tun und Lassen, ja, auch in unser Leiden und in unsere Schuld, schließlich hineintritt in unsere Geschichte und mit uns liebt und leidet und stirbt und lebt.
Gott identifiziert sich mit uns und unserer Geschichte. Er macht unsere Geschichte zu seiner Geschichte. Und genau das ist seine große Geschichte, die wir erzählen. Immer wieder, immer weiter, bis auf den heutigen Tag.
Vielleicht ist es genau das, was uns Menschen zu Menschen macht: Dass wir einander Gottes Geschichte erzählen. In vielen kleinen Geschichten.

Sonntag, 24. August 2014

Predigt am 24. August 2014 (10. Sonntag nach Trinitatis)

Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis, nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet:
Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist;
und so wird ganz Israel gerettet werden,
wie geschrieben steht:
„Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.“
Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen;
aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen.
Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.
Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden, wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlange.
Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Unghorsam, damit er sich aller erbarme.
Römer 11, 25-32


Liebe Schwestern und Brüder,
All inclusive. – Viele, die als Urlauber hier sind, haben all inclusive gebucht – alles eingeschlossen. Essen und Trinken frei den ganzen Tag. Nichts mehr draufzahlen. Sich um nichts mehr kümmern. Ziemlich einfach, ziemlich gut.
All inclusive. – Das macht alle gleich. An der Hotelbar und am Pool gibt es keine Unterschiede. Was einer sonst im Leben tut oder darstellt, ist egal. All inclusive –  das heißt nicht nur: Alles eingeschlossen, sondern auch: Alle eingeschlossen.
Alle – außer denen, die nicht gebucht haben. Wer nur Halbpension hat, ist ausgeschlossen von der freien Getränkebar. Er zahlt drauf, extra – exklusiv.
Manche schließen sich auch bewusst selber aus. Sie wollen was Besseres sein als nur Null-acht-fünfzehn-all-inclusive-Gäste. Sie wollen den Unterschied: den besseren Service, die Distinktion, das Besondere: Nicht all inclusive, sondern all exclusive.
*
Wie ist das mit dem Himmelreich? Mit Gott? Mit dem ewigen Leben? – Ist das all inclusive oder all exclusive? Kommen alle rein? Sind sie alle gleich? Oder ist das Gottesreich ein exklusiver Klub?
*
Die Bibel erzählt uns die Geschichte von Gottes auserwähltem Volk. Gott liebt es, Gott bevorzugt es: Israel. Die Juden.
Auserwählt: Ein exklusiver Klub – bis heute. Du kannst nicht einfach beitreten, dazugehören. Entweder du bist als Jude geboren oder du hast es sehr, sehr schwer, einer zu werden.
Du kannst auch nicht einfach austreten, wenn du einer bist. Mancher fühlte sich schon lange als Deutscher und als Christ, damals in den 30-er Jahren, aber der Ahnenpass bewies es: Jude. Und dann gehörtest du eben doch zu den Auserwählten – nicht für den Himmel, sondern für die Hölle. Von Auschwitz. Oder Theresienstadt.
Und noch heute bist du einfach der Jude, wirst vielleicht wieder geschlagen und bespuckt – vorgeblich wegen der Politik eines Staates im Nahen Osten, aber im Grunde genommen doch nur weil du Jude bist, weil du zu Gottes auserwähltem Volk gehörst. Weil du was Besonderes bist und die anderen dich dafür hassen.
Exklusiv auserwählt zum Leiden, Hassobjekt der ganzen Welt seit biblischen Zeiten. Wie bitter!
*
Die Bibel erzählt uns auch die Anfänge der Geschichte der Christenheit. Ihre Botschaft war nicht exklusiv, sondern inklusiv.
Die Ausgeschlossenen sollen mit eingeschlossen sein. Die Kranken. Die Aussätzigen. Die Gottlosen. Die Sünder. Die Heiden.
