Galater 2, 16-21
Liebe Schwestern und Brüder,
es war einmal ein Land, in dem war
alles genau geregelt und vorgeschrieben. Es gab da Gesetze und
Verordnungen für alle Lebensbereiche. Nicht nur wie lang Gurken und
wie krumm Bananen sein dürfen, war da vorgeschrieben. Nicht nur wie
schnell man auf der Straße fahren darf und wie weit man zu Fuß
gehen darf. Natürlich waren Diebstahl, Raub und Mord und was
dergleichen mehr ist, verboten. Auch Ehebruch stand unter Strafe.
Aber es ging noch weiter. Es gab Regelungen, wer wen zu heiraten
hatte. Es gab Vorschriften für die richtige Ernährung. Es gab
natürlich auch eine Steuer- und Abgabenordnung, an die sich alle zu
halten hatten. Aber nicht nur das Verhalten der
Menschen war reglementiert, auch ihr Denken und Fühlen. Die
Religion, was sie zu glauben hatten, war vorgeschrieben, denn mit
einem falschen Glauben würden sie ja zur Hölle fahren; davor
mussten sie geschützt werden. So war falscher Glaube und auch
falsches Denken verboten. Es reichte nicht, sich äußerlich an die
Gesetze zu halten, man durfte nicht mal daran denken, ein Gesetz zu
übertreten. Auf einen anderen wütend zu werden, ihn gar zu hassen,
das war schon fast ein Mord. Dafür konnte man vor Gericht gestellt
werden. Einer Frau oder einem Mann hinterherzusehen, erst recht wenn
sie oder er gut aussah, das war schon fast Ehebruch. Auch dafür
wurde man zumindest öffentlich verwarnt. Es war auch untersagt, über
ein festgelegtes Maß hinaus mehr zu besitzen als der Durchschnitt
der Menschen. Es wurde darüber gewacht, dass jeder freiwillig – so
nannte man das – abgab, bis alle ungefähr gleich viel hatten.
Diese Gesetze wurden, wie gesagt,
streng überwacht. Man passte aufeinander auf, dass sich auch die
anderen daran hielten. Es war selbstverständlich, den Nachbarn
anzuzeigen, wenn man ihn bei etwas Verbotenem erwischte. Es war
schließlich in seinem Interesse. So konnte er noch rechtzeitig
zurecht gebracht werden. Wie das geschah, blieb den zuständigen
Behörden überlassen. In einigen Fällen wurde schnell eine harte
Strafe verhängt – ein paar Jahre Haft. Oft beließ man es aber bei
einer öffentlichen Ermahnung. Manchmal passierte auch gar nichts,
jahrelang. Aber das war eigentlich das schlimmste, denn man wusste,
dass nichts verjährt und irgendwann würde die Strafe kommen. Man
würde ausgeschlossen und ausgestoßen werden aus der Gemeinschaft,
an einen Ort verbannt, der nach allem, was man hörte grausam, kalt
und finster war und wo Heulen und Zähneklappern herrschte.
So ungefähr ging es zu in diesem Land.
Die Menschen waren durch Gesetze und Ordnungen zu einem vernünftigen
Leben gezwungen. Die Herrschenden in diesem Lande waren
der Meinung, die Menschen müssten glücklich sein. Denn sie waren ja vor Verbrechen und Armut geschützt. Sie waren sogar davor geschützt,
dass ihnen jemand den Ehepartner ausspannte oder dass jemand ein böses Wort über sie sagte. Aber in Wahrheit waren sie nicht glücklich.
Sie spürten es, dass ihnen etwas fehlte, und sie merkten, wie
beständig ein Druck auf ihnen lastete, die Angst davor, doch etwas Falsches zu machen, etwas Falsches zu tun, zu sagen, zu denken und
dafür zur Verantwortung gezogen zu werden, vielleicht sogar
verurteilt und für immer verbannt an jenen grausamen, finsteren Ort.
Unter den Einwohnern des Landes ging –
trotz aller Verbote – ein Gerücht um, dass es da noch ein
Nachbarland gäbe, in dem es ganz anders zuginge. Es sollte ein Land
sein, in dem es gar keine Gesetze gäbe, wo jeder frei leben und
entscheiden könne, so wie er wollte. Aber so richtig vorstellen
konnte man sich das nicht. Das mochte ja schön sein: ganz frei und
ohne Vorschriften zu leben. Aber wie sollte das funktionieren? Wer
sagte einem denn dann, was man überhaupt tun und lassen sollte? Und
würde es da nicht am Ende Mord und Totschlag geben, weil jeder sich
auf Kosten des anderen durchsetzen wollte? Würde es nicht
zwangsläufig dazu kommen, dass die Starken auf Kosten der Schwachen
lebten? Und musste man nicht täglich um Hab und Gut, Frau und Kind,
Leben und Gesundheit fürchten, wenn da keiner da war, der alle in
die Schranken des Gesetzes wies? – Nein, so verlockend die Freiheit
auf den ersten Blick sein mochte, am Ende stimmte wohl doch das alte
Motto: FREIHEIT IST SKLAVEREI.
Und doch sehnte man sich insgeheim nach der
Freiheit, vor der man sich zugleich fürchtete. Und so blieb alles,
wie es war.
Aber dieses Nachbarland, es existierte
wirklich: Ein Land, wo vollständige Freiheit herrschte, wo es keine
Gesetze gab und wo es – anders als man vermuten könnte – allen
gut ging, wo alle glücklich waren und ohne Angst leben konnten.
Wie war das möglich? – Es lag an den
Menschen dieses Landes. Sie brauchten keine Gesetze, weil sie sich
ohne Zwang immer wieder dafür entschieden, niemand anderem zu
schaden, dem Mitmenschen dasselbe zu gönnen, was man selber für
sich in Anspruch nahm. Warum sollte einer einen anderen bestehlen,
berauben, töten, ihm die Frau ausspannen oder auch nur ihn
beleidigen, wenn man doch selber nicht bestohlen, beraubt, getötet,
betrogen oder beleidigt werden wollte? Man wusste oder ahnte wie es
jemandem geht, der arm war oder krank, der Schmerzen litt oder
Mangel; und darum half man ihm, wieder auf die Beine zu kommen,
körperlich oder materiell oder auch mit seelischem Beistand. Selbst
eine Straßenverkehrsordnung war überflüssig, weil sich alle
vernünftig und zuvorkommend verhielten. Gewisse Regeln, wie das
Rechtsfahren hatten sich schon eingebürgert, aber dafür brauchte
man doch keine Gesetze! Und mit den Steuern und Abgaben – tja, wozu
hätte man die gebraucht? Man gab dem, der etwas brauchte. Man
sammelte und legte zusammen, wo es ein größeres Projekt erforderte.
Man unterstützte freiwillig seine Kirche oder seinen
Verein. Wozu sollte man denn zu etwas verpflichtet werden, wofür man
sich doch freiwillig engagierte? – In diesem Land konnten die
Menschen völlig frei und ohne Gesetze und Vorschriften leben, weil
diese Menschen völlig erfüllt waren vom Geist der Liebe.
Eines Tages kam einer in das Land der
Gesetze und der Unfreiheit und sagte den Menschen: "Ihr könnt frei
sein. Ihr könnt mit mir kommen ins Land der Freiheit. Die Grenzen
sind offen." Aber leider war das nicht erlaubt, dass man das sagte.
Und deshalb wusste es lange Zeit keiner, und deshalb auch wurde er bestraft,
hingerichtet dafür, dass er vom Land der Freiheit erzählte und
die Menschen einlud, mit ihm dorthin zu gehen.
Aber jetzt wussten sie es. Und sie würden es nicht wieder vergessen: Man konnte, wenn man wollte, dorthin, da,
wo man ohne Zwang und ohne Angst in Freiheit und in Liebe miteinander
leben konnte.
Liebe Schwestern und Brüder, Gott stellt uns vor die Wahl: Wollen
wir im Land des Gesetzes leben oder im Land der Freiheit?
Wenn wir im Land des Gesetzes leben,
dann müssen wir Gottes Vorschriften erfüllen, bis zum letzten Komma
und bis in unsere Gedanken und unsere Gesinnung hinein. Ansonsten
werden wir früher oder später bestraft, schlimmstenfalls sogar mit
ewigem Heulen und Zähneklappern.
Wenn wir im Land der Freiheit leben,
dann müssen wir gar nichts erfüllen, sondern dann sind wir erfüllt:
nämlich von Gottes Geist der Liebe. Wir sind frei, wir müssen uns
nicht vor Gericht und Strafe fürchten, wir müssen nicht in Angst
leben, wir könnten etwas falsch machen oder vielleicht auch nur
falsch denken oder glauben und würden irgendwann dafür die Quittung
präsentiert bekommen.
Erinnert ihr euch an Martin Luther? Er
kannte Gott zuerst nur als den Gesetzgeber, der fordert und straft.
Und weil Luther ein sehr gewissenhafter Mensch war, hatte er ständig
ein schlechtes Gewissen vor Gott. Wenn Gott sogar die Gedanken
kontrolliert, dann nützen auch die guten Taten nichts. Er
durchschaut es ja, dass sie nur aus Angst vor der Strafe getan waren,
mit Widerstand und ohne innere Freude. So ist Luther an Gott
verzweifelt, so wie die Einwohner jenes Landes, von dem ich erzählt
habe, verzweifelten, weil es keine Gewissheit gab, dass sie jemals
alle Gesetze und Vorschriften wahrhaftig und von Herzen würden
erfüllen können.
Und dann entdeckte Martin Luther das
Evangelium, die frohe Botschaft Jesu vom Land der Freiheit. Besonders
deutlich aufgeschrieben fand er sie im Galaterbrief, aus dem der
heutige Predigttext genommen ist. Dort steht es schwarz auf weiß:
Der Mensch wird nicht durch die Werke des Gesetzes gerecht,
sondern durch den Glauben an Jesus Christus. –
Nicht das Gesetz erfüllen, sondern sich erfüllen lassen – von
dem, der allein das ganze Gesetz erfüllt hat – bis zur letzten
Konsequenz, der Todes- und Höllenstrafe. Das ist Liebe: Leiden und
sterben, damit die anderen Leben können! Das hat Jesus für uns
getan – für uns! –
damit wir, die wir Gottes Forderungen im Gesetz gar nicht erfüllen
können, die Konsequenzen nicht tragen müssen, weil wir nicht mehr
im Land des Gesetzes, sondern mit ihm im Land der Freiheit leben. –
Durch Jesus Christus sind wir sind frei. Und wir sind erfüllt von
der Liebe Jesu Christi.
Und so ist auch das
Leben in diesem besseren Land, in diesem freien Land, im Reich Gottes, Leben in der Liebe. Wenn wir erfüllt sind von Gottes Liebe, dann
brauchen wir keine Gesetze und Vorschriften mehr.
Martin Luther
konnte dann in Freiheit entscheiden, welche Gesetze und Ordnungen für
ihn noch sinnvoll waren und welche nicht, ohne Angst vor schlimmen
Konsequenzen. So hat er den ganzen Klosterkram hinter sich gelassen:
Du musst nicht fasten. Du musst keine Gebetszeiten einhalten. Du
musst nicht deine Sexualität verleugnen … So hat er gesagt: Es
kann verschiedene Formen von Gottesdienst geben: Es muss nicht die
römische Messe sein. Hauptsache das Evangelium wird verkündigt. Und
er hat gesagt: Taufe, Beichte und Abendmahl sind keine Gesetze, mit
denen wir Gott einen Gefallen tun, wenn wir sie einhalten, sondern es
sind Gottes Geschenke und Angebote an uns, die wir dankbar annehmen
dürfen. Er hat über die Freiheit eines Christenmenschen gesprochen,
der niemandem untertan ist, der sich an kein Gesetz halten muss, und
der sich doch in der Liebe seinem Nächsten, seinem Mitmenschen
unterordnet und ihm dient …
Liebe Schwestern
und Brüder, wir müssen uns entscheiden, immer wieder, auch heute:
Wollen wir in einer Kirche und in einer Gemeinschaft leben, die
möglichst genaue Vorschriften macht, was man als Christ tun und
lassen soll, was man zu glauben hat und was nicht, und die den Zugang
zum Himmelreich daran knüpft, dass wir diese Vorschriften einhalten?
Oder wollen wir eine Kirche sein, in der wir aus freien Stücken
entscheiden, wie wir glauben und leben wollen, und uns dabei immer
neu am Maßstab der Liebe ausrichten, eine Kirche, in der schon etwas
vom Himmelreich da ist?
Du musst dich
entscheiden: Willst du Gottes Gesetze und Vorschriften einhalten,
alles richtig machen, ein moralisches Leben führen und die richtigen
Glaubensüberzeugungen haben – mit der unsicheren Aussicht, dafür
vielleicht mal, wenn du alles richtig gemacht hast, bei Gott
anzukommen? Oder willst du in Gottes Freiheit leben – ohne Gesetze
und Vorschriften, mit dem Risiko Fehler zu machen, aber in der
Gewissheit geliebt und angenommen zu sein, schon jetzt und dann auch
für alle Ewigkeit?
Was willst du:
Sicherheit oder Freiheit? Gehorsam oder Liebe? Buchstabentreue oder
geistliche Weite? Gesetz oder Evangelium?
Ich habe mich
entschieden: für die Freiheit.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen