Sonntag, 26. August 2012

Predigt am 26. August 2012 (12. Sonntag nach Trinitatis)

Petrus und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit. Und es wurde ein Mann herbeigetragen, lahm von Mutterleibe; den setzte man täglich vor die Tür des Tempels, die da heißt die Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen. Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: "Sieh uns an!" Und er sah sie an und wartete darauf, daß er etwas von ihnen empfinge. Petrus aber sprach: "Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!" Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, er sprang auf, konnte gehen und stehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben. Sie erkannten ihn auch, daß er es war, der vor der Schönen Tür des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.
Apostelgeschichte 3, 1-10



Liebe Schwestern und Brüder,

dazugehören ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wir gehören ja schon immer irgendwo dazu: zu einer Familie, zu einer Nation, zu einer Gemeinde … Wir haben Freunde, Verwandte, Kollegen, Nachbarn, Vereinskameraden, und viele mehr, denen wir uns zugehörig fühlen. Wir gehören dazu und wir wollen dazu gehören.

Das Gegenteil von dazugehören ist ausgeschlossen sein. Wir wollen dazugehören, aber wir dürfen nicht, man lässt uns nicht, wir sind behindert.

Oft dürfen wir nicht dazugehören, weil wir anders sind als die anderen. Das macht uns zu Außenseitern.
Wir erinnern uns vielleicht: Als wir Kinder waren, gab es immer welche, mit denen wir nicht spielen wollten, oder vielleicht auch nicht spielen durften. Kinder, die vielleicht zu langsam waren; die wollten auch gern mit Fußball spielen, aber sie standen eher beim Spielen im Weg rum, wurden deshalb nicht in die Mannschaft gewählt oder auf dem Spielfeld einfach nur rumgeschubst und umgerempelt. Oder wir selber waren diese Kinder ...

Wir kennen fast alle Leute, bei denen wir froh sind, wenn wir sie von hinten sehen. Sie reden anders oder denken anders als wir es gewohnt sind. Sie fordern von uns mehr Zuwendung, als wir zu geben bereit sind. Und wir zeigen ihnen: Ihr gehört nicht dazu.

Ganze Gruppen von Menschen haben es schwer dazuzugehören: Minderheiten, Randgruppen; Marginalisierte, sagt man im Soziologenjargon.

Nicht jeder, der nicht dazugehört, will überhaupt dazugehören. Natürlich grenzt man sich auch ab. Der eigene Clan, die eigene Gruppe, das eigene Milieu sind oft ausreichend, um dazuzugehören.

Schwierig ist es immer für die Menschen, die wollen und nicht können. Die behindert sind oder behindert werden.

Irgendwie tut es mir immer leid, wenn hier Menschen vor der Kirche stehen oder in die Kirche kommen, denen wir sagen müssen: "Wir feiern Gottesdienst in deutscher Sprache, leider nicht in Spanisch, Polnisch oder Russisch." – Dass ich seit ein paar Wochen möglichst einen Bibeltext des Sonntags in Spanisch und Englisch mit auf dem Gottesdienstplan abdrucke, hat damit zu tun, dass ich möchte, dass auch Leute, die kein Deutsch verstehen, wenigstens ein kleines Bisschen an unserem Gottesdienst teilhaben können.

Als mir jemand mal zu verstehen gab, dass er sich in unserer Gemeinde irgendwie nicht angenommen, sondern ausgegrenzt fühlte, tat mir das leid. Umgekehrt ist es etwas Wunderbares, wenn jemand sagt: "Bei euch fühlt man sich gleich zu Hause." Darum geht es uns doch: ums Dazugehören.


Der Mensch, von dem unsere heutige biblische Geschichte erzählt, hatte auch das Problem, nicht dazuzugehören. Alle kannten ihn vom Sehen, denn er saß jeden Tag am Tempeltor und bettelte. Er gehörte schon mit zur Szenerie. Aber er gehörte nicht mit zu den Menschen, die hinein gingen in den Tempel, um zu beten und Gott zu loben. Er gehörte nicht mit zu den Menschen, die heraus kamen aus dem Tempel mit Dankbarkeit und neuem Lebensmut. Er war ausgeschlossen.

Es muss eine Art archetypisches Verhalten sein, denn so ist es bis heute an vielen Orten: Die Menschen gehen ins Gotteshaus hinein und kommen wieder heraus, die Bettler aber sitzen vor der Tür. Sie gehören nicht zu der Gemeinschaft der Kirchenbesucher. Sie sind draußen, sie appellieren an das schlechte Gewissen und an an die milde Gestimmtheit derer, die zum Gotteshaus gehen. Gewissermaßen unter den Augen des Allmächtigen, beeindruckt von der Menschenfreundlichkeit Jesu, bewegt von Gottes Geist müssen Menschen doch eher bereit sein, zu geben und zu helfen. Und so ist es ja auch. Entweder wir geben oder wir haben ein schlechtes Gefühl – oder beides. Aber der Bettler, er bleibt draußen. Unser Almosen wird zur frommen Tat, aber sie ändert nichts an dem Zustand, der den Almosenempfänger zum Almosenempfänger macht. Er wird auch morgen wieder vor der Tür sitzen und übermorgen.

Genau so waren es die Jerusalemer Tempelbesucher gewöhnt. Der gehbehinderte Bettler gehörte dazu als einer, der nicht dazugehörte.

Bis zu diesem Tag, als Petrus und Johannes in den Tempel gingen und auf ihn aufmerksam wurden. Anders aufmerksam wurden, als sonst. Wer weiß, wie oft auch sie schon an ihm vorbeigegangen waren. Heute aber hören sie seine Bitte um ein Almosen, seine Bitte um Erbarmen. – Das ist der ursprüngliche Sinn des Wortes Almosen. Es kommt vom griechischen Wort elemosyne, das genau Erbarmen heißt. – Der behinderte Bettler bettelt um Erbarmen: "Habt Erbarmen! Habt Erbarmen!" murmelt er unentwegt den Vorbeigehenden zu. Und bei Petrus und Johannes macht es Klick: Was erwarten wir, wenn wir Gott um Erbarmen bitten? – Herr, erbarme dich! Kyrie eleison! – Ein Almosen? – Und was sind wir bereit zu geben, ja, was können und wollen wir geben, wenn wir um Erbarmen gebeten werden? Nur ein Almosen? – Es ist ihnen schlagartig klar: Es geht nicht um eine milde Spende. Es geht nicht um ein paar Kupferstücken aus dem Portemonnaie. Es geht um das Erbarmen mit einem Menschen, der anders ist, der behindert ist, der nicht dazugehört, der mehr braucht als ein paar Münzen, die ihm das Überleben bis zum nächsten oder übernächsten Tag sichern.