Die sich schon immer exklusiv auserwählt wussten, taten sich schwer damit. Du kannst nicht einfach Gottes Volk beitreten – mit einer einfachen Taufe und einem Glaubensbekenntnis, sagten sie. Entweder du bist als Jude geboren und lebst als Jude oder du musst draußen bleiben. Ausgeschlossen – exkludiert.
Wer ist nun drin und wer ist draußen?
Ihr seid ausgeschlossen aus Gottes Volk, sagten die Juden zu den Christen.
Ihr schließt euch selber aus der Gemeinschaft mit Gott aus, sagten die Christen zu den Juden.
Und dann erlebten sie, wie Jerusalem einmal mehr zerstört und die Juden einmal mehr zerstreut wurden, und sie sagten: Da seht ihr es, das ist Gottes Strafe: Israel geht unter, denn das neue Gottesvolk, die wahren Auserwählten, das sind wir, wir Christen.
Schon der Apostel Paulus hatte sie verstockt genannt und geschrieben: Im Blick auf das Evangelium sind sie Feinde um euretwillen.
Und so hat man die verstockten Juden ausgeschlossen aus der Gemeinschaft des christlichen Abendlandes. Jahrhundertelang. Hat ihnen das Bürgerrecht und die meisten Berufe verwehrt, hat ihnen Gettos am Rande der Städte zugewiesen, hat sie immer wieder der Brunnenvergiftung und des Ritualmordes beschuldigt, hat von Zeit zu Zeit ihre Geschäfte und Synagogen angezündet, hat sie immer wieder bespuckt und geschlagen, vertrieben und getötet. Und selbst Luther hat auf seine alten Tage geschrieben, dass es Recht sei, so mit ihnen zu tun.
Dabei hatte der Apostel Paulus doch weiter geschrieben: Aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Gottes auserwähltes und geliebtes Volk – das blieben sie, auch wenn sie keine Christen wurden. Das hatten sie wohl überlesen oder nicht verstanden, die Christen, die sich berechtigt fühlten, Juden auszuschließen und zu verfolgen.
Dass wir, die Heidenvölker, mit eingeschlossen sind in Gottes Erwählung und Berufung, das heißt eben nicht, dass andere ausgeschlossen sind. Auch wir sind nichts weiter als von Gott geliebte Sünder.
Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. All inclusive.
*
Liebe Schwestern und  Brüder,
draußen vor dem Tor hängt der, den sie ausgeschlossenen haben. Man hat ihn herausgeführt aus der Stadt, aus der Gemeinschaft der Menschen. Man hat ihn geschlagen, bespuckt, gefoltert, gekreuzigt. Er hat denen nicht gepasst, die sich exklusiv für was Besseres hielten. Er hat den anderen nicht gepasst, die inklusiv alle gleich machen wollten in ihrem Imperium. So haben sie sich in die Hände gespielt – Juden und Heiden. So haben sie Gott ausgeschlossen aus ihrer Mitte. Und sich selber ausgeschlossen aus der Gemeinschaft mit Gott.
Aber Gott wollte sie alle eingeschließen in die Gemeinschaft mit ihm. Genau so.
Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.
Drinnen in unseren Kirchen hängt er am Kreuz. Haben wir ihn eingeschlossen in unsere Kirchen? Und damit ausgeschlossen von der Welt? Oder haben wir ihn eingeschlossen in unseren Glauben, in unsere Herzen? Sind wir bei ihm, der ausgeschlossen wurde, geschlagen, bespuckt, gefoltert und gekreuzigt ? Und bei denen, die noch heute ausgeschlossen werden, geschlagen, bespuckt, gefoltert und gekreuzigt? Oder sind wir bei denen, die selber immer noch ausschließen – sich selbst und andere –, die hassen, verfolgen, spucken und schlagen?
Gott hat alle eingeschlossen…, damit er sich aller erbarme.
*
Gottes Erbarmen ist allumfassend – all inclusive.
Das Himmelreich ist allumfassend: Alle sind eingeladen. Alle dürfen reinkommen. Die schon immer auserwählt waren und die Spätberufenen. Die Heiligen und die Sünder. Juden und Heiden.
Freilich – exklusive Suiten und Zimmer mit Meerblick gibt es da nicht bei Gott. Im Himmel ist einfach all inclusive. Für alle. Denn mehr als alles kann es nicht geben.

