Sonntag, 30. September 2012

Predigt am 30. September 2012 (17. Sonntag nach Trinitatis)

Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merket auf! Der HERR hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. Und er sprach zu mir: "Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will."
Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz, wiewohl mein Recht bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott ist. Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde, – darum bin ich vor dem HERRN wert geachtet, und mein Gott ist meine Stärke –, er spricht: "Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde.
Jesaja 49, 1-6



Liebe Schwestern und Brüder,

Alles muss klein beginnen,
lass etwas Zeit verrinnen.
Es muss nur Kraft gewinnen,
und endlich ist es groß.

Es ist ja eine Binsenweisheit, die in diesem Kinderlied von Gerhard Schöne besungen wird: Aus dem winzigen Samenkorn wird mit der Zeit ein großer Baum. Die kleine Quelle wird zum großen Fluss. Leichte Schneeflocken setzen sich auf den Ast, bis durch eine kleine Flocke die Last so groß geworden ist, dass der Ast bricht. Und so ist es auch mit mir, singt Gerhard Schöne:

Manchmal denk ich traurig: Ich bin viel zu klein!
Kann ja doch nichts machen! Und dann fällt mir ein:
Erst einmal beginnen. Hab ich das geschafft,
nur nicht mutlos werden, dann wächst auch die Kraft.
Und dann seh ich staunend: Ich bin nicht allein.
Viele kleine Schwache stimmen mit mir ein:
Alles muss klein beginnen …

Wir merken: Wenn es um uns selber geht, ist es gar keine Binsenweisheit mehr. Dieses Ich bin viel zu klein! Kann ja doch nichts machen! ist nämlich in uns ziemlich stark. Es überfällt uns, nistet sich in unseren Gedanken und Gefühlen ein, macht uns nörgelig, unzufrieden und depressiv. Und wenn es erst zu unserem Glaubenssatz wird, dann ist es auch wahr. Dann können wir wirklich nichts machen. Dann sind wir tatsächlich viel zu klein. Dann werden wir unser Leben erleiden, werden vielleicht schimpfen und motzen über die Großen und Starken, die Erfolgreichen und Gesunden, die Politiker und die Banker... Irgendjemand ist immer schuld… Aber wir werden es nicht selber gestalten.

Ist das nicht eigentlich die Einstellung von kleinen Kindern? – Ich bin viel zu klein! Kann ja doch nichts machen! – Nicht die Einstellung von Erwachsenen, die ihr Leben selber in die Hand genommen haben.

Dabei ist selbst in Kindern, die so denken und empfinden, schon etwas kaputtgegangen. Denn eigentlich sagen Kinder: Ich bin noch zu klein. Aber bald bin ich groß. Und dann … kann ich, darf ich, werde ich … In Kindern ist der Drang groß zu werden noch lebendig. Statt zur Resignation, weil sie noch klein sind, neigen Kinder doch eher zur Selbstüberschätzung: Das kann ich schon selber! – Dabei müssen wir überbehütenden Großen ihnen das gar nicht sagen, was sie noch nicht können. Sie bekommen das meistens schon alleine raus.

Ja, die Kleinen wollen groß werden, wollen, was in ihnen steckt, entfalten, wollen wachsen.

Die Binsenweisheit, dass alles klein beginnt und wächst und sich entfaltet, ist so etwas wie ein Naturgesetz, zumindest ein Gesetz, das überall da gilt, wo Leben ist, ein Lebensgesetz. Und darum ein Gesetz Gottes. Wir stellen uns gegen Gottes Gesetz, wo wir das Wachstum und die Entfaltung des Lebens hindern oder unterbinden.

Am Rande bemerkt: Ich glaube schon deshalb, dass die Evolution des Lebens nicht im Gegensatz zu Gottes Schöpfung steht, weil Gott eben dieses Gesetz des Wachstums, der Entfaltung – und das Wort Entfaltung bedeutet ja nichts anderes als Entwicklung – des Lebens in seine Schöpfung hineingelegt hat: Die Erde lasse wachsen… Seid fruchtbar und mehret euch…

Alles muss klein beginnen – alles muss wachsen, sich entfalten, groß werden. Veränderung, Entwicklung, Wachstum, Fortschritt sind der Schöpfung eingeschrieben. Ich sage mal ganz provokativ: Die seit drei, vier Jahrzehnten zur Selbstverständlichkeit gewordene Kritik an Wachstum und Fortschritt, die ist zutiefst unbiblisch und unchristlich.

Veränderung, Entwicklung, Wachstum und Fortschritt sind auch uns Menschen eingeschrieben. Wenn ich aufhöre, mich zu entwickeln, Neues zu entdecken, zu lernen, auszuprobieren, dann, glaube ich, beginne ich zu sterben. Aber noch will ich leben.


Vor gut 2500 Jahren lebte in der Weltmetropole Babylon eine kleine ethnische und religiöse Minderheit, dorthin deportiert aus einem Kleinstaat, der der Großmacht Babylon zum Opfer gefallen war: Juda hieß dieser Staat. Und darum nannte man die Angehörigen dieser Minderheit in Babylon auch die Juden. Sie selbst nannten sich nach einem legendären Stammvater Israel (der Stammvater ist auch unter dem Namen Jakob bekannt). Mit der Eroberung ihres Heimatlandes, mit der Zerstörung des Heiligtums ihres Gottes, mit der Deportation ins Feindesland schien ihr Untergang besiegelt zu sein. Innerhalb von zwei, drei Generationen würden sie sich ihrer neuen Umwelt assimiliert haben, würden einfach Babylonier geworden sein – so ist es anderen Völkerschaften auch ergangen.

Aber dann geschah etwas ganz Anderes. Aus dem Untergang wurde ein neuer Anfang. Das Exil in Babylon wurde zum Samenkorn für etwas Großes und Neues. Und es hat begonnen mit vielen kleinen Schwachen.

Da gründen einige ein Lehrhaus, wo sie das Wissen über ihren Glauben und über Gottes Gesetze weitergeben. Sie sollen nicht verlorengehen, hier in der Fremde. Denn gerade hier geben sie Halt, Orientierung und Kraft. Später hat es solche Lehrhäuser, solche Synagogen überall gegeben, wo Juden in der Welt gelebt haben; das ist bis heute so. Klein begonnen hat es damals in Babylon.

Was sollte man dort lehren und weitergeben? – Die Angehörigen der alten Priestergeschlechter aus Jerusalem sichten ihre Schriften und Aufzeichnungen, so weit sie diese noch zur Verfügung haben; vor allem aber sichten und ordnen sie ihre Erinnerungen und die mündlichen Überlieferungen der Gesetze und Chroniken, der Sagen und Legenden, die zurückreichen bis ins alte Ägypten und ins nördliche Zweistromland, als es noch nicht von den Babyloniern beherrscht wurde. Und sie schreiben alles auf – als Lehrmaterial für die Synagoge, die Schule des Glaubens. Aus diesen Aufzeichnungen ist ein großer Teil der hebräischen Bibel, unseres Alten Testaments entstanden. Es hat klein begonnen, und es ist ein Buch daraus geworden, das nun seit über zwei Jahrtausenden die Weltgeschichte und den Glauben von Millionen und Milliarden von Menschen geprägt hat.

In Babylon lebte zu dieser Zeit auch einer, der Gottes Wort hören konnte, so wie Gott es ihm eingab: ein Prophet. So wie Gott in der alten Heimat durch Propheten zu seinem Volk geredet hatte, so tat er es hier in der Fremde auch. Gott war nicht nur der Gott des Landes Israel, er war der Herr und Schöpfer der ganzen Welt. Er lenkte nicht nur die Geschicke seines Volkes Israel, sondern die Geschicke aller Völker… Darüber staunte er, darüber staunten sie, mit denen er dort lebte und sprach…

Dieser Prophet, dessen Namen wir nicht kennen, aber dessen Worte uns im zweiten Teil des Jesajabuches (Jesaja 40 – 55) überliefert sind, dieser Prophet kündigt Unerhörtes an: Es wird eine politische Wende geben. Es wird eine Rückkehr und einen Neuanfang geben für Gottes Volk in der alten Heimat. Er sieht die kleinen Anfänge und hört Gottes Wort, das Großes verspricht: Aus dem kleinen Häuflein der Vertriebenen und der Zurückgelassenen schafft Gott einen neuen Anfang. Es wird Neues wachsen. Es beginnt eine Geschichte, die bis an die Enden der Erde und bis ans Ende der Welt reichen wird. Und: es wird eine Geschichte sein unter der Überschrift: Licht und Heil.

Der Prophet mag es selber nicht glauben. Er hält sich selber für viel zu klein für so eine große Botschaft. Aber es ist Gottes große Botschaft, und das macht auch ihn groß. Er wächst über sich hinaus und sagt das schier Unsagbare in Worten, die nicht vergessen sind und die bis heute wirken. Worte, die wie Pfeile durch die Jahrhunderte und Jahrtausende schwirren und noch heute und hier – hier auf diesen Inseln am Rande der Welt – hier treffen und wirken:

Alles muss klein beginnen. Traue den kleinen Anfängen! Traue dem Wort, das dich im Herzen trifft, folge ihm! Und tu die kleinen Schritte, die du tun kannst und sollst, dort wo du bist! Resigniere nicht! Sag nicht: Ich bin zu klein! Alles muss klein beginnen. Aber es muss eben beginnen, und vielleicht bist gerade du es, der den Anfang machen soll, damit es einmal groß sein kann.



Vor knapp 2000 Jahren lebte einer, der sprach gerne von den kleinen Anfängen. Vom Senfkorn, das man in die Erde legt und das wachsen muss, damit es eine große, Schatten spendende Pflanze wird. Einer der sich selber mit einem Weizenkorn verglich, das in die Erde gelegt wird und stirbt, und gerade da beginnt zu wachsen und zu wirken und Frucht zu bringen.

Alles muss klein beginnen: Ein einzelner in einer damals abgelegenen Weltgegend, zwölf Freunde, ein paar weibliche Fans. Von der Mehrheit abgelehnt, schließlich verraten, verurteilt, hingerichtet. – Heute hat er über zwei Milliarden Nachfolger.

Oder, wie es jemand auf Twitter im Twitter-Jargon ausdrückte: "Jesus hatte nur 12 Follower. Aber die haben dafür seine Message retweetet wie Sau."

Ja, sie haben weiter gemacht, wo Jesus aufgehört hat. Sie haben selber klein angefangen: die Botschaft von Jesus weitergesagt und so gelebt, wie er es gesagt hatte. Es hat klein begonnen. Aber es ist eine große Sache draus geworden.

Ein Freund sagte vor ein paar Tagen in einem Telefongespräch: "Die Kirche wird auch immer kleiner." – "Ach", sagte ich, "wieso denn das?" – Weil da ein paar Kirchgemeinden in Deutschland schrumpfen, wird doch die Kirche nicht kleiner!

Vielleicht hat es ja auch mit dieser resignativen Haltung zu tun – wir werden immer weniger; die Strukturen werden immer dünner; die Gemeinden immer kleiner –, dass wir tatsächlich so wenig Wachstum erleben; wir erwarten es nicht mehr, dass was Kleines beginnt und größer wird. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass wir selber lieber an die Grenzen des Wachstums glauben und daran, dass alles immer schlechter wird. Und vermutlich liegt es auch daran, dass wir uns für unseren kleinen Glauben eher schämen, als dass wir ihn groß machen wollen, ihn leben, ausbreiten und verkünden, oder eben: "die Message retweeten wie Sau".

Aber ich glaube, dass der Herr auch zu uns spricht, uns dieses große Wort sagt, das er damals dem kleinen Propheten gesagt hat: Ich habe dich zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde. – Jesus hat es seinen Leuten ja auch so gesagt: Ihr seid das Licht der Welt! Und: Geht hin in alle Welt und macht alle Menschen zu meinen Nachfolgern!

Zu große Worte für uns kleine Leute? – Nein, alles muss klein beginnen. Und wir können es ja auch tun, was uns aufgetragen ist. Und wir tun es auch: Wir glauben, hoffen, lieben; kommen her, laden ein, machen mit.
Und was klein beginnt, wächst, und was wächst, wird groß – und es ist das Reich Gottes.

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Sonntag, dem 30. September 2012

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

vielleicht haben Sie diesen Kupferstich von Albrecht Dürer einmal gesehen: ein alter Mann mit Bart und Glatze sitzt am Tisch und ist konzentriert beim Schreiben. Seitlich vor ihm ein Kruzifix, links am Butzenfenster ein Totenschädel. Im Vordergrund schlafen ein Hund und ein Löwe. Über dem Alten an der Wand hängt ein großer Hut und ein Lichtkranz um seinen Kopf weist ihn als Heiligen aus. – Das ist die vielleicht bekannteste Darstellung des Heiligen Hieronymus, dessen Gedenktag und Todestag die Kirche am 30. September begeht.


Hieronymus ist einer der ganz großen Kirchenväter des 4. und 5. Jahrhunderts. Im Jahre 420 ist er gestorben im für damalige Zeiten guten Alter von 73 Jahren.


Hieronymus muss ein ausgesprochen umtriebiger und fleißiger Mann gewesen sein. In Dalmatien geboren, in Rom und Konstantinopel studiert, war er später in Rom und im Heiligen Land tätig, war Sekretär des Bischofs von Rom, weshalb man ihn später immer mit Kardinalshut darstellte, und Gründer von mehreren Klöstern.


Sein größtes Verdienst aber war seine Übersetzung der ganzen Bibel in lateinische Sprache, die seither die maßgebliche Übersetzung im christlichen Abendland war, auch bekannt unter dem Namen Vulgata. Dabei ging Hieronymus ausgesprochen umsichtig und sorgfältig vor. Er zog, soweit sie ihm zugänglich waren, ältere Handschriften und Übersetzungen hinzu und verglich sie miteinander. Er lehnte sich aber auch an die schon bekannten Übersetzungen an und versuchte sprachlich einen Mittelweg zwischen dem klassischen Latein und der inzwischen gesprochenen Volkssprache zu gehen. Eine vergleichbare Übersetzungsleistung hat es bis zu Martin Luther nicht wieder gegeben. Mehr noch als Luther die deutsche Sprache und die deutsche Glaubenssprache für ein paar Jahrhunderte geprägt hat, hat Hieronymus die lateinische Sprache und insbesondere die lateinische Kirchensprache für mindestens eineinhalb Jahrtausende geprägt. Er gehört damit zu den ganz Großen, die dazu beigetragen haben, dass der Glaube aus alter Zeit bis zu uns weiter getragen werden konnte.


Anders als damals stehen uns heute viele verschiedene Bibelübersetzungen zur Verfügung. Heute ist Sonntag, vielleicht ein guter Tag, um mal wieder eine davon in die Hand zu nehmen.

Samstag, 29. September 2012

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Samstag, dem 29. September 2012

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

der 29. September ist in manchen Landstrichen noch als Michaelistag bekannt: Gedenktag des Erzengels Michael und aller Engel.


Eigentlich wissen wir nicht so richtig viel über den Erzengel Michael und die anderen Engel. Die Auskünfte in der Bibel sind spärlich. Nur selten werden uns Engel überhaupt namentlich vorgestellt. Gabriel kennen wir noch, dessen wichtigster Job es war, der Jungfrau Maria ihre Schwangerschaft und die kommende Geburt Jesu anzukündigen.


Michael taucht erst in den ganz späten Schriften des Alten Testaments auf, in den apokalyptischen Visionen Daniels und dann wieder in den apokalyptischen Visionen des Sehers Johannes am Ende des Neuen Testaments. Darin wird davon erzählt, wie Michael und die Engel Gottes gegen den als Drachen vorgestellten Satan und seine Engel kämpfen und siegen und ihn aus dem Himmel hinauswerfen.


Der Erzengel Michael ist gewissermaßen der himmlische Vorkämpfer für die unantastbare Ehre und Einzigkeit Gottes: Wer ist wie Gott? – das ist die Bedeutung seines hebräischen Namens.


Nein, eigentlich wissen wir nicht so richtig viel über ihn und die anderen Engel. Das hat die Menschen nicht gehindert, im Gegenteil, hat sie darin beflügelt, um so mehr Vorstellungen und Fantasien über die Engelwelt zu entwickeln. Inzwischen sind Engel so populär, dass sich manches, was über Engel so erzählt wird, völlig vom Glauben an Gott abgelöst hat.


Aber so viel ist sicher: Engel sind Boten Gottes, Beauftragte Gottes, Kämpfer für Gott. Und auch wo wir auf Schutz und Begleitung durch Engel hoffen, heißt es: ER – Gott der HERR – hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten … (Psalm 91, 11)


Vielleicht denken wir auch daran, dass wir durch Gottes Engel vor allem davor behütet werden, wovor wir uns selber nicht schützen können: vor den gottfeindlichen Mächten, die es auf unser Leben und unser Seelenheil abgesehen haben.


Luthers Morgen- und Abendsegen, den viele täglich sprechen, endet mit den Worten: Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde.


Das ist der wichtigste Auftrag, den Gottes Engel in unserem Leben haben: dass das Böse, bzw. der Böse, nicht die Oberhand gewinnt in unserem Leben, sondern dass wir bei Gott bleiben.

Freitag, 28. September 2012

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Freitag, dem 28. September 2012

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

im Jahre 1820 begegneten sich in Göttingen zwei werdende Dichter. Der Name eines der beiden wird jedem von Ihnen bekannt sein: Heinrich Heine; für wenige Semester studierte er damals in Göttingen. Der Name des anderen wird Ihnen vielleicht begegnet sein, wenn Sie mit dem Evangelischen Gesangbuch und christlichem Liedgut vertraut sein sollten: Philipp Spitta.


Die Unterschiede des Charakters und der Lebensweise der beiden konnten nicht viel größer sein: Heine ein abenteuerlustiger, immer spöttischer, aber auch streitbarer junger Mann, Student der Rechtswissenschaften, der wenig Lust zum Studieren hatte. Spitta ein ruhiger, freundlicher und bescheidener Beobachter seiner Umgebung und seiner Seele, fleißiger Theologiestudent. Und doch kannten sich beide und waren für einige Zeit freundschaftlich miteinander verbunden – bis zum großen Krach vier Jahre später.

Was beide verband war die Liebe zur Sprache und die Begeisterung für die Dichtkunst. Was beide letztlich trennte, war der Glaube an Gott und, man muss wohl sagen: die Liebe zu den Menschen. Während Heine mit spitzer Feder alles ironisierte und jeden verspottete, wandte sich Spitta immer bewusster seinem Gott und den ihm als Seelsorger anvertrauten Menschen zu.

Davon zeugen bis heute seine Lieder, die in größerer Zahl auch ihren Platz in unseren Gesangbüchern gefunden haben: Bei dir, Jesu, will ich bleiben; Es kennt der Herr die Seinen; O komm, du Geist der Wahrheit und noch ein paar mehr. Man merkt diesen Liedern den Stil der Zeit an, gewiss. Man findet perfektes Versmaß, schöne Reime und gekonnte Formulierungen. Man spürt aber vor allem das echte Gottvertrauen, das sich hier ausspricht. Anders als bei Heine ist man nie unsicher, wie ein Wort gemeint ist, und von Ironie und Spott kann natürlich keine Rede sein:


Ich steh in meines Herren Hand / und will drin stehen bleiben; nicht Erdennot, nicht Erdentand soll mich daraus vertreiben. / Und wenn zerfällt / die ganze Welt, / wer sich an ihn und wen er hält, / wird wohlbehalten bleiben.


So dichtet er, so glaubt er, so lebt er.


Sicher ist Heinrich Heine bekannter als Philipp Spitta. Sicher aber auch haben unzählig viel mehr Menschen die Verse von Spitta gesungen, gebetet und auswendig gewusst.

Philipp Spitta ist am 28. September 1859 in Burgdorf gestorben.

Donnerstag, 27. September 2012

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Donnerstag, dem 27. September 2012

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

Evangelisch ist nicht gleich Evangelisch. Das merken wir in unseren bunt gemischten Kirchengemeinden, wo es für die einen befremdend ist, wenn der Pfarrer beim Abendmahl und beim Segen ein Kreuz schlägt – das ist ja katholisch! – und für die anderen befremdlich wäre, wenn er es nicht täte – sind Segen oder Abendmahl dann überhaupt wirksam? Die einen denken beim 6. Gebot an Ehebruch, die anderen an Mord und Totschlag. Die einen sprechen vom Altar in der Kirche, die anderen vom Abendmahlstisch.


Diese Unterschiede hängen mit der Geschichte der Reformation im 16. Jahrhundert zusammen. In Mittel- und Norddeutschland war die Reformation maßgeblich durch Martin Luther bestimmt, und die Evangelischen hießen deshalb auch Lutheraner (obwohl Luther nie wollte, dass eine Kirche nach ihm benannt wird; wir sind ja Kirche Jesu Christi, also Christen). Im Süden und in der Schweiz, später dann auch in Frankreich und den Niederlanden war die Reformation durch Zwingli und dann auch durch Calvin bestimmt, und die Evangelischen hießen einfach Reformierte. Schon beizeiten waren sie sich über einige Fragen uneinig, z. B. bildliche Darstellungen in den Kirchen, über die Zählung der Zehn Gebote, vor allem aber über das richtige Verständnis des Heiligen Abendmahls. Es warenn zwei sehr verschiedene evangelische Kirchen entstanden, die sich auch jahrhundertelang uneins waren.


In Preußen gab es dreihundert Jahre später die besondere Situation, dass beide Konfessionen nebeneinander existierten, während die Unterschiede von vielen als nicht mehr so gravierend empfunden wurden.


Am 27. September 1817 verfügte der preußische König Friedrich Wilhelm III. die Vereinigung der lutherischen und reformierten Gemeinden zu einer gemeinsamen unierten Kirche. Es hat dann immer noch über 150 Jahre gedauert, bis wir Lutheraner und Reformierte in ganz Deutschland die volle Kirchengemeinschaft, auch am Tisch des Herrn haben konnten. Die preußische Kirchenunion von 1817 war gewiss ein Schritt hin zur Einheit der Christen.


Friedrich Wilhelm III. schrieb damals: “Möchte der verheißene Zeitpunkt nicht mehr fern sein, wo unter einem gemeinschaftlichen Hirten, alles in einem Glauben, in einer Liebe und in einer Hoffnung sich zu einer Herde bilden wird!”

Mittwoch, 26. September 2012

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Mittwoch, dem 26. September 2012

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

was finden die meisten Leute gut an der Kirche? – Genau, dass es Weihnachten ein Krippenspiel gibt, und dass sie sich um Alte, Kranke und Behinderte kümmert. Letzteres nennen wir heute Diakonie. Vor einigen Jahrzehnten noch hieß das auch Innere Mission, bei uns zu Hause in Sachsen noch bis kurz nach der Wende.


Der Ausdruck Innere Mission wurde im Gegensatz zur so genannten Äußeren Mission gebildet. Während die Äußere Mission sich um die Menschen in fernen Ländern und Erdteilen kümmerte, sollte die Innere Mission sich der Menschen im eigenen Land, in der eigenen Umgebung, in der eigenen Gemeinde annehmen.


Innere Mission war zuerst einfach ein Sammelbegriff für zahlreiche Aktivitäten an unterschiedlichen Orten Deutschlands, wo engagierte Christen sich um Straßenkinder und verwahrloste Jugendliche kümmerten und so genannte Rettungshäuser gründeten – am bekanntesten vielleicht das Rauhe Haus in Hamburg –, wo Krankenpflegevereine gegründet wurden und unverheiratete Frauen sich in Diakonissenanstalten zusammenfanden, wo sie einerseits anderen helfen konnten, andererseits sinnvolle Berufsarbeit für sich fanden. Namen wie Johann Hinrich Wichern oder Theodor Fliedner stehen für diese Aktivitäten.

Inmitten unruhiger Zeiten, im September 1848, rief Wichern mit einer berühmt gewordenen Stegreifrede auf dem Kirchentag in Wittenberg dazu auf, die tätige Liebe zum Hauptmerkmal der christlichen Kirche zu machen. Wenige Monate später bildete sich mit dem Centralausschuß für die Innere Mission erstmals so etwas wie ein Dachverband der Diakonie.

Eines war den Vätern und Müttern der Diakonie und der Inneren Mission immer wichtig, etwas, das heute in der professionalisierten Diakonie unter den Tisch zu fallen droht: Es geht um die rettende Liebe Jesu. Es geht um Hilfe für Leib und Seele. Es geht auch um Mission – darum ja Innere Mission –, also es geht um die Einladung zum Glauben. Denn wirklich helfen in der Not, so war man überzeugt, konnte nur der Heiland Jesus Christus.


Handeln aus christlicher Liebe und Einladen zum christlichen Glauben – das gehört zusammen.

Dienstag, 25. September 2012

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Dienstag, dem 25. September 2012

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

heute möchte ich an ein Ereignis erinnern, das mit der Trennungsgeschichte von evangelischem und katholischem Christentum im 16. Jahrhundert zu tun hat: an den Augsburger Religionfrieden von 1555.


Der Ausdruck Religionsfriede erinnert daran, dass es zuvor Krieg gegeben hatte: Krieg zwischen evangelischen Teilen des Heiligen Römischen Reichen und katholischen Teilen unter der Führung des Kaisers, wobei es damals genau genommen mit Evangelisch und Katholisch gar nicht so einfach war, denn der Kaiser und viele andere Beteiligte an diesen Kriegen verfolgten ganz andere, eigene Interessen. 1555 war der Punkt erreicht, wo kein absoluter Sieg der einen oder anderen Seite mehr möglich erschien; und so kam man zum Reichstag in Augsburg zusammen, um die Regeln für ein künftig friedliches Miteinander festzulegen.


Die wichtigste Friedensregel war damals: Alles bleibt so, wie es ist. Gebiete die evangelisch geworden sind, werden nicht mit Gewalt zum alten Glauben gezwungen, und die katholischen Altgläubigen können auch nicht mit Gewalt zum neuen Glauben gezwungen werden. Cuius regio, eius religio hatte man das später vereinfacht zusammengefasst: Der jeweilige Landesherr bestimmte, welches Glaubensbekenntnis in seinem Territorium zu gelten hatte. Wer dem nicht folgen wollte oder konnte, sollte die Möglichkeit bekommen, in das Gebiet des jeweils anderen Glaubensbekenntnisses auszuwandern.


Diese Regelung aus dem 16. Jahrhundert prägt bis heute die kirchliche Landkarte Deutschlands mit ihren jeweils katholisch oder evangelisch geprägten Gebieten.


Der Augsburger Religionsfriede war ein erster wichtiger Schritt hin zur Religionsfreiheit, die für uns heute selbstverständlich ist. Freilich konnte von individueller, persönlicher Glaubens- und Gewissensfreiheit noch keine Rede sein. Aber zumindest hatte sich die Einsicht durchgesetzt, dass man Glaubensfragen sinnvollerweise nicht mit Krieg und Gewalt lösen kann.


Religionskriege dürfte es aus christlicher Sicht gar nicht geben.
Religionsfriede sollte eine Selbstverständlichkeit sein.

Montag, 24. September 2012

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Montag, dem 24. September 2012

Guten Morgen, liebe Hörerinnnen und Hörer,

jeder Tag im Kalender ist ein besonderer Tag. Jedes Datum ist mit Erinnerungen an Menschen und Ereignisse verbunden. So hat jeder von uns seinen Geburtstagskalender, mit Hilfe dessen wir uns an Menschen erinnern, die uns so wichtig sind, dass wir ihnen wenigstens einmal im Jahr Gutes wünschen wollen. Die katholische Kirche hat seit alten Zeiten einen Heiligenkalender, in dem die Todestage mehr oder weniger bedeutender Menschen verzeichnet sind, derer man zumindest einmal im Jahr gedenken sollte. In der evangelischen Kirche gibt es auch so etwas Ähnliches, auch wenn es kaum bekannt ist; wir haben es ja bekanntlich nicht so sehr mit den Heiligen. Aber wenn ich in meinen Pfarrerkalender schaue, dann werde ich doch jeden Tag an wichtige und interessante Menschen und Ereignisse erinnert, und das möchte ich diese Woche auch hier an dieser Stelle machen: an Ereignisse und Menschen, ja einmal sogar an einen Engel, erinnern, die in dieser Woche ihre Gedenktage haben.


Heute zum Beispiel steht ein etwas seltsamer Name in meinem Kalender: Hermann der Lahme. Dazu eine Jahreszahl: 1054. Am 24. September 1054 ist er im Alter von 41 Jahren gestorben. Sein Beiname der Lahme gibt zu erkennen, dass er behindert war, nämlich spastisch gelähmt, so dass er zeit Lebens nicht gehen konnte und auch nur schwer verständlich sprechen konnte. Trotzdem war er einer der bedeutensten Gelehrten seiner Zeit. In einer Zeit, in der Gelehrsamkeit überhaupt erst wieder zählte – denn damals, im 11. Jahrhundert wurde aus dem “finsteren” Mittelalter, das gebildete Mittelalter –, da beschäftigte er sich mit Astronomie und Mathematik und brachte das von den Arabern überlieferte Wissen der Antike ins christliche Abendland zurück. Er schrieb auch eine bedeutende Chronik seiner Zeit. Und darüber hinaus war er Musikwissenschaftler, Komponist und Dichter von frommen Lobgesängen.


Hermann, Sohn eines oberschwäbischen Grafengeschlechts, lebte von Kindheit an im Kloster Reichenau, weshalb er auch unter dem Namen Hermann von Reichenau bekannt ist. Mit seiner Behinderung hätte er sonst kaum eine Chance gehabt. Aber gerade die Versorgung, die Sicherheit und, ja, die geistige Freiheit, die ihm das christliche Kloster zu dieser Zeit bieten konnte, hat ihn zu dem gemacht, der er geworden ist: ein Mensch, der trotz der Grenzen seiner körperlichen Möglichkeiten die geistigen Möglichkeiten entfalten konnte, die in ihm steckten, ein Mensch, der die Wissenschaftsgeschichte mitgeschrieben hat, ein Mensch, der Gott mit seiner Musik gelobt hat, ein Mensch, der noch heute in unseren Kalendern steht. Ein Mensch, an dessen Lebensmut und Gottvertrauen wir uns ein Beispiel nehmen können.

Sonntag, 23. September 2012

Predigt am 23. September (16. Sonntag nach Trinitatis)

Überarbeitete Fassung einer Predigt vom 1. Oktober 2006

Liebe Schwestern und Brüder,

wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden (Psalm 126, 1; Eingangspsalm). Das sind die bewegenden Worte der Hoffnung, formuliert als die Israeliten als Verbannte und Gefangene an den Flüssen Babylons saßen. Worte, wie sie wieder aufgeklungen sind, als Schwarze Sklavenarbeit auf den Baumwollplantagen der amerikanischen Südstaaten verrichten mussten und daraus Lieder geworden sind, Spirituals, in denen sich die Sehnsucht nach Befreiung aus dem Sklavendasein mit der Sehnsucht nach dem ewigen Leben bei Gott verbindet. Worte, die immer wieder Resonanz gefunden haben, wo Menschen Gefangenschaft, Sklaverei und Unterdrückung erfahren, äußerer oder innerer Art.

Immer ist da auch der Traum von der Befreiung, von der Erlösung. Wie gut, dass uns die Bibel Worte überliefert, die diesen Traum formulieren helfen! Und wie gut, dass uns die Bibel erzählt, wie der Traum von Freiheit und Erlösung immer wieder wahr geworden ist!

Die Geschichte der gefangenen Israeliten in Babylon ist so eine Befreiungsgeschichte.

Die Geschichte der amerikanischen Negersklaven ist auch so eine Befreiungsgeschichte. Gerade gestern vor 150 Jahren erklärte Präsident Lincoln die Sklaven für frei.

Die Geschichte, aus dem Neuen Testament, die heute für uns Predigttext ist, ist auch eine Befreiungsgeschichte – und eine echt traumhafte Geschichte!

Sie steht in der Apostelgeschichte, Kapitel 12.

Um diese Zeit legte der König Herodes Hand an einige von der Gemeinde, sie zu misshandeln. Er tötete aber Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert.
Und als er sah, dass es den Juden gefiel, fuhr er fort und nahm auch Petrus gefangen. Es waren aber eben die Tage der Ungesäuerten Brote. Als er ihn nun ergriffen hatte, warf er ihn ins Gefängnis und überantwortete ihn vier Wachen von je vier Soldaten, ihn zu bewachen. Denn er gedachte, ihn nach dem Fest vor das Volk zu stellen. So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott.
Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis. Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach: „Steh schnell auf!“ Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen. Und der Engel sprach zu ihm: „Wirf deinen Mantel um und folge mir!“
Und er ging hinaus folgte ihm und wusste nicht, dass ihm das wahrhaftig geschehe durch den Engel, sondern meinte, eine Erscheinung zu sehen. Sie gingen aber durch die erste und zweite Wache und kamen zu dem eisernen Tor, das zur Stadt führt; das tat sich ihnen von selber auf. Und sie traten hinaus und gingen eine Straße weit, und alsbald verließ ihn der Engel. Und als Petrus zu sich gekommen war, sprach er: „Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel gesandt und mich aus der Hand des Herodes errettet hat und von allem, was das jüdische Volk erwartete.
Und als er sich besonnen hatte, ging er zum Haus Marias, der Mutter des Johannes mit dem Beinamen Markus, wo viele beieinander waren und beteten. Als er aber an das Hoftor klopfte, kam eine Magd mit Namen Rhode, um zu hören, wer da wäre. Und als sie die Stimme des Petrus erkannte, tat sie vor Freude das Tor nicht auf, lief hinein und verkündete, Petrus stünde vor dem Tor. Sie aber sprachen zu ihr: „Du bist von Sinnen.“ Doch sie bestand darauf, es wäre so. Da sprachen sie: „Es ist sein Engel.“ Petrus aber klopfte weiter an. Als sie nun aufmachten, sahen sie ihn und entsetzten sich. Er aber winkte ihnen mit der Hand, dass sie schweigen sollten und erzählte ihnen, wie ihn der Herr aus dem Gefängnis geführt hatte, und sprach: „Verkündet dies dem Jakobus und den Brüdern.“ Dann ging er hinaus und zog an einen andern Ort.
Apostelgeschichte 12, 1-17

Ja, da wird der Traum von Befreiung und Erlösung aus der Gefangenschaft wortwörtlich wahr. Lukas erzählt uns diese Befreiungsgeschichte mit viel Humor. Für Petrus ist das alles so traumhaft, dass er es selber nicht glauben mag, was ihm da geschieht. Er glaubt, er träume nur einen schönen Traum. Eben noch im Hochsicherheitstrakt des Jerusalemer Gefängnisses, findet er sich auf der nächtlichen Straße wieder – in Freiheit. Und erst da merkt er, dass der Traum von der Befreiung kein Traum war, sondern wunderbare Wirklichkeit. Gott hat eingegriffen, seinen Engel gesandt, und ihn befreit.

Wenig später steht er vor dem Haus der Maria, wo die Hausgemeinde, vielleicht der Leitungskreis der Gemeinde, Gebetsgemeinschaft hält. Worum beten die eigentlich? Doch wohl darum, dass Petrus wieder frei kommt. Aber als dann die Magd hereingestürzt kommt mit der Botschaft: „Petrus steht vor der Tür“, da glauben sie es nicht.

Tröstlich, dass es nicht nur uns so geht, dass wir beten und gar nicht wirklich darauf vertrauen, dass unsere Gebete erhört werden. – Mir fällt da diese Anekdote ein von einer Gemeinde im mittleren Westen der USA; die ist angesichts einer lang anhaltenden Dürre zusammengekommen, um für Regen zu beten. Zu Beginn der Gebetsversammlung stellt der Prediger fest: „Wir sind zusammengekommen, um für Regen zu beten, und warum sehe ich keinen, der einen Schirm mitgebracht hat?“ – Ja, so sind wir: Glauben wir eigentlich, worum wir beten?

Die versammelte Hausgemeinde in Jerusalem glaubt lieber an Engel als an die Befreiung des Petrus. Und damit sind sie kurioserweise ganz nah an der Wahrheit dran und doch voll daneben. Denn der Engel ist schon lange wieder verschwunden. Aber Petrus ist da, steht vor der Tür und klopft.

Für die Magd ist das alles ja auch wie im Traum. Sie ist so durcheinander, dass sie Petrus gleich mal vor der verschlossenen Tür stehen lässt. Erst ist er von Herodes eingesperrt, dann von der eigenen Gemeinde ausgesperrt. Wenn das nicht mit Sinn für Humor erzählt ist! (Und ausgerechnet noch Petrus, der doch sonst immer den passenden Schlüssel dabei hat!) Schließlich kommen sie noch zusammen, die zusammen gehören, und Petrus kann von der traumhaften Befreiung erzählen.

Das ist die helle Seite der Geschichte. Das ist auch die helle Seite unseres Glaubens, wenn wir selber das an der einen oder anderen Stelle erleben, dass Gott befreit und erlöst, dass er seinen Engel in unser Leben schickt und uns aus auswegloser Lage rettet oder bewahrt. Viele haben ja ähnliches erlebt. Vielleicht nicht so spektakulär wie bei Petrus. Aber Gott muss ja nicht immer spektakulär handeln. Manchmal haben wir es gemerkt, dass sein Engel da war: wenn wir bewahrt worden sind, wenn eine gefährliche Situation gerade noch gut ausgegangen ist: Der Unfall, der nicht stattgefunden hat, weil noch Zentimeter dazwischen waren – vielleicht stand ja ein Engel dazwischen. Oder aber der Unfall, der stattgefunden hat und glimpflich ausgegangen ist – vielleicht hat ja ein Engel den Wagen zwischen den Bäumen hindurchgelenkt. Oder aber, die Gefahrensituation, die wir gar nicht bemerkt haben, und aus der wir doch heil herausgekommen sind. Wir sagen gern: „Das war Bewahrung“, wenn wir der Gefahr ins Auge geblickt haben. Eigentlich können wir immer sagen, wenn wir gesund nach Hause kommen: „Das war Bewahrung.“ Wenn wir einen Tag gesund und ohne schlimme Ereignisse zu Ende gebracht haben: „Das war Bewahrung.“ – Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, dass du mich diesen Tag gnädiglich behütet hast ...“ – Luthers Abendsegen.

Ja, das ist die helle Seite der Geschichte, die helle Seite unserer Glaubenserfahrung. Die dunkle Seite ist die, wo die erhoffte und erbetene Errettung ausbleibt. Wo wir uns nicht wie in einem Traum, sondern wie in einem Alptraum fühlen. Wo es wirklich kracht. Wo wir uns bewegungslos in einem Krankenhausbett wiederfinden. Wo der Arzt uns mit dieser gefürchteten Diagnose konfrontiert. Wo wir vor den Scherben einer Beziehung stehen. Wo das Kind sich von uns abwendet. Wo wir jedes Mal sagen müssen: „Aus der Traum!“ Euch allen werden ähnliche Beispiele einfallen, und wir fragen: Wo ist denn Gott, der Retter, Erlöser, Befreier? Wo hatte er gerade seine Augen? Warum war sein rettender Engel nicht auch da?

Die dunkle Seite liegt ist auch in unserer Geschichte. Die Gemeinde befindet sich in einer Verfolgungssituation. Einige werden festgenommen und gefoltert. Jakobus ist der erste Apostel, der um seines Glaubens an Jesus willen hingerichtet wird. Er ist nicht der letzte. Wir wissen, dass auch Petrus, der hier so wunderbar befreit wird, einmal für seinen Herrn sterben wird. Und nach ihm unzählige christliche Märtyrer – bis auf den heutigen Tag. Ist es in dieser Situation nicht eigentlich verständlich, dass unser Glaube an die Errettung und Befreiung so klein ist?

Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird ... – ja wenn. Dieser Traum hat schon vor Jahrhunderten in Babylon einen sehr langen Atem gebraucht. Fast fünfzig Jahre vergingen, bis die Rückkehr aus dem Exil möglich wurde.

Der Traum von der Erlösung brauchte immer einen langen Atem. 40 Jahre bis zur Befreiung vom Kommunismus in der DDR. 56 Jahre insgesamt bis zur Befreiung von den totalitären Diktaturen in Deutschland. Und wenn es nicht Menschen gegeben hätte, die diesen Traum immer weiter geträumt und für den Traum von der Freiheit gelebt und gebetet hätten, dann hätte er sich vielleicht nie erfüllt. 23 Jahre ist es inzwischen her, dass dieser Traum unter unseren Augen und Ohren – und unter unseren Beinen und Händen Wirklichkeit wurde. Und dann waren wir selber wie die Träumenden, die auszogen aus der Gefangenschaft ins Gelobte Land.

Aber eben doch nach langem Warten, Sehnen und Träumen: Befreiung, Errettung, Bewahrung, Erlösung ereignet sich nicht immer gleich und nicht immer dann, wenn wir es erwarten. Und manchmal ereignet sie sich in diesem Leben gar nicht. Jakobus musste sterben, andere nach ihm auch.

Unser Psalm von den Träumenden, der 126. Psalm hatte in der christlichen Liturgie lange Zeit einen besonderen Ort: Er wurde vornehmlich bei Beerdigungen gebetet. So wurde er gedeutet auf die letzte Befreiung und Errettung, die Erlösung aus dem Tod, auf die Auferstehung. In Gottes Ewigkeit – spätestens dann – werden wir sein wie die Träumenden. Wir werden lachen statt weinen. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.

Ich weiß, dass das immer wieder als billige Vertröstung angesehen worden ist. Es kann und soll aber etwas anderes sein: wahrer Trost, wo wir mit unserem irdischen Träumen und Trösten am Ende sind. Wahrer Trost und keine billige Vertröstung. Denn für diesen Trost hat Jesus teuer bezahlt. Er musste hinabsteigen ins Reich des Todes, um im Tod den Tod zu besiegen. Er steigt auch mit uns hinab in die Trostlosigkeit unseres Todes, und er reißt uns heraus ins Freie, ins Leben, in die traumhafte Wirklichkeit Gottes.

Manchmal kommt ein Engel, der uns aus Todesgefahr errettet. Aber einmal ist der Herr Jesus Christus selber gekommen und hat uns aus dem ewigen Tod gerettet. Deshalb werden auch wir sein wie die Träumenden – wenn wir Gottes ewige Herrlichkeit schauen.

Sonntag, 16. September 2012

Predigt am 16. September 2012 (15. Sonntag nach Trinitatis)


Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden.
Liebe Brüder, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest. Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.
Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Ein jeder aber prüfe sein Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst haben und nicht gegenüber einem andern. Denn ein jeder wird seine eigene Last tragen.
Wer aber unterrichtet wird, der gebe dem, der ihn unterrichtet, Anteil an allem Guten.
Irrt euch nicht! Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.
Galater 5, 26 – 6, 10


Liebe Schwestern und Brüder,

der Mensch ist ein Lasttier. Wie ein Esel oder ein Kamel schleppt er Dinge von einem Ort zum andern. Und manche Last legt er überhaupt nicht ab, vielleicht weil er nicht kann, vielleicht auch weil er nicht will.

Die Lasten, die wir tragen, sind uns vielleicht von anderen aufgeladen worden. Aber manche Last haben wir uns auch selber auferlegt. Manche Lasten müssen wir tragen, andere wollen wir tragen.

Warum sind wir solche Lasttiere? Sind wir als Menschen nicht ganz anders geschaffen, nicht zum Lastentragen, sondern zum aufrecht Gehen?

Mir scheint, dass uns vieles im Leben so wichtig ist, dass wir es überall hin mitnehmen müssen. Das merken wir zum Beispiel bei einem Umzug. Was nehmen wir mit? Was lassen wir zurück? Wovon können wir uns trennen, wovon nicht? Da sind Möbel und Bilder, die zu uns gehören, Wertstücke vielleicht, die wir schon von unseren Vorfahren geerbt haben, andere, die wir uns selber angeschafft haben und an denen nun unsere Erinnerungen und unser Herz hängen. Da sind Kisten mit alten Fotos und Briefen, das sind Säcke voller Kleidung, die wir schon lange nicht mehr getragen haben. Es sind eben nicht nur Dinge; es ist die ganze Geschichte unseres Lebens, die wir mit uns herumtragen, egal wohin wir gehen. – Manches davon ist eine angenehme Last. Manches können und wollen wir nicht verlieren, wir wollen es gern tragen. Von anderem können wir uns nicht trennen, obwohl wir es gerne täten.

Wir Menschen sind Lasttiere, auch deshalb weil wir unser Leben selber bauen müssen. Wir tragen das Baumaterial zusammen und bauen daraus das Haus, das Gebäude unseres Lebens. Aber das sind Lasten, die wir nur zeitweise tragen, die wir an den Ort bringen, wo sie hingehören, und die dann als Baumaterial ihre Aufgabe erfüllen: Wie Steine und Balken eines Hauses werden sie selber zu tragenden Elementen unseres Lebens. Sie machen es fest und stabil.

Der Mensch ist ein Lasttier, ja. Aber er ist doch ein schlechtes Lasttier. Er stöhnt oft unter den Dingen, die er mit sich herumschleppt. Er hadert mit denen, die ihm Lasten aufgelegt haben. Er hadert auch mit sich selbst, weil er wider Willen immer wieder zum Lasttier wird. Und mancher bricht unter den Lasten zusammen, die er zu tragen hat.

Die meisten Lasten, die ein anderer Mensch trägt, sehen wir nicht. Denn es sind ja nur selten materielle Gegenstände; es sind vielmehr Sorgen und Ängste, Schmerzen und Schuld, Krankheiten und Probleme. Er muss schon gehörig klagen, damit wir auch wirklich sehen, wie schwer er zu tragen hat.

Meistens sehen wir nur unsere eigene Last, und meistens erscheint sie uns schwer genug. Das Leben der anderen dagegen mutet uns oft so leicht an! – Dabei liegt es doch nur daran, dass ihre Lasten eben, wie gesagt, nicht zu sehen sind, und dass wir uns auch nicht wirklich für die Lasten der anderen interessieren. „Du weißt nicht, wie schwer die Last ist, die du nicht trägst“, sagt ein afrikanisches Sprichwort.


Wie gehen wir mit unseren Lasten um? Mit den Lasten, die wir selber tragen, mit den Lasten, die der andere trägt?

Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen!, so heißt der bekannte Kernsatz unseres Predigttextes.

Das Gesetz Christi – das ist das Lastentragen. Es ist das Gesetz, das über dem Leben Jesu Christi stand. Er hat den Menschen Lasten abgenommen: die Last von Schuld und Sünde, die Last von Krankheit und Tod, die Last von Sorgen und Ängsten. Und den Menschen, die das erfahren haben, ist es leicht geworden ums Herz, weil Jesus sie entlastet hat: der Frau, die an der unheilbaren Krankheit ihrer Tochter zu tragen hatte; dem Zöllner, dem sein Leben voller Unwahrheit und Betrug zur Last geworden war; der Ehebrecherin, die unter den Steinwürfen der Selbstgerechten zusammenzubrechen drohte; dem Räuber am Kreuz neben Jesus, dem der gekreuzigte Herr das Paradies versprechen konnte. Ihnen allen hat er die Last ihres Lebens abgenommen. Jesus hat sie für sie getragen. Er hat sie ans Kreuz getragen. Er ist zum Lastträger für sie, für uns alle geworden. Das ist das Gesetz Christi, das Gesetz, unter dem sein Leben stand.

Das ist das allerwichtigste für uns, wie wir mit unseren Lasten umgehen. Wir können sie zu Jesus Christus hintragen, sie ihm übergeben, sie von ihm tragen lassen, wegtragen am Kreuz. Was ich nicht tragen kann, meine Sorgen, meine Schuld, meine Not, darf ich, soll ich ihm anvertrauen und übergeben. Er trägt sie, er hat sie schon getragen.

Der Wochenspruch und das Evangelium sagen es uns: Werft die Sorgen auf ihn, denn er sorgt für euch!

Und ebenso gilt: Werft die Sünden auf ihn, denn er vergibt euch!

Eines unserer großen Probleme ist wahrscheinlich, dass wir unsere Lasten nicht gerne loswerden wollen. Dass wir immer auch ein bisschen stolz sind auf das Päckchen, das wir zu tragen haben.

Und dass wir uns nicht gerne helfen lassen. Es ist schließlich unangenehm, wenn ich jemanden um Hilfe bitten muss, weil ich es selber nicht schaffe.

Aber genau dafür ist Jesus gekommen: um uns zu helfen, um unsere Lasten zu tragen, gerade wenn und weil wir es selber nicht schaffen.

Das Gesetz Christi – das ist das Lastentragen. Und in erster Linie ist es das Gesetz, das er sich selber auferlegt hat: Er will es so: für uns die Lasten tragen.


Erst in zweiter Linie ist es sein Gebot an uns: Einer trage des andern Last. Das sagt er nämlich nicht, um uns noch mehr aufzubürden, wenn wir ohnehin schon kurz vor dem Zusammenbrechen sind, das sagt er uns, weil er uns zuvor die eigene Last abgenommen hat. Wer seine eigenen Sorgen bei Christus losgeworden ist, wem die eigene Schuld durch ihn vergeben worden ist, wem die eigenen Verletzungen durch ihn geheilt worden sind, der ist ja frei geworden, der kann ja wieder aufrecht gehen, der ist ja nicht mehr von der Last des eigenen Lebens bedrückt und gebeugt. Und weil er frei ist und auch den Blick frei hat für den Menschen neben ihm, sieht er dessen Lasten und hilft sie ihm zu tragen, nimmt ihm etwas ab: Einer trage des andern Last!

Das heißt nicht, dass er wieder so belastet und gebeugt dastehen soll wie zuvor, als er noch unter der eigenen Last stöhnte. Das Lastentragen hat ja für ihn ein Ziel. Er kann auch die Lasten des anderen dorthin tragen, wo er selber seine Last losgeworden ist: zu Jesus Christus hin.

Ich kenne Menschen, denen vertraut man gerne seine Sorgen und Lasten an, weil man spürt, dass sie ehrlich mittragen wollen. Das tut gut, das entlastet. Aber manche von diesen Menschen tragen dann selber allzu schwer an den Lasten ihrer Mitmenschen. Wenn mich die Nöte der anderen so belasten, dass ich nicht mehr schlafen kann, dann mache ich was falsch, dann habe ich mich übernommen. Das wichtigste, wenn ich anderen ihre Lasten trage, ist, dass ich sie zu Christus hintrage.

Das kann ich tun, indem ich für diesen Menschen bete. Das ist die wichtigste Form des Mittragens von Lasten unter Christen: dass wir füreinander beten, gerade wenn wir um die Lasten des anderen wissen.

Eine andere Form des Lastentragens füreinander ist das Vergeben. Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern … Wo mich die Schuld eines anderen belastet, da kann ich diese Schuld, seine Schuld zu Gott bringen, bei Gott abladen.

Vor kurzem war ich an einem Gespräch beteiligt, wo jemand die Frage aufwarf, ob es einen Unterschied zwischen vergeben und verzeihen gäbe. Ist es etwas anderes, wenn ich sage: Ich verzeihe dir, als wenn ich sage: Ich vergebe dir? Ich wusste in diesem Gespräch nicht so recht einen Unterschied zu benennen. Ein anderer, der an dem Gespräch beteiligt war, sagte etwas in der Richtung, dass Vergeben immer mit Gott zu tun habe. – Ich glaube, jetzt habe ich es verstanden: Wenn ich verzeihe, dann möchte ich, dass die Schuld des anderen nicht mehr zwischen uns steht. Aber wahrscheinlich belastet sie mich weiter. Es ist ein menschlicher Akt der Großzügigkeit, der mich selber viel Kraft kostet. Ich nehme gewissermaßen die Schuld des anderen auf mich. Wenn ich vergebe, dann tue ich das auch, aber ich gehe mit seiner Schuld zu Gott, ich trage sie zu Jesus Christus und gebe sie ihm ab. Er soll sie am Kreuz mit wegtragen, wo er ohnehin alle Schuld der Welt trägt.

Ja, auch das heißt, des anderen Last tragen: Ihm vergeben, weil Gott mir vergibt.


Und als drittes heißt des anderen Last tragen, dann natürlich auch, ihm ganz praktisch helfen, so wie es in meinen Kräften steht. Denn ich will das Lastentragen nicht nur vergeistigen. Manchmal braucht es ganz praktisch ein offens Ohr, einen guten Rat, eine helfende Hand. – So wie es in meinen Kräften steht, sagte ich. Denn Gott will nicht, dass wir uns überfordern und belasten. Aber er will, dass wir mit unseren Gaben und Kräften füreinander da sind.

Und so endet ja auch unser Abschnitt mit einer ganz schlichten und handfesten Aufforderung:
Lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.

Wir können es, weil Christus uns über die Maßen viel Gutes getan hat.

Sonntag, 9. September 2012

Predigt am 9. September 2012 (14. Sonntag nach Trinitatis)


Wir danken Gott allezeit für euch alle und gedenken euer in unserm Gebet
und denken ohne Unterlass vor Gott, unserm Vater, an euer Werk im Glauben und an eure Arbeit in der Liebe und an eure Geduld in der Hoffnung auf unsern Herrn Jesus Christus.
Liebe Brüder, von Gott geliebt, wir wissen, dass ihr erwählt seid;
denn unsere Predigt des Evangeliums kam zu euch nicht allein im Wort, sondern auch in der Kraft und in dem Heiligen Geist und in großer Gewissheit. Ihr wisst ja, wie wir uns unter euch verhalten haben um euretwillen.
Und ihr seid unserm Beispiel gefolgt und dem des Herrn und habt das Wort aufgenommen in großer Bedrängnis mit Freuden im Heiligen Geist,
sodass ihr ein Vorbild geworden seid für alle Gläubigen in Mazedonien und Achaja.
Denn von euch aus ist das Wort des Herrn erschollen nicht allein in Mazedonien und Achaja, sondern an allen Orten ist euer Glaube an Gott bekannt geworden, sodass wir es nicht nötig haben, etwas darüber zu sagen.
Denn sie selbst berichten von uns, welchen Eingang wir bei euch gefunden haben und wie ihr euch bekehrt habt zu Gott von den Abgöttern, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott
und zu warten auf seinen Sohn vom Himmel, den er auferweckt hat von den Toten, Jesus, der uns von dem zukünftigen Zorn errettet.

1. Thessalonicher 1, 2-10


Liebe Schwestern und Brüder,

wie kommt es, dass ihr heute hier seid? Ich meine nicht, wieso ihr jetzt ausgerechnet auf dieser Insel, an diesem Ort hier seid, sondern wie es kommt, dass ihr an diesem Tag im Gottesdienst seid. Ihr habt euch bewusst entschieden, jetzt genau das zu tun: mit uns Gottesdienst zu feiern.

Weil ihr Christen seid? Weil ihr an Gott glaubt? Weil ihr die Gemeinschaft schätzt? Weil ihr dazugehören möchtet?

Wie kommt es, dass es diese Gemeinschaft gibt: Kirche, Gemeinde? Wie kommt es, dass Menschen sich im Glauben und Suchen zusammenfinden? Wie kommt es, dass unser Angebot, Gottes Angebot angenommen wird? Jedenfalls immer wieder von einigen?

Ich frage das, weil ich darüber staune. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der es nicht normal, nicht selbstverständlich war, an Gott zu glauben, zur Kirche zu gehen. Religion war nach offizieller Lesart zum Absterben verurteilt; das ging zwar nicht so schnell, wie Ulbricht sich das erhofft hatte, aber letztlich ist der Trend weg vom christlichen Glauben ungebrochen. Auch im Westen. Wir finden es kaum noch erstaunlich, wenn sich Leute vom Glauben abwenden und aus der Kirche austreten. Wir finden es erstaunlich, wenn Menschen zur Gemeinde und zum Glauben hinfinden.

Ja, ich staune, wie viele das sind … Viele, die oft erst als Jugendliche oder Erwachsene Christ geworden sind. Manche, die auch heute und hier nach vielen Jahrzehnten wieder zur Kirche kommen. Ich staune und ich freue mich, dass immer wieder Menschen glauben und dass unsere christliche Gemeinde manchmal sogar ein bisschen wächst.

Wie kommt es, dass du glaubst? Egal wie groß oder klein du deinen Glauben einschätzt; immerhin reicht er ja, dass du heute hier bist. Wie kommt es, dass du glaubst? – Ich möchte euch einladen, jetzt in einer Minute der Stille mal darüber nachzudenken, wer und was daran schuld ist, dass du heute als Christ in diesem Gottesdienst sitzt.


Wenn ich über mich und meine Lebensgeschichte nachdenke, fällt mir einiges ein. Es ist nicht ein einzelnes Ereignis, eine einzelne Entscheidung, eine einzelne Person oder was auch immer, die mich zum Christen gemacht haben, es ist vieles, das zusammengekommen ist und ineinandergegriffen hat.

Zuerst denke ich an die Menschen die mich geprägt haben, die mir Glauben nahe gebracht haben. Bei mir hat das im Kindesalter begonnen: meine Eltern, die mit mir gesungen und gebetet haben, meine Mutter und meine Großmutter, die mir biblische Geschichten erzählt haben, die Gemeindehelferin in der christlichen Kinderstunde, später Pfarrer und Jugendmitarbeiter. Genau so wichtig waren für mich Gleichaltrige. Einer ging in meine Klasse, war mein Freund, wir haben uns immer wieder auch über Glaubensfragen ausgetauscht. Später war es ein Hauskreis, wo wir miteinander Bibel gelesen und Glaubens- und Lebensfragen besprochen haben. Noch später Kommilitonen, Freunde im Studium, die mir geholfen haben, dass die Theologie, die Wissenschaft vom Glauben, und der Glaube selber nicht auseinandergefallen sind. Mit manchen habe ich nächtelang bei Rotwein und Zigaretten Probleme gewälzt, mit manchen habe ich mich zum Morgengebet in unserer Hauskapelle getroffen. Und mit manchen bin ich noch heute verbunden, und dank Facebook immer wieder auch im Gespräch.

Und dann sind da natürlich immer wieder auch die Menschen, die ich auf meinem Weg als Pfarrer oder auch schon als Vikar in den verschiedenen Gemeinden getroffen habe. Menschen mit ihrer Sicht, mit ihrer eigenen Geschichte und mit ihrem eigenen Glauben, und davon springt immer wieder auch etwas über. Tiefes Gottvertrauen ohne viele Worte – das hat mich immer beeindruckt. Manche Lebensgeschichte kommt da und dort zur Sprache, und oft nehme ich einfach eine tiefe Dankbarkeit wahr, eine Gewissheit getragen zu sein, auch durch die Tiefen und Untiefen des eigenen Lebensweges. Das stärkt und trägt dann auch wieder mich in meinem Glauben – und in meinem Dienst als Pfarrer. Denn ich soll ja Zeugnis geben, weitersagen vom Glauben.

So wie andere mir Zeugnis gegeben haben und weitergesagt vom Glauben. Ich denke an Gottesdienste, an Predigten, an christliche Veranstaltungen, die mich berührt haben. Wie oft ist Gottes Wort zu lebendigem Wort Gottes an mich geworden! Selten waren es die ganz großen und mitreißenden Worte, aber oft waren es die vielen kleinen guten Worte, die sich summiert haben, die sich in meinem Kopf und in meinem Herzen festgesetzt haben und in mir weitergewirkt haben.

Und je länger je mehr waren es Bibelworte und Worte aus Liedern, Gesangbuchliedern, Jugendliedern oder dann auch aus den geistlichen Motetten und Oratorien, die ich gehört und vor allem auch selber mitgesungen habe. Ich merke, wie sie mir präsent sind, mir immer wieder einfallen, mir nachgehen, mein Leben beeinflussen. Sie helfen mir zu glauben und im Glauben zu bleiben.

Aber dann sind da auch noch andere Worte, Worte, die ich meistens gar nicht selber gehört habe, die andere für mich gesprochen haben: Worte und Gedanken zu Gott hin, Gebete. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht glauben könnte, nicht so glauben könnte, wenn nicht viele Menschen immer wieder für mich gebetet hätten und auch heute noch für mich beten würden. Manchmal bekomme ich das gesagt, manchmal weiß ich es oder ahne es, dass da jemand für mich betet. Und ich spüre, dass mich das trägt und hält, so dass ich nicht aus Gottes Spur falle.

Menschen, die mit mir ihren Glauben geteilt haben, und die mir mit ihrem Glauben Vorbild waren, Menschen die mir Gottes Wort gesagt haben, Menschen, die für mich gebetet haben. Mein Glaube ist lebendig in der Verbundenheit mit diesen Menschen. Glaube ist lebendig im Teilen von Glauben.

Aber ich überlege noch weiter: Liegt es wirklich nur an den Menschen, dass ich glauben kann? Gewiss, ich könnte es mir nicht vorstellen ohne sie alle. Aber eigentlich weiß ich: hinter ihnen allen steht doch Gott, der, an den sie glauben, an den ich glaube. Glauben zu können, Christ sein zu können, ist sein Geschenk. Keiner von diesen für mich doch so wichtigen Menschen hätten es geschafft, in mir den Glauben zu wecken und am Leben zu halten, wenn Gott nicht das Entscheidende an mir getan hätte. Mein Glaube, das ist im Grunde Gottes unergründliche Entscheidung für mich. Darüber kann ich nur staunen und danken.

Ja, in meinem Leben hat es auch umgekehrt auch meine Entscheidung für Gott gegeben. Manche meiner frommen Schwestern und Brüder legen großen Wert darauf, auf die eigene Entscheidung für Gott. Ich könnte zwar auch ein Datum angeben für so eine Art Bekehrung, so eine Entscheidung für Gott. Aber im Rückblick habe ich nach und nach gemerkt, dass es nicht nur ein Datum sein kann, sondern dass ich mich an verschiedenen Stellen für Gott entschieden habe. Da war zum Beispiel mein Ja bei der Konfirmation, oder schon mein Ja für die Konfirmation und nur für die Konfirmation, als doch die Teilnahme an der Jugendweihe erwartet wurde und viele meiner Altersgenossen sich für die Jugendweihe oder zumindest für beides – erst Jugendweihe, dann Konfirmation – entschieden. Da war schon vorher meine Entscheidung, jeden Tag in der Bibel zu lesen und zu beten. Und da waren ganz viele Entscheidungen, die alle irgendwie mit dem Glauben zu tun hatten und die anders gefallen wären, wenn ich sie nicht mit Gott und für Gott getroffen hätte. Am Ende relativiert sich so eine „Bekehrung“. Das Entscheidende ist, immer wieder hingekehrt zu Gott zu leben.

Und mit der Zeit bin ich da ziemlich demütig geworden: Es war eigentlich nie meine Entscheidung, es war schon immer Gottes Entscheidung für mich. Erst kam er mit seinem Wort und dann ich mit meiner – manchmal nur zögernden oder halbherzigen – Ant-Wort.

Ihr Lieben, ich habe euch das jetzt nicht um meinetwillen erzählt. Ich habe euch an meinem Beispiel etwas davon erzählen wollen, was ich für typisch halte für den Glauben. Nicht weil ich so typisch bin, sondern weil ich es in der Bibel, weil ich es auch in unserem heutigen Bibelabschnitt so gefunden habe.

Da staunt ein Paulus darüber, dass die Gemeinde in Thessaloniki existiert, glaubt, wächst und Ausstrahlung hat. Und er schreibt darüber, dass das mit dem Glaubensvorbild anderer Christen zu tun hat, mit der Predigt des Evangeliums, mit dem Gebet füreinander, auch mit der bewussten Entscheidung, Bekehrung, Hinwendung zu Gott, im letzten aber in Gottes Entscheidung für die Menschen, mit seiner Erwählung.

Ich nehme an, wenn ihr über euren Weg zum Glauben, zur Kirche nachdenkt, werdet ihr sicher Ähnliches entdecken.

Und vieles davon finde ich in den Worten wieder, mit denen Martin Luther im Kleinen Katechismus den Abschnitt über den Heiligen Geist und die Kirche erklärt:

Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten;
gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten Glauben;
in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt und am Jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläubigen in Christus ein ewiges Leben geben wird.
Das ist gewisslich wahr.

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Sonntag, dem 09.09.2012

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

wo wohnt Gott? – Als Kinder haben wir mit der einfachen Antwort gelebt: Gott wohnt im Himmel. Wir haben uns vorgestellt, dass er irgendwie von da oben herabschaut, alles sieht und alles regelt. Wir haben uns vorgestellt, dass da oben auch noch die Engel sind und die Menschen, die gestorben sind. Das musste ziemlich gut sein für diese Menschen, weshalb der Tod auch nichts wirklich Schlimmes war.


Schwierig wurde es, als wir lernten, dass der Himmel nur Luft ist und darüber dunkles weites Weltall, so weit, dass selbst das Licht von den Sternen unvorstellbar lange Zeit braucht, um zu uns auf die Erde zu kommen. Da war auf einmal zwar sehr viel Raum, aber trotzdem kein Platz mehr für Gott und die Engel und die gestorbenen Menschen.


Ich habe in den letzten Tagen darüber gesprochen, wie Gott genannt werden kann. Manchmal wird er der Gott des Himmels genannt. Und manchmal wird der Ausdruck Gott einfach durch Himmel ersetzt. Wir sagen: “Um Gottes Willen!” oder aber auch “Um Himmels willen!”, “Gott sei Dank!” oder auch “Dem Himmel sei Dank!” Schon in der Bibel ist das so: In den Evangelien spricht Jesus bekanntlich sehr viel vom Reich Gottes. Der Evangelist Matthäus hat das fast durchweg durch den Ausdruck Himmelreich ersetzt.


Der Himmel, das ist der Ort, den wir ganz eng mit Gott in Verbindung bringen: Gott ist im Himmel, Gott ist der Herr des Himmels, und wenn wir ganz bei Gott sind, dann sind wir im Himmel.


In der alten Vorstellungswelt war Gottes Himmel irgendwo da draußen jenseits der Gestirne. Aber schon in biblischen Zeiten wusste man: Gott ist nicht irgendwo weit weg, sondern ganz nahe: Fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns, so erzählte es Paulus den Leuten in Athen (Apostelgeschichte 17, 27).
Und Jesus hatte gesagt: Das Reich Gottes, das Himmelreich, ist nahe herbeigekommen.

In einem neuen Lied heißt es: Was ist Himmel? Höhe, Weite, weiße Wolken unter Blau, ferne Welten, Satelliten, das, was ich im Fernrohr schau. // Was ist Himmel? Um und in uns Gott des Schöpfers Gegenwart, ohne Anfang, ohne Ende, es gibt nichts, was ausgespart.*

Ja, wahrscheinlich ist Gottes Himmel ganz, ganz nahe. Wir müssen nur die Hand ausstrecken, oder besser noch: unser Herz öffnen; dann sind wir schon da, bei Gott.


Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag.



* Text: Gisela Kandler; Singt von Hoffnung. Neue Lieder für die Gemeinde, Leipzig 2008, Nr. 19.