Petrus weiß – geistesgegenwärtig –, was er zu tun und zu sagen hat: Sieh uns an! – Blickkontakt herstellen. Kommunikation ermöglichen. Die Kommunikation, die wir an solchen Stellen normalerweise vermeiden. Wir sehen ihn nicht gerne an, den Bettler. Wir wollen, auch wenn wir ihm etwas geben, nicht gerne in ein Gespräch verwickelt werden, uns vielleicht seine wahre oder erfundene Leidensgeschichte anhören. Wir wollen, wenn wir ihm schon was geben, schnell weitergehen und ihn schnell vergessen. Er gehört ja nicht dazu, zu unserem Leben. Petrus tut hier das Gegenteil. Er signalisiert dem Mann: 'Wir interessieren uns für dich. Wir wollen etwas mit dir zu tun haben.'

Und er erwidert den Blick, freilich noch in der Erwartung des zu Erwartenden: vielleicht eine größere Spende als gewöhnlich. Aber immerhin: Ihre Blicke treffen sich, und es kann etwas geschehen zwischen ihnen.
Und es fallen die entscheidenden, berühmt gewordenen Sätze: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!

Und dann wird aus dem Blickkontakt Körperkontakt. Er reicht ihm die Hand, zieht ihn in die Höhe, und der Gehbehinderte, der Lahme, er steht – auf eigenen Füßen. Und er geht – eigene Schritte. Und er läuft – ohne fremde Hilfe. Und er springt – wie ein junges Reh, hin und her und auf und ab. Nicht mehr gelähmt, nicht mehr behindert, nicht mehr ausgeschlossen.

Jetzt gehört er dazu, zu denen, die stehen und gehen, tanzen und springen. Und auch und vor allem zu denen, die in den Tempel hinein gehen, um zu beten und Gott zu loben, und die aus dem Tempel herauskommen mit Dankbarkeit und neuem Lebensmut. Ja, auf wen, wenn nicht auf ihn, wird diese Beschreibung wohl am meisten zutreffen an diesem Tag?

Ich glaube, das ist das Entscheidende an dieser Geschichte: Einer, der eben noch draußen war, gehört jetzt dazu. Er ist nicht mehr behindert, er wird nicht mehr behindert. Er integriert sich und wird angenommen. – Wir lesen weiter, dass er sich zu den beiden Aposteln hält und mit ihnen im Tempel ist, dort, wo sich auch die christliche Gemeinde trifft. Er weiß oder er erfährt, wem er seine Heilung verdankt: dem Namen Jesu Christi. Auch oder gerade zu Jesus und zu seiner Gemeinde gehört er jetzt dazu.


Ihr Lieben, da ist einer der krank und behindert war, körperlich gesund geworden, und darum ist es ihm leicht geworden wieder dazuzugehören zur Gemeinschaft der Lebenstüchtigen, der Gesunden, Starken, Fröhlichen und Dankbaren. – Eine wunderbare Heilung, eine wunderbare Heilungsgeschichte, und die Leute sind voller Verwunderung und Entsetzen. Aber das ist eben nicht entscheidende Punkt. Es gibt wunderbare Heilungen, gewiss doch, und es gäbe noch mehr, wenn wir häufiger und zuversichtlicher für Kranke beten würden.

Und doch ist körperliche Heilung nicht alles und nicht das wichtigste. In den biblischen Heilungsgeschichten ist die Heilung allemal ein Zeichen für nicht nur körperliches, sondern umfassendes, wie man so schön sagt: "ganzheitliches" Heil. Es geht ums Dazugehören. Krankheit, körperliche und geistige Schwäche, materielle und geistige Armut, andere äußerliche Erscheinung und andere Herkunft – all das, sollen keine Behinderungen sein – Behinderungen in dem Sinne, dass das Dazugehören behindert wird.

Es ist zu allen Zeiten ein Markenzeichen der christlichen Kirche gewesen, dass sie es Menschen ermöglicht dazuzugehören. Sie hat sich immer um Arme und Bedürftige, um Kranke und Sterbende, um geistig, leiblich und materiell Minderbemittelte, ja auch um Gescheiterte und um Sünder gekümmert.

Vieles davon ist im säkularen Bewusstsein angekommen. Integration und Inklusion sind wichtige Wörter geworden, die genau das meinen: Dazugehören können. Ausländer und Migranten sollen dazugehören. Menschen mit Behinderung sollen dazugehören. Barrierefreiheit ist selbstverständlich geworden. Wie schön ist das, dass man unsere Kirche und unser Gemeindezentrum einfach mit Rollstuhl erreichen und betreten (bzw. befahren) kann!

Bleibt für mich die spannende Frage, wie leicht oder wie schwer wir es Menschen machen dazuzugehören, zu uns, zu unserer Gemeinde, zur christlichen Kirche, zu Jesus Christus, zu Gott. Bauen wir sichtbare oder unsichtbare Barrieren auf? Geben wir Menschen direkt oder indirekt zu verstehen: Ihr sollt nicht zu uns gehören?

Die Erzählung von Petrus und Johannes und dem behinderten Bettler gibt mir einen wichtigen Hinweis: Das Entscheidende geschieht in der persönlichen Begegnung. Im Hinsehen und Hinhören, im Blickkontakt und im Körperkontakt.

Was ich habe, das gebe ich dir, sagt Petrus. Vielleicht habe ich keine wunderbaren Heilkräfte, wahrscheinlich auch nicht viel Gold und Silber, aber hoffentlich Erbarmen – und ich übersetze das als: Menschlichkeit, Herzlichkeit, persönliche Zuwendung.

Das Entscheidende geschieht in der persönlichen Begegnung, und es geschieht im Namen Jesu Christi. Weil ich zu ihm gehöre, weil er mit mir Erbarmen hat, darum kann auch ich mich dessen erbarmen, der – wie ich – dazugehören möchte.

Sonntag, 19. August 2012

Predigt am 19. August 2012 (11. Sonntag nach Trinitatis)

Weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht. Sollten wir aber, die wir durch Christus gerecht zu werden suchen, auch selbst als Sünder befunden werden – ist dann Christus ein Diener der Sünde? Das sein ferne! Denn wenn ich das, was ich abgebrochen habe, wieder aufbaue, dann mache ich mich selbst zu einem Übertreter. Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben. Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommt, so ist Christus vergeblich gestorben.
Galater 2, 16-21



Liebe Schwestern und Brüder,

es war einmal ein Land, in dem war alles genau geregelt und vorgeschrieben. Es gab da Gesetze und Verordnungen für alle Lebensbereiche. Nicht nur wie lang Gurken und wie krumm Bananen sein dürfen, war da vorgeschrieben. Nicht nur wie schnell man auf der Straße fahren darf und wie weit man zu Fuß gehen darf. Natürlich waren Diebstahl, Raub und Mord und was dergleichen mehr ist, verboten. Auch Ehebruch stand unter Strafe. Aber es ging noch weiter. Es gab Regelungen, wer wen zu heiraten hatte. Es gab Vorschriften für die richtige Ernährung. Es gab natürlich auch eine Steuer- und Abgabenordnung, an die sich alle zu halten hatten. Aber nicht nur das Verhalten der Menschen war reglementiert, auch ihr Denken und Fühlen. Die Religion, was sie zu glauben hatten, war vorgeschrieben, denn mit einem falschen Glauben würden sie ja zur Hölle fahren; davor mussten sie geschützt werden. So war falscher Glaube und auch falsches Denken verboten. Es reichte nicht, sich äußerlich an die Gesetze zu halten, man durfte nicht mal daran denken, ein Gesetz zu übertreten. Auf einen anderen wütend zu werden, ihn gar zu hassen, das war schon fast ein Mord. Dafür konnte man vor Gericht gestellt werden. Einer Frau oder einem Mann hinterherzusehen, erst recht wenn sie oder er gut aussah, das war schon fast Ehebruch. Auch dafür wurde man zumindest öffentlich verwarnt. Es war auch untersagt, über ein festgelegtes Maß hinaus mehr zu besitzen als der Durchschnitt der Menschen. Es wurde darüber gewacht, dass jeder freiwillig – so nannte man das – abgab, bis alle ungefähr gleich viel hatten.

Diese Gesetze wurden, wie gesagt, streng überwacht. Man passte aufeinander auf, dass sich auch die anderen daran hielten. Es war selbstverständlich, den Nachbarn anzuzeigen, wenn man ihn bei etwas Verbotenem erwischte. Es war schließlich in seinem Interesse. So konnte er noch rechtzeitig zurecht gebracht werden. Wie das geschah, blieb den zuständigen Behörden überlassen. In einigen Fällen wurde schnell eine harte Strafe verhängt – ein paar Jahre Haft. Oft beließ man es aber bei einer öffentlichen Ermahnung. Manchmal passierte auch gar nichts, jahrelang. Aber das war eigentlich das schlimmste, denn man wusste, dass nichts verjährt und irgendwann würde die Strafe kommen. Man würde ausgeschlossen und ausgestoßen werden aus der Gemeinschaft, an einen Ort verbannt, der nach allem, was man hörte grausam, kalt und finster war und wo Heulen und Zähneklappern herrschte.

So ungefähr ging es zu in diesem Land. Die Menschen waren durch Gesetze und Ordnungen zu einem vernünftigen Leben gezwungen. Die Herrschenden in diesem Lande waren der Meinung, die Menschen müssten glücklich sein. Denn sie waren ja vor Verbrechen und Armut geschützt. Sie waren sogar davor geschützt, dass ihnen jemand den Ehepartner ausspannte oder dass jemand ein böses Wort über sie sagte. Aber in Wahrheit waren sie nicht glücklich. Sie spürten es, dass ihnen etwas fehlte, und sie merkten, wie beständig ein Druck auf ihnen lastete, die Angst davor, doch etwas Falsches zu machen, etwas Falsches zu tun, zu sagen, zu denken und dafür zur Verantwortung gezogen zu werden, vielleicht sogar verurteilt und für immer verbannt an jenen grausamen, finsteren Ort.

Unter den Einwohnern des Landes ging – trotz aller Verbote – ein Gerücht um, dass es da noch ein Nachbarland gäbe, in dem es ganz anders zuginge. Es sollte ein Land sein, in dem es gar keine Gesetze gäbe, wo jeder frei leben und entscheiden könne, so wie er wollte. Aber so richtig vorstellen konnte man sich das nicht. Das mochte ja schön sein: ganz frei und ohne Vorschriften zu leben. Aber wie sollte das funktionieren? Wer sagte einem denn dann, was man überhaupt tun und lassen sollte? Und würde es da nicht am Ende Mord und Totschlag geben, weil jeder sich auf Kosten des anderen durchsetzen wollte? Würde es nicht zwangsläufig dazu kommen, dass die Starken auf Kosten der Schwachen lebten? Und musste man nicht täglich um Hab und Gut, Frau und Kind, Leben und Gesundheit fürchten, wenn da keiner da war, der alle in die Schranken des Gesetzes wies? – Nein, so verlockend die Freiheit auf den ersten Blick sein mochte, am Ende stimmte wohl doch das alte Motto: FREIHEIT IST SKLAVEREI.

Und doch sehnte man sich insgeheim nach der Freiheit, vor der man sich zugleich fürchtete. Und so blieb alles, wie es war.

Aber dieses Nachbarland, es existierte wirklich: Ein Land, wo vollständige Freiheit herrschte, wo es keine Gesetze gab und wo es – anders als man vermuten könnte – allen gut ging, wo alle glücklich waren und ohne Angst leben konnten.

Wie war das möglich? – Es lag an den Menschen dieses Landes. Sie brauchten keine Gesetze, weil sie sich ohne Zwang immer wieder dafür entschieden, niemand anderem zu schaden, dem Mitmenschen dasselbe zu gönnen, was man selber für sich in Anspruch nahm. Warum sollte einer einen anderen bestehlen, berauben, töten, ihm die Frau ausspannen oder auch nur ihn beleidigen, wenn man doch selber nicht bestohlen, beraubt, getötet, betrogen oder beleidigt werden wollte? Man wusste oder ahnte wie es jemandem geht, der arm war oder krank, der Schmerzen litt oder Mangel; und darum half man ihm, wieder auf die Beine zu kommen, körperlich oder materiell oder auch mit seelischem Beistand. Selbst eine Straßenverkehrsordnung war überflüssig, weil sich alle vernünftig und zuvorkommend verhielten. Gewisse Regeln, wie das Rechtsfahren hatten sich schon eingebürgert, aber dafür brauchte man doch keine Gesetze! Und mit den Steuern und Abgaben – tja, wozu hätte man die gebraucht? Man gab dem, der etwas brauchte. Man sammelte und legte zusammen, wo es ein größeres Projekt erforderte. Man unterstützte freiwillig seine Kirche oder seinen Verein. Wozu sollte man denn zu etwas verpflichtet werden, wofür man sich doch freiwillig engagierte? – In diesem Land konnten die Menschen völlig frei und ohne Gesetze und Vorschriften leben, weil diese Menschen völlig erfüllt waren vom Geist der Liebe.

Eines Tages kam einer in das Land der Gesetze und der Unfreiheit und sagte den Menschen: "Ihr könnt frei sein. Ihr könnt mit mir kommen ins Land der Freiheit. Die Grenzen sind offen." Aber leider war das nicht erlaubt, dass man das sagte. Und deshalb wusste es lange Zeit keiner, und deshalb auch wurde er bestraft, hingerichtet dafür, dass er vom Land der Freiheit erzählte und die Menschen einlud, mit ihm dorthin zu gehen.
Aber jetzt wussten sie es. Und sie würden es nicht wieder vergessen: Man konnte, wenn man wollte, dorthin, da, wo man ohne Zwang und ohne Angst in Freiheit und in Liebe miteinander leben konnte.


Liebe Schwestern und Brüder, Gott stellt uns vor die Wahl: Wollen wir im Land des Gesetzes leben oder im Land der Freiheit?

Wenn wir im Land des Gesetzes leben, dann müssen wir Gottes Vorschriften erfüllen, bis zum letzten Komma und bis in unsere Gedanken und unsere Gesinnung hinein. Ansonsten werden wir früher oder später bestraft, schlimmstenfalls sogar mit ewigem Heulen und Zähneklappern.

Wenn wir im Land der Freiheit leben, dann müssen wir gar nichts erfüllen, sondern dann sind wir erfüllt: nämlich von Gottes Geist der Liebe. Wir sind frei, wir müssen uns nicht vor Gericht und Strafe fürchten, wir müssen nicht in Angst leben, wir könnten etwas falsch machen oder vielleicht auch nur falsch denken oder glauben und würden irgendwann dafür die Quittung präsentiert bekommen.

Erinnert ihr euch an Martin Luther? Er kannte Gott zuerst nur als den Gesetzgeber, der fordert und straft. Und weil Luther ein sehr gewissenhafter Mensch war, hatte er ständig ein schlechtes Gewissen vor Gott. Wenn Gott sogar die Gedanken kontrolliert, dann nützen auch die guten Taten nichts. Er durchschaut es ja, dass sie nur aus Angst vor der Strafe getan waren, mit Widerstand und ohne innere Freude. So ist Luther an Gott verzweifelt, so wie die Einwohner jenes Landes, von dem ich erzählt habe, verzweifelten, weil es keine Gewissheit gab, dass sie jemals alle Gesetze und Vorschriften wahrhaftig und von Herzen würden erfüllen können.

Und dann entdeckte Martin Luther das Evangelium, die frohe Botschaft Jesu vom Land der Freiheit. Besonders deutlich aufgeschrieben fand er sie im Galaterbrief, aus dem der heutige Predigttext genommen ist. Dort steht es schwarz auf weiß: Der Mensch wird nicht durch die Werke des Gesetzes gerecht, sondern durch den Glauben an Jesus Christus. – Nicht das Gesetz erfüllen, sondern sich erfüllen lassen – von dem, der allein das ganze Gesetz erfüllt hat – bis zur letzten Konsequenz, der Todes- und Höllenstrafe. Das ist Liebe: Leiden und sterben, damit die anderen Leben können! Das hat Jesus für uns getan – für uns! – damit wir, die wir Gottes Forderungen im Gesetz gar nicht erfüllen können, die Konsequenzen nicht tragen müssen, weil wir nicht mehr im Land des Gesetzes, sondern mit ihm im Land der Freiheit leben. – Durch Jesus Christus sind wir sind frei. Und wir sind erfüllt von der Liebe Jesu Christi.

Und so ist auch das Leben in diesem besseren Land, in diesem freien Land, im Reich Gottes, Leben in der Liebe. Wenn wir erfüllt sind von Gottes Liebe, dann brauchen wir keine Gesetze und Vorschriften mehr.
Martin Luther konnte dann in Freiheit entscheiden, welche Gesetze und Ordnungen für ihn noch sinnvoll waren und welche nicht, ohne Angst vor schlimmen Konsequenzen. So hat er den ganzen Klosterkram hinter sich gelassen: Du musst nicht fasten. Du musst keine Gebetszeiten einhalten. Du musst nicht deine Sexualität verleugnen … So hat er gesagt: Es kann verschiedene Formen von Gottesdienst geben: Es muss nicht die römische Messe sein. Hauptsache das Evangelium wird verkündigt. Und er hat gesagt: Taufe, Beichte und Abendmahl sind keine Gesetze, mit denen wir Gott einen Gefallen tun, wenn wir sie einhalten, sondern es sind Gottes Geschenke und Angebote an uns, die wir dankbar annehmen dürfen. Er hat über die Freiheit eines Christenmenschen gesprochen, der niemandem untertan ist, der sich an kein Gesetz halten muss, und der sich doch in der Liebe seinem Nächsten, seinem Mitmenschen unterordnet und ihm dient …

Liebe Schwestern und Brüder, wir müssen uns entscheiden, immer wieder, auch heute: Wollen wir in einer Kirche und in einer Gemeinschaft leben, die möglichst genaue Vorschriften macht, was man als Christ tun und lassen soll, was man zu glauben hat und was nicht, und die den Zugang zum Himmelreich daran knüpft, dass wir diese Vorschriften einhalten? Oder wollen wir eine Kirche sein, in der wir aus freien Stücken entscheiden, wie wir glauben und leben wollen, und uns dabei immer neu am Maßstab der Liebe ausrichten, eine Kirche, in der schon etwas vom Himmelreich da ist?

Du musst dich entscheiden: Willst du Gottes Gesetze und Vorschriften einhalten, alles richtig machen, ein moralisches Leben führen und die richtigen Glaubensüberzeugungen haben – mit der unsicheren Aussicht, dafür vielleicht mal, wenn du alles richtig gemacht hast, bei Gott anzukommen? Oder willst du in Gottes Freiheit leben – ohne Gesetze und Vorschriften, mit dem Risiko Fehler zu machen, aber in der Gewissheit geliebt und angenommen zu sein, schon jetzt und dann auch für alle Ewigkeit?

Was willst du: Sicherheit oder Freiheit? Gehorsam oder Liebe? Buchstabentreue oder geistliche Weite? Gesetz oder Evangelium?

Ich habe mich entschieden: für die Freiheit.

Sonntag, 12. August 2012

Predigt am 12. August 2012 (10. Sonntag nach Trinitatis)


O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!
Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, sondern die es einsammeln, sollen's auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums.
Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen „Heiliges Volk“, „Erlöste des HERRN“ und dich wird man nennen „Gesuchte“ und „Nicht mehr verlassene Stadt“.
Jesaja 62, 6-12


Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem!
Jerusalem, du hoch gebaute Stadt, wollt Gott, ich wär in dir!
Wachet auf, ruft uns die Stimme der Wächter sehr hoch auf der Zinne, wach auf, du Stadt Jerusalem!

Liebe Schwestern und Brüder,

unser christliches Gesangbuch ist voller zionistischer Lieder. Ich meine Lieder und Texte, die von Zion und Jerusalem singen, von Israel und Gottes Volk. Und doch ist das ein sehr merkwürdiger Zionismus; er hat mit dem, was wir normalerweise unter 'Zionismus' verstehen, wenig zu tun. Denn das Israel, das da besungen wird, das sind keine Juden, sondern das sollen wir Christen sein:
Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit, lobt ihn mit Schalle, werteste Christenheit! Er lässt dich freundlich zu sich laden. Freue dich, Israel, seiner Gnaden.
Das Jerusalem, das da besungen wird, ist nicht die faszinierende Stadt im Nahen Osten, die heute Hauptstadt des jüdischen Staates Israel ist, sondern ein überirdisches, himmlisches Jerusalem, die ewige Heimstadt der erlösten Christen. Und Zion, das steht hier nicht für diesen Berg und dieses Land, wo sich heute das jüdische Volk sammelt, sondern für die „werteste Christenheit“, die ihren König Jesus mit offenem Herzen empfängt:
Dein Zion streut dir Palmen und grüne Zweige hin, und ich will dir in Psalmen ermuntern meinen Sinn.
Das alles ist ein vergeistigter, ein symbolisch umgedeuteter christlicher Zionismus.

Ich will gar nicht sagen, dass das nicht seine Berechtigung hätte. Aber es schwingt da etwas Unangenehmes mit: Die Enterbung derer, die diese Worte geprägt haben und denen sie bis heute etwas anderes, etwas Großes bedeuten. Nichts Vergeistigtes, sondern eine irdische und reale Wirklichkeit, die für sie doch zugleich etwas vom Himmel hat: die real existierende Stadt Jerusalem, das alte Land und der moderne Staat Israel.

Christen haben gemeint, sie seien das neue Israel, und das hieß dann auch: das bessere Israel. Das neue erwählte Gottesvolk, und das hieß dann auch: das alte Gottesvolk war verworfen. Es hatte seine Schuldigkeit getan in Gottes Heilsgeschichte, und nun konnte es gehen, verschwinden aus der Geschichte. Die Eroberung und Zerstörung des irdisch-realen Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. schien das zu bestätigen: Die Juden, die Jesus Christus abgelehnt hatten, konnten jetzt mit ihrem Tempel, mit ihrer Heiligen Stadt und ihrem von Gott gegebenen Land verschwinden. Die Geschichte, die sie mit Gott gehabt hatten, war nur noch Vorgeschichte für das, was Gott mit Jesus Christus neu begonnen hatte. Die Worte ihrer Propheten und ihrer Gebete konnten als Hinweise auf Jesus Christus verstanden oder als symbolische Aussagen über die christliche Erlösung neu interpretiert werden. Insgesamt waren sie aber nur noch Altes Testament, denn Gott hatte ja ein Neues Testament aufgesetzt. Das alte galt eigentlich gar nicht mehr.

Kurz: Die Christen verstanden sich als die legitimen Erben des alten Volkes Israel. Dass es überhaupt noch Juden gab, dass dieses Volk mit seinem Glauben nicht ausstarb und nicht totzukriegen war, bzw. dass sie nicht zur Einsicht kamen, dass sie doch besser Christen werden sollten, das war fast so etwas wie ein Fehler im System.

Wir alle wissen von der Geschichte des jüdischen Volkes im vergangenen Jahrhundert. Wir wissen von dem Versuch, diesen „Systemfehler“ zu beseitigen, die Juden auszurotten. Und wir wissen, dass das nicht gelungen ist und wie dieses geschundene Volk wieder eine Heimstatt fand im Land ihrer Väter, im Land der Verheißung, und einen eigenen Staat.

Dort, bei ihnen, bei den Juden, die den Vernichtungslagern entkamen, die nach Israel zurückgekehrt sind oder sich immer noch nach Rückkehr sehnen oder die, wo immer sie auch gegenwärtig leben, doch dem Land Israel verbunden sind, bei ihnen, die dieses Land lieben und bewahren und verteidigen, die ihm in einer Weise verbunden sind, die wir gar nicht nachempfinden können, bei ihnen ist der Ausdruck Zionismus eigentlich und mit Recht zu Hause. Sie reden mit Recht von ihrer Sehnsucht nach Zion und von ihrer Liebe zu Jerusalem. Und sie berufen sich mit Recht auf die Worte und Verheißungen Gottes für Israel, für Jerusalem, für Zion.

Zu diesen Worten und Verheißungen gehört auch unser Predigttext aus dem Jesajabuch.

Es ist ein Hoffnungswort aus einer Zeit, als Jerusalem halb zerstört darniederlag, als man nicht wissen konnte, wie es weitergehen würde mit dieser gedemütigten Stadt, weil sie immer unter fremder Herrschaft stand.

Aber doch war da Gottes Verheißungswort: Sie würde wieder Heimat und Glaubenszentrum für das Gottesvolk sein. Gott würde wieder hier wohnen, und die Völker der Welt würden auf diese Stadt schauen und zu dieser Stadt pilgern. Sie würde wieder das werden, was ihr Name bedeutet: Stadt des Friedens. Gottes Volk würde hier in Frieden leben und die Früchte seiner Arbeit genießen. Gott hatte es geschworen, Gott, der sein Volk vor vielen hundert Jahren aus der ägyptischen Sklaverei geführt hatte, Gott, der seinem Volk vor wenigen Jahren den Weg aus der babylonischen Gefangenschaft geebnet hatte, dieser mächtige Gott, der Himmel und Erde gemacht hat, er würde sein Jerusalem wieder erstehen lassen und sein Volk dort in Frieden und Sicherheit leben lassen.

Und dann wurde diese Hoffnung weiter getragen durch die Jahrhunderte und Jahrtausende, in denen es manchmal so aussah, als sei diese verheißene Zeit des Friedens, des Schalom Gottes für Jeruschalajim zum Greifen nahe, in denen es aber viel, viel öfter so aussah, als würde nichts davon bleiben als die christlich vergeistigte Version des neuen Jerusalems im Himmel.

Das irdische Jerusalem wurde in diesen Jahrhunderten regiert von Babylon, Schuschan, Theben, Alexandria, Antiochia, Rom, Byzanz, Damaskus, Bagdad, Kairo, Aleppo, Konstantinopel, London und Amman aus. – Heute ist es die Hauptstadt eines Staates der nach Gottes Volk genannt ist. Es gibt sie noch, und es gibt dieses Volk noch, wo doch die meisten derer, die es einmal beherrscht haben, untergegangen sind!

Damals, vor zweieinhalb Jahrtausenden prägte der Prophet das Wort von den Wächtern über Jerusalems Mauern, die Gott erinnern sollten an seine Verheißung. – Und es hat sie wohl gegeben diese Wächter, all die Jahrhunderte hindurch. Diejenigen, die für Jerusalem gehofft und gebetet haben, die für ihr Volk bei Gott eingetreten sind. – Und wir Christen haben nicht dazugehört; wir waren nur mit dem himmlischen Jerusalem beschäftigt, wenn wir nicht gerade das irdische Jerusalem im Kreuzzug für uns erobern mussten.

Heute sieht es so aus, als seien diese Wächtergebete erhört. Was Jerusalem und Israel heute ist, darin erfüllt sich die biblische Verheißung. Freilich noch nicht vollkommen, freilich immer noch gefährdet. Jerusalem ist immer noch die Stadt eines sehr unsicheren Friedens. Aber es ist doch der Ort einer großen Hoffnung, und wer einmal dort gewesen ist, wer mit israelischen Juden gesprochen hat, der ahnt etwas davon, was sie dort gefunden haben, was ihnen ihr Land und ihre Stadt bedeuten, und der versteht ein wenig besser, warum das moderne Israel ist, wie es ist.

Jerusalem braucht auch heute Wächter. Beter, die für Israel beten und Gott an seine Verheißung erinnern, jawohl. Aber auch Menschen, die offen und offensiv eintreten für das jüdische Volk, für die jüdische Religion und für den modernen Staat Israel.

Denn wir erleben auf der anderen Seite zunehmend wieder Hass auf Israel und die Juden. Manchmal nennt man das vornehm „Kritik an Israel“, und doch wird dabei oft nicht weniger kritisiert, als dass Israel sich nicht einfach von der Landkarte wischen lässt. Das Verständnis für Terroristen wie die Hamas im Gazastreifen oder für ausgemachte Antisemiten wie den Holocaustleugner in Teheran ist bei diesen Leuten weit ausgeprägter als das Verständnis dafür, dass man sich vor solchen Leuten schützt, auch mit Waffen schützt. Manchmal nennt man es auch „Kritik an archaischen Bräuchen“ und kann und will nicht verstehen, dass man mit der Beschneidung das Zeichen des Bundes Gottes mit seinem Volk angreift, das ihm heilig und verbindlich ist. Manchmal identifiziert man kurzerhand das angeblich so böse Finanzsystem mit bestimmten jüdischen Namen. Manchmal fantasiert man die jüdische Weltverschwörung herbei. Und manchmal sagt man, wenn Israelis Opfer eines Anschlags werden, wie kürzlich im bulgarischen Burgas: Die sind doch selber schuld. – Der moderne Antisemitismus und Antizionismus hat viele Gesichter; aber er greift um sich, und es gehört zunehmend Mut dazu, klar und eindeutig Partei für Israel zu ergreifen.

Gerade darum möchte ich zur Wachsamkeit aufrufen, dabei sein bei denen, die über Jerusalem wachen, und bei denen, die für Israel beten.

Ich möchte schließen mit einem Zitat von Avita Ben-Chorin*, die in Jerusalem lebt:

Der Prophet Jesaja ruft die Wächter der Stadt auf, dem HERRN keine Ruhe zu lassen, bis er Jerusalem wieder aufrichte zum Lobpreis auf Erden. Wir müssen heute dankbar erkennen, dass Jerusalem wieder aufgerichtet ist, größer als es je war. Die Bewohner der Stadt haben da allerdings dem HERRN etwas geholfen. Und dennoch: Das Wort des Propheten wurde Wirklichkeit in unseren Tagen. Aber es fehlt vorerst die Verwirklichung der Verheißung „zum Lobpreis auf Erden“. Die Völker – und auch wir – sollten erkennen, dass mit uns Großes geschehen ist. So richtet die Tochter Zion wirklich ein Zeichen für die Völker auf.
Ich möchte an dieser Stelle von einem Erlebnis in der so umstrittenen Stadt erzählen, das mir zu einem Zeichen wurde. Am 29. Juni 1967, kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg, als Stacheldraht und Minen im Niemandsland der 19 Jahre lang geteilten Stadt hinweggeräumt waren, Jerusalem wieder vereinigt war, wurde der Weg zwischen Ost und West freigegeben. Die Israelis strömten in die Altstadt, Araber (die sich damals noch nicht Palästinenser nannten) in die westliche Neustadt. Alle wollten wissen, wie es bei den anderen aussieht. Mir begegneten arabische Nachbarn und man lächelte sich an. Dies ganz kurz nach dem Krieg! Es wurde mir klar: Hier gingen neugierige Nachbarn aufeinander zu. Ich empfand es wie eine messianische Stunde.
Wer solches erlebt hat, glaubt daran, dass es wieder geschehen wird, dass zu der Tochter Zion ihr Heil kommen wird und vor allem Frieden.

Sonntag, 5. August 2012

Predigt am 5. August 2012 (9. Sonntag nach Trinitatis)


Liebe Schwestern und Brüder,

was ist der Sinn des Lebens? Nein, konkret, was ist der Sinn deines Lebens? Wozu bist du auf der Welt? Was ist dein Auftrag, deine Bestimmung, deine Berufung? Weißt du das? Hast du dir darüber Gedanken gemacht? - Vermutlich ja. Du kommst ja in die Kirche, du glaubst ja an einen Gott, der deinem Leben seinen Sinn gibt – SEINEN Sinn, also Gottes Sinn. Du glaubst ja an einen Gott, der dich gewollt und geschaffen hat. Du bist also für etwas gut.

Wofür ganz genau, was der ganz große Plan Gottes ist, oder was der ganz kleine und spezielle Plan für dein Leben ist, das wirst du wahrscheinlich nicht ganz so klar beantworten können. Du wirst es vielleicht immer neu herausfinden müssen. Und wahrscheinlich ist es am einfachsten, wenn du Gott jeden Tag, jeden Morgen fragst: "Was ist dein Plan für mich heute? Was ist dein Auftrag, den ich diesen Tag erfüllen soll? Was ist der Sinn, nicht meines ganzen Lebens, sondern was ist der Sinn des heutigen Tages?" Und genau so kannst du am Abend Bilanz ziehen: "Was war der Sinn dieses Tages? Wo habe ich Gottes Auftrag erfüllt, wo nicht?"


Hört als Predigttext die Worte eines Menschen, der den Sinn seines Lebens gefunden hat, weil er Gottes Ruf gehört und verstanden hat. Es sind Worte des Propheten Jeremia, aufgeschrieben im 1. Kapitel des gleichnamigen Prophetenbuchs:

Des HERRN Wort geschah zu mir: „Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker.“ – Ich aber sprach: „Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.“ – Der HERR sprach aber zu mir: „Sage nicht: 'Ich bin zu jung', sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR.“ Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: „Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst – und bauen und pflanzen.“


Liebe Schwestern und Brüder,

wahrscheinlich hätte Jeremia gerne auf diese Berufung verzichtet. Obwohl, wenn er gewusst hätte, dass sein Name und seine Geschichte noch nach über zweieinhalb Jahrtausenden bekannt sein würde … Aber ist es das wirklich? Kann das der Sinn des Lebens sein: Berühmt werden, so dass noch spätere Generationen von einem sprechen? – Ich denke, zumindest käme es darauf an, wofür einer berühmt wird … Jeremia ist berühmt geworden, nicht weil er dazu berufen wurde, berühmt zu werden, sondern weil er seiner Berufung gefolgt ist.

Jeremias Berufung war es nicht, berühmt zu werden oder gar populär zu werden. Jeremias Berufung war es, Gottes Wort zu sagen, und zwar denen, bei denen es gerade nicht populär war. Jeremia war kein selbst ernannter Querdenker, kein unbequemer Intellektueller, keiner, der gerne irgendwie auf sich aufmerksam machen wollte. Im Gegenteil, er hätte gerne ein ganz normales und unscheinbares Leben gelebt. Von der Familientradition her hätte er einen recht angenehmen, wohl geordneten und gut bezahlten Job als Priester machen können. Das wäre es doch gewesen.

Aber Gottes Berufung für sein Leben war halt eine andere. Eine, gegen die er sich sträubte: "Ich kann nicht, ich will nicht, ich bin zu jung." Und später mit verzweifelten Anklagen: "O Gott, was hast du mir angetan mit dieser Berufung! Wäre ich doch nie geboren worden!" Und noch später mit stiller Ergebung, als ihn seine Landsleute mitschleppen nach Ägypten, wohin sie fliehen vor den Babyloniern. Vor den Babyloniern, vor denen Jeremia gewarnt hatte. Nach Ägypten, wohin sie nie hätten gehen dürfen, wenn sie auf seine Worte gehört hätten. Dort verlieren sich seine Spuren …

War das der Sinn seines Lebens? Vor einem Schicksal warnen, das dann doch unausweichlich kam, weil es kommen musste? Gottes Wort sagen in der Gewissheit, dass sich doch keiner drum scheren würde? Und die Konsequenzen dieser geistlichen Gehörlosigkeit, dieses Ungehorsams, dieser Verstocktheit am eigenen Leibe erleiden müssen? War das der Sinn seines Lebens? – Jeremia hat sich diese Frage gestellt, und er hat von Gott die Antwort bekommen: "Ja, das ist dein Auftrag. Dazu habe ich dich bestimmt und berufen. Das ist der Sinn deines Lebens. Und darin stehe ich auch zu dir, von Anfang bis Ende."


Die Berufung Jeremias ist eine sehr spezielle. Sie ist nicht deine und nicht meine. Was deine Berufung ist, das erfährst du im täglichen Umgang mit deinem Gott.

Aber wir können lernen auch aus der Berufung Jeremias:

Und da lernen wir zuerst, dass der Sinn des Lebens nicht unbedingt dasselbe ist wie ein immer glückliches und leidfreies Leben. Auch ein hartes und leidgeprüftes Leben kann sinnvoll und gesegnet sein. So wie es das Leben Jeremias war.

Und dann lernen wir noch drei Dinge, die nicht nur für Jeremia richtig und wichtig sind, sondern für jeden, den Gott beruft.

Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest. Gott sagt: Ich kenne dich! Das ist das erste.

Gott kennt dich von Anfang an, von Ewigkeit her. Und er hat etwas vor mit dir. Von Anfang an, von Ewigkeit her. Dazu musst du kein Jeremia sein. Auch du bist von Gott gewollt und erwählt.

Wir haben mit dem Psalm am Anfang die Antwort darauf, das Gebet eines Menschen mitgesprochen, der das für sich erkannt hat: Herr, du erforschst mich und kennst mich.

Es ist für mich etwas ganz Großes und eben auch etwas ganz Wesentliches in dieser Gewissheit: Der ewige Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, er kennt mich – persönlich und besser als jeder andere. Da fühle ich mich geborgen und gehalten und verstanden. Da werde ich mir ganz sicher, dass mein Leben bei ihm seinen Sinn hat.

Gott sagt: Ich kenne dich! Du bist erwählt.

Weiter: Du sollst gehen, wohin ich dich sende. Gott sagt: Ich brauche dich! Das ist das zweite.
Da kommt fast immer eine Ausrede, ein Einwand: "Warum gerade mich? Ich bin zu jung. Ich kann das gar nicht, was du verlangst. Nimm doch einen anderen." – Man könnte das an vielen Berufungsgeschichten der Bibel durchdeklinieren: Mose, Jesaja, ja schon Abraham (Der sagt nicht: „Ich bin zu jung“, sondern „Ich bin zu alt.“).

Welchen Einwand hast du, wenn Gott dich ruft? Zu alt, zu faul, zu unqualifiziert, zu schüchtern, zu eitel, zu kleingläubig, zu großspurig …? – Eins musst du wissen: Im Ernstfall zählt das alles nicht bei Gott. Er räumt deinen Einwand beiseite. Sage nicht: Ich bin zu … - jung, sagt er zum Beispiel zu Jeremia. Und dann schafft er Abhilfe: Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: „Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund.“ Wem Gott einen Auftrag gibt, dem gibt er auch die nötigen Fähigkeiten dazu. Gabe und Aufgabe gehören zusammen. So und so: Wenn Gott dir eine Aufgabe gibt, dann gibt er dir auch die nötige Gabe.

Es kann auch umgekehrt sein: Wenn du noch nicht weißt, wozu du von Gott beauftragt bist, dann schau auf deine Gaben, was du damit tun kannst. Gaben sind auch Aufgaben.

Eines sollst du wissen: Wenn Gott etwas von dir fordert, so wird er dich doch nicht überfordern.

Gott sagt: Ich brauche dich! Du bist begabt.

Und nun das dritte: Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten. Gott sagt: Ich schütze dich!

Fürchte dich nicht!, ist ein ganz wichtiges und immer wiederkehrendes Wort Gottes an die, die er kennt und braucht. Denn beängstigend, ja furchteinflößend ist das allemal, wenn der allmächtige Gott etwas von dir fordert. Beängstigend und furchteinflößend ist es zumal, wenn du etwas tun sollst, das den gängigen Meinungen und Verhaltensweisen entgegensteht. Opposition erfordert Mut. Das ist schon im Kleinen so, wenn ich sagen muss: "Nein, das sehe ich anders." Oder: "Ich glaube, da liegst du falsch." Es kostet immer ein bisschen Überwindung, anders zu sein als die anderen.

Jeremia war berufen extrem anders zu sein, dem Mainstream und den Mächtigen offen zu widersprechen, und dafür ist er nicht nur gehasst, sondern auch verhört, verhaftet, gefoltert, verschleppt und gedemütigt worden. Das erforderte viel Mut und Durchhaltevermögen, ja Furchtlosigkeit. Und es ging wohl nur, weil er es nicht nur wusste, sondern immer auch wieder spürte, dass der HERR bei ihm war und ihn errettete – trotz allem. Am Ende zählt es eben nicht, auf der Seite der Mehrheit oder der Mächtigen gewesen zu sein, sondern auf Gottes Seite.

Wenn ich das sage, schwingt da immer ein bisschen unserer Erfahrung vom Christsein in der DDR mit. Aber ich glaube, auch Christsein in der Bundesrepublik oder im heutigen Europa wird nicht einfacher werden. Christlicher Glaube ist nicht mehr Mainstream. Und einige Vorreiter der öffentlichen und veröffentlichten Meinung treten immer aggressiver gegen Religion und Christentum auf. Ich will das heute nicht vertiefen.

Aber ich will dir sagen: Wo und wann immer du Angst bekommst, wo die Furcht nach dir greift, du könntest Gottes Berufung nicht gewachsen sein, da sagt er dir: "Fürchte dich nicht! Ich schütze dich. Ich behüte und bewahre dich. Was auch kommen mag!"

Gott sagt: Ich schütze dich! Du bist gesegnet.

Woher ich das weiß, dass Gott das auch zu dir sagt: Ich kenne dich. Ich brauche dich. Ich schütze dich? – Ich weiß es, weil du getauft bist. Und weil Gott genau das einem jeden Christenmenschen in der Taufe zusagt und verspricht, und es so auch dir zugesagt und versprochen hat: Ich kenne dich. Ich brauche dich. Ich schütze dich.

Gott gibt deinem Leben seinen Sinn: Er beruft dich nach seinem Willen. An dir ist es, seinen Ruf zu hören und ihm zu folgen, Tag für Tag. Dazu bist du erwählt, begabt und gesegnet.