Sonntag, 3. August 2014

Predigt am 3. August 2014 (7. Sonntag nach Trinitatis)

Predigttext: aus 2. Mose (Exodus) 16

Liebe Schwestern und Brüder!
Wenn Freiheit krank macht. – So lautete die Überschrift über einem Zeitungsartikel vor ein paar Tagen. Darin ging es um US-amerikanische Kriegsveteranen, die nach der Rückkehr psychische Probleme bekommen. Nun, das ist ja eigentlich nicht neu. Man denkt an posttraumatische Belastungsstörungen nach schlimmen Kriegserlebnissen oder auch an die Entfremdung von der Familie durch die lange Abwesenheit. Jetzt wollen aber Forscher festgestellt haben, dass das eigentliche Problem für viele einfach die Freiheit ist. Bei der Army gibt’s klare Strukturen, Hierarchien, Abläufe, Verantwortlichkeiten. Die Soldaten wissen in jedem Moment, was zu tun ist; sie sind Teil eines großen Ganzen. Für persönliche Freiheiten und eigene Entscheidungen ist nicht viel Raum. Sogar, was sie anziehen sollen, bekommen sie vorgeschrieben. – Und dann werden sie entlassen – in die Freiheit. Und müssen wieder eigene Entscheidungen treffen, jeden Tag. Das geht mit dem Aufstehen am Morgen los und mit der Entscheidung vor dem Kleiderschrank weiter. Welchen Job sollen sie sich suchen, was sollen sie einkaufen für ihre Familien, wie die Freizeit gestalten? Keiner ist da, der ihnen sagt, wo es lang geht. Das macht sie verrückt. – Das haben sie mit entlassenen Strafgefangenen gemeinsam, oder mit Menschen, die einer autoritären Sekte entronnen sind. Zu viel Freiheit macht Angst, macht unsicher, macht krank.
Das haben sie auch mit Menschen gemeinsam, die jahrelang unter totalitären Regimes gelebt haben, wie wir Ossis. Mancher von uns fühlte sich und fühlt sich vielleicht immer noch überfordert von der Freiheit. Keine Grenzen mehr. Kein vom Staat garantierter Arbeitsplatz, kein von der Gewerkschaft vergebener Urlaubsplatz mehr. Keine Zucht und Ordnung mehr. Keine Partei mehr, die immer Recht hat. Das macht Angst, macht unsicher, macht krank.
Und es macht Sehnsucht nach alten Autoritäten. Früher war vielleicht nicht alles besser, aber man wusste, wo es lang geht.
Vielleicht ist es auch so eine krankhafte Angst vor der Freiheit, vielleicht sind es auch traumatische Erfahrungen mit der Freiheit, die viele Menschen heute in Russland zurück in die Arme eines autoritären Herrschers getrieben haben. Der zeigt jetzt auf das Nachbarland und sagt: Schaut nur, wohin zu viel Freiheit führt! Die Ukrainer haben die Lage nicht mehr im Griff.
Ich glaube nicht, dass diese Theorie so stimmt. Jedenfallst ist es nicht die Freiheit, die Menschen krank macht, sondern die Unfreiheit, die sie zuvor erfahren haben; die hat sie deformiert und verängstigt und unfähig gemacht, ihr Leben selber zu leben. – Freiheit ist anstrengend, aber krank macht sie nicht!

Die Bibel erzählt uns vom langen Weg des Volkes Israel in die Freiheit. Es beginnt mit einem großen Aufbruch; es geht weiter mit einem großen Wunder: die Feindesmacht kollabiert, die Ägypter versinken im Meer. Es wird gefeiert und gesungen und getanzt; denn jetzt sind sie frei – endlich: frei, frei, frei!
Doch dann beginnt der lange Weg durch die Wüste. Da merken sie: Sie sind zwar frei, aber Freiheit ist anstrengend. Das Gelobte Land, wo Milch und Honig fließt, wo die riesigen Weintrauben wachsen, wo vielleicht sogar – man weiß es nicht genau – die gebratenen Tauben durch die Luft fliegen, dieses Land, wo sie hinwollen, ist noch Lichtjahre entfernt.
Jetzt ist Wüste. Kampf ums nackte Überleben. Wunde Füße. Und die Sorge um das Lebensnotwendigste: um Essen und Trinken. Hier fliegen keine gebratenen Tauben umher. Hier fällt kein Brot vom Himmel. Hier stehen keine Fleischtöpfe bereit. Hier musst du jeden Tag sehen, was du findest, und in der Wüste ist das meist nicht viel. Und noch ganz viel Wüste liegt vor ihnen, die Reise in die Freiheit hat gerade erst begonnen.

Und da murrte die ganze Gemeinde der Israeliten wider Mose und Aaron in der Wüste. Und sie sprachen: „Wollte Gott, wir wären in Ägypten gestorben durch des HERRN Hand, als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot die Fülle zu essen. Denn ihr habt uns dazu herausgeführt in diese Wüste, dass ihr diese ganze Gemeinde an Hunger sterben lasst.“

Wenn Freiheit krank macht. – Vielleicht macht sie ja geisteskrank. Trübt die Wahrnehmung und die Erinnerung: Was für ein schönes Leben an den Fleischtöpfen Ägyptens! Die harte Sklavenarbeit ist vergessen. Die Peitschen der Aufseher. Die Angst um das Leben der eigenen Kinder. Alles vergessen.
Freiheit ist Wüste. Sie haben wunde Füße. Der Magen knurrt. Und schuld sind andere: Die Politiker, die Kirche! Mose und Aaron, die politischen und religiösen Führer! Und schon ist die Verschwörungstheorie fertig: Ihr habt uns nur deshalb in die Wüste geführt, um uns hier sterben zu lassen. Denn politische und religiöse Führer wollen ja auch immer nur das Schlimmste für ihr Volk. – Geisteskrank, wer so denkt!

Mose und Aaron sprachen zu ganz Israel: „Am Abend sollt ihr innewerden, dass euch der HERR aus Ägyptenland geführt hat, und am Morgen werdet ihr des HERRN Herrlichkeit sehen, denn er hat euer Murren wider den HERRN gehört. Was sind wir, dass ihr wider uns murrt?“ Weiter sprach Mose: „Der HERR wird euch am Abend Fleisch zu essen geben und am Morgen Brot die Fülle, weil der HERR euer Murren gehört hat, womit ihr wider ihn gemurrt habt. Denn was sind wir? Euer Murren ist nicht wider uns, sondern wider den HERRN.“

Ihr macht die Falschen verantwortlich! Beschwert euch nicht bei den Politikern, beschwert euch nicht bei den Kirchenführern, beschwert euch bei Gott! Wenn ihr schon murrt, dann murrt über Gott! Er hat euch in die Freiheit geführt. Er ist verantwortlich für euch: dass ihr in der Freiheit besteht und in der Wüste überlebt.
Und Gott lässt sich verantwortlich machen. Denn er ist verantwortlich für den Weg seines Volkes durch die Wüste, für den Weg seines Volkes in die Freiheit. Weil er verantwortlich ist, antwortet er.

Und der HERR sprach zu Mose: „Ich habe das Murren der Israeliten gehört. Sage ihnen: Gegen Abend sollt ihr Fleisch zu essen haben und am Morgen von Brot satt werden und sollt innewerden, dass ich, der HERR, euer Gott bin.“
Und am Abend kamen Wachteln herauf und bedeckten das Lager. Und am Morgen lag Tau rings um das Lager. Und als der Tau weg war, siehe, da lag’s in der Wüste rund und klein wie Reif auf der Erde. Und als es die Israeliten sahen, sprachen sie untereinander: „Man hu? – Was ist das?“ Denn sie wussten nicht, was es war. Mose aber sprach zu ihnen: „Es ist das Brot, das euch der HERR zu essen gegeben hat. Das ist’s aber, was der HERR geboten hat: Ein jeder sammle, soviel er zum Essen braucht, einen Krug voll für jeden nach der Zahl der Leute in seinem Zelte.“
Und das Haus Israel nannte es Manna. Und es war wie weißer Koriandersamen und hatte einen Geschmack wie Semmel mit Honig.

Gott antwortet mit einem Wunder: einem Fleisch-Wunder und einem Brot-Wunder.
Gebratene Tauben gibt’s keine. Nur Wachteln. Zugvögel, die sich vom Wind über das Mittelmeer treiben lassen und dann erschöpft in der Wüste zu Boden gehen. Die muss man nur noch aufsammeln und zubereiten. Aber es sind genug da für die Fleischtöpfe Israels. Und ihr Fleisch ist zart und lecker.
Brot vom Himmel gibt’s keins. Auch wenn es so aussieht, als wäre es vom Himmel gefallen. Es ist nur Manna. Ein Ausscheidungsprodukt der Schildläuse, die auf den Tamariskensträuchern leben. Nachts tropft es herab und kristallisiert: rund und klein wie Reif auf der Erde. Aufsammeln müssen sie es selber. Aber es schmeckt himmlisch: wie Semmel mit Honig.
Ein Fleisch-Wunder, ein Brot-Wunder! – Für manche gar kein Wunder, weil wir es aus der Natur erklären können. – Als ob es nur übernatürliche Wunder gäbe! Ist nicht gerade die Natur voller Wunder, weil sie dem großen Schöpfer gehorcht und seinen Geschöpfen dient?
Wo Menschen alles von Gott erwarten, können sie alles aus seiner Hand empfangen. Ein Vogelschwarm in der Wüste wird zur rettenden Speise. Ein Ausscheidungsprodukt von Läusen wird zum Honigkuchen. Und das gerade dann und dort, wo die Not am größten ist. – Was für ein Wunder!
Die frischen Wachteln stellen die dünne Fleischbrühe von Ägypten in den Schatten. Und das Honig-Manna schmeckt schon nach dem Gelobten Land, wo Milch und Honig fließen.
Die Freiheit beginnt wieder zu schmecken. Der Magen knurrt nicht mehr. Die wunden Füße dürfen sich erholen. Und die kranken Seelen werden langsam wieder gesund. Das ist Gottes Wunder.
Es ist das Wunder der Freiheit.
Nachdem sie Gott verantwortlich gemacht haben, machen sie sich auch selber verantwortlich:
Sie werden aktiv. Sie gehen los und sammeln Wachteln und Manna. Sie bereiten es zu. Sie organisieren die Verteilung, dass jeder genug bekommt. Sie tun, was in ihren Kräften steht. Und was nicht in ihren Kräften steht, überlassen sie Gott.
Und dann ziehen sie weiter: durch die Wüste, ins Gelobte Land, in die Freiheit. Angekommen sind sie noch lange nicht. Die nächste Krise kommt bestimmt. Aber für ein gesundes Frühstück ist auf absehbare Zeit gesorgt.