O Jerusalem, ich habe Wächter über
deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht
mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch
Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder
aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!
Der HERR hat geschworen bei seiner
Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr
deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel
Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, sondern die es
einsammeln, sollen's auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn
einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums.
Gehet ein, gehet ein durch die Tore!
Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die
Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der
HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter
Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und
was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen „Heiliges
Volk“, „Erlöste des HERRN“ und dich wird man nennen „Gesuchte“
und „Nicht mehr verlassene Stadt“.
Jesaja 62, 6-12
Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem!
Jerusalem,
du hoch gebaute Stadt, wollt Gott, ich wär in dir!
Wachet auf,
ruft uns die Stimme der Wächter sehr hoch auf der Zinne, wach auf,
du Stadt Jerusalem!
Liebe Schwestern und Brüder,
unser christliches Gesangbuch ist voller zionistischer Lieder. Ich
meine Lieder und Texte, die von Zion und Jerusalem singen, von Israel
und Gottes Volk. Und doch ist das
ein sehr merkwürdiger Zionismus; er hat mit dem, was wir
normalerweise unter 'Zionismus' verstehen, wenig zu tun. Denn das
Israel, das da besungen wird, das sind keine Juden, sondern das
sollen wir Christen sein:
Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit,
lobt ihn mit Schalle, werteste Christenheit! Er lässt dich
freundlich zu sich laden. Freue dich, Israel, seiner Gnaden.
Das
Jerusalem, das da besungen wird, ist nicht die faszinierende Stadt im
Nahen Osten, die heute Hauptstadt des jüdischen Staates Israel ist,
sondern ein überirdisches, himmlisches Jerusalem, die ewige
Heimstadt der erlösten Christen. Und Zion, das steht hier nicht für
diesen Berg und dieses Land, wo sich heute das jüdische Volk
sammelt, sondern für die „werteste Christenheit“, die ihren
König Jesus mit offenem Herzen empfängt:
Dein Zion streut dir
Palmen und grüne Zweige hin, und ich will dir in Psalmen ermuntern
meinen Sinn.
Das alles ist ein vergeistigter, ein symbolisch
umgedeuteter christlicher Zionismus.
Ich will gar nicht sagen, dass das nicht seine Berechtigung hätte.
Aber es schwingt da etwas Unangenehmes mit: Die Enterbung derer, die
diese Worte geprägt haben und denen sie bis heute etwas anderes,
etwas Großes bedeuten. Nichts Vergeistigtes, sondern eine irdische
und reale Wirklichkeit, die für sie doch zugleich etwas vom Himmel
hat: die real existierende Stadt Jerusalem, das alte Land und der
moderne Staat Israel.
Christen haben gemeint, sie seien das neue Israel, und das hieß dann
auch: das bessere Israel. Das neue erwählte Gottesvolk, und das hieß
dann auch: das alte Gottesvolk war verworfen. Es hatte seine
Schuldigkeit getan in Gottes Heilsgeschichte, und nun konnte es
gehen, verschwinden aus der Geschichte. Die Eroberung und Zerstörung
des irdisch-realen Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. schien das zu
bestätigen: Die Juden, die Jesus Christus abgelehnt hatten, konnten
jetzt mit ihrem Tempel, mit ihrer Heiligen Stadt und ihrem von Gott
gegebenen Land verschwinden. Die Geschichte, die sie mit Gott gehabt
hatten, war nur noch Vorgeschichte für das, was Gott mit Jesus
Christus neu begonnen hatte. Die Worte ihrer Propheten und ihrer
Gebete konnten als Hinweise auf Jesus Christus verstanden oder als
symbolische Aussagen über die christliche Erlösung neu
interpretiert werden. Insgesamt waren sie aber nur noch Altes
Testament, denn Gott hatte ja ein Neues Testament aufgesetzt. Das
alte galt eigentlich gar nicht mehr.
Kurz: Die Christen verstanden sich als die legitimen Erben des alten
Volkes Israel. Dass es überhaupt noch Juden gab, dass dieses Volk
mit seinem Glauben nicht ausstarb und nicht totzukriegen war, bzw.
dass sie nicht zur Einsicht kamen, dass sie doch besser Christen
werden sollten, das war fast so etwas wie ein Fehler im System.
Wir alle wissen von der
Geschichte des jüdischen Volkes im vergangenen Jahrhundert. Wir
wissen von dem Versuch, diesen „Systemfehler“ zu beseitigen, die
Juden auszurotten. Und wir wissen, dass das nicht gelungen ist und
wie dieses geschundene Volk wieder eine Heimstatt fand im Land ihrer
Väter, im Land der Verheißung, und einen eigenen Staat.
Dort, bei ihnen, bei den Juden, die den Vernichtungslagern entkamen,
die nach Israel zurückgekehrt sind oder sich immer noch nach
Rückkehr sehnen oder die, wo immer sie auch gegenwärtig leben, doch
dem Land Israel verbunden sind, bei ihnen, die dieses Land lieben und
bewahren und verteidigen, die ihm in einer Weise verbunden sind, die
wir gar nicht nachempfinden können, bei ihnen ist der Ausdruck Zionismus eigentlich und mit Recht zu Hause. Sie reden mit
Recht von ihrer Sehnsucht nach Zion und von ihrer Liebe zu Jerusalem.
Und sie berufen sich mit Recht auf die Worte und Verheißungen Gottes
für Israel, für Jerusalem, für Zion.
Zu diesen Worten und Verheißungen gehört auch unser Predigttext aus
dem Jesajabuch.
Es ist ein Hoffnungswort aus einer Zeit, als Jerusalem halb zerstört
darniederlag, als man nicht wissen konnte, wie es weitergehen würde
mit dieser gedemütigten Stadt, weil sie immer unter fremder
Herrschaft stand.
Aber doch war da Gottes
Verheißungswort: Sie würde wieder Heimat und Glaubenszentrum für
das Gottesvolk sein. Gott würde wieder hier wohnen, und die Völker
der Welt würden auf diese Stadt schauen und zu dieser Stadt pilgern.
Sie würde wieder das werden, was ihr Name bedeutet: Stadt
des Friedens. Gottes
Volk würde hier in Frieden leben und die Früchte seiner Arbeit
genießen. Gott hatte es geschworen, Gott, der sein Volk vor vielen
hundert Jahren aus der ägyptischen Sklaverei geführt hatte, Gott,
der seinem Volk vor wenigen Jahren den Weg aus der babylonischen
Gefangenschaft geebnet hatte, dieser mächtige Gott, der Himmel und
Erde gemacht hat, er würde sein Jerusalem wieder erstehen lassen und
sein Volk dort in Frieden und Sicherheit leben lassen.
Und dann wurde diese Hoffnung
weiter getragen durch die Jahrhunderte und Jahrtausende, in denen es
manchmal so aussah, als sei diese verheißene Zeit des Friedens, des
Schalom
Gottes für Jeruschalajim zum Greifen nahe, in denen es aber viel,
viel öfter so aussah, als würde nichts davon bleiben als die
christlich vergeistigte Version des neuen Jerusalems im Himmel.
Das irdische Jerusalem wurde in diesen Jahrhunderten regiert von
Babylon, Schuschan, Theben, Alexandria, Antiochia, Rom, Byzanz,
Damaskus, Bagdad, Kairo, Aleppo, Konstantinopel, London und Amman
aus. – Heute ist es die Hauptstadt eines Staates der nach Gottes
Volk genannt ist. Es gibt sie noch, und es gibt dieses Volk noch, wo
doch die meisten derer, die es einmal beherrscht haben, untergegangen
sind!
Damals, vor zweieinhalb Jahrtausenden prägte der Prophet das Wort
von den Wächtern über Jerusalems Mauern, die Gott erinnern sollten
an seine Verheißung. – Und es hat sie wohl gegeben diese Wächter,
all die Jahrhunderte hindurch. Diejenigen, die für Jerusalem gehofft
und gebetet haben, die für ihr Volk bei Gott eingetreten sind. –
Und wir Christen haben nicht dazugehört; wir waren nur mit dem
himmlischen Jerusalem beschäftigt, wenn wir nicht gerade das
irdische Jerusalem im Kreuzzug für uns erobern mussten.
Heute sieht es so aus, als seien diese Wächtergebete erhört. Was
Jerusalem und Israel heute ist, darin erfüllt sich die biblische
Verheißung. Freilich noch nicht vollkommen, freilich immer noch
gefährdet. Jerusalem ist immer noch die Stadt eines sehr unsicheren
Friedens. Aber es ist doch der Ort einer großen Hoffnung, und wer
einmal dort gewesen ist, wer mit israelischen Juden gesprochen hat,
der ahnt etwas davon, was sie dort gefunden haben, was ihnen ihr Land
und ihre Stadt bedeuten, und der versteht ein wenig besser, warum das
moderne Israel ist, wie es ist.
Jerusalem braucht auch heute Wächter. Beter, die für Israel beten
und Gott an seine Verheißung erinnern, jawohl. Aber auch Menschen,
die offen und offensiv eintreten für das jüdische Volk, für die
jüdische Religion und für den modernen Staat Israel.
Denn
wir erleben auf der anderen Seite zunehmend wieder Hass auf Israel
und die Juden. Manchmal nennt man das vornehm „Kritik an Israel“,
und doch wird dabei oft nicht weniger kritisiert, als dass Israel
sich nicht einfach von der Landkarte wischen lässt. Das Verständnis
für Terroristen wie die Hamas im Gazastreifen oder für ausgemachte
Antisemiten wie den Holocaustleugner in Teheran ist bei diesen Leuten
weit ausgeprägter als das Verständnis dafür, dass man sich vor
solchen Leuten schützt, auch mit Waffen schützt. Manchmal nennt man
es auch „Kritik an archaischen Bräuchen“ und kann und will nicht
verstehen, dass man mit der Beschneidung das Zeichen des Bundes
Gottes mit seinem Volk angreift, das ihm heilig und verbindlich ist.
Manchmal identifiziert man kurzerhand das angeblich so böse
Finanzsystem mit bestimmten jüdischen Namen. Manchmal fantasiert man
die jüdische Weltverschwörung herbei. Und manchmal sagt man, wenn
Israelis Opfer eines Anschlags werden, wie kürzlich im bulgarischen
Burgas: Die sind doch selber schuld. – Der moderne Antisemitismus
und Antizionismus hat viele Gesichter; aber er greift um sich, und es
gehört zunehmend Mut dazu, klar und eindeutig Partei für Israel zu
ergreifen.
Gerade darum möchte ich zur Wachsamkeit aufrufen, dabei sein bei
denen, die über Jerusalem wachen, und bei denen, die für Israel
beten.
Ich möchte schließen mit einem Zitat von Avita Ben-Chorin*, die in
Jerusalem lebt:
Der Prophet
Jesaja ruft die Wächter der Stadt auf, dem HERRN keine Ruhe zu
lassen, bis er Jerusalem wieder aufrichte zum Lobpreis auf Erden. Wir
müssen heute dankbar erkennen, dass Jerusalem wieder aufgerichtet
ist, größer als es je war. Die Bewohner der Stadt haben da
allerdings dem HERRN etwas geholfen. Und dennoch: Das Wort des
Propheten wurde Wirklichkeit in unseren Tagen. Aber es fehlt vorerst
die Verwirklichung der Verheißung „zum Lobpreis auf Erden“. Die
Völker – und auch wir – sollten erkennen, dass mit uns Großes
geschehen ist. So richtet die Tochter Zion wirklich ein Zeichen für
die Völker auf.
Ich möchte an
dieser Stelle von einem Erlebnis in der so umstrittenen Stadt
erzählen, das mir zu einem Zeichen wurde. Am 29. Juni 1967, kurz
nach dem Sechs-Tage-Krieg, als Stacheldraht und Minen im Niemandsland
der 19 Jahre lang geteilten Stadt hinweggeräumt waren, Jerusalem
wieder vereinigt war, wurde der Weg zwischen Ost und West
freigegeben. Die Israelis strömten in die Altstadt, Araber (die sich
damals noch nicht Palästinenser nannten) in die westliche Neustadt.
Alle wollten wissen, wie es bei den anderen aussieht. Mir begegneten
arabische Nachbarn und man lächelte sich an. Dies ganz kurz nach dem
Krieg! Es wurde mir klar: Hier gingen neugierige Nachbarn aufeinander
zu. Ich empfand es wie eine messianische Stunde.
Wer solches
erlebt hat, glaubt daran, dass es wieder geschehen wird, dass zu der
Tochter Zion ihr Heil kommen wird und vor allem Frieden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen