Dienstag, 30. Juni 2015

Zündfunke (Rundfunkandacht) am 30. Juni 2015

Guten Morgen, liebe Hörer,
es war Liebe auf den ersten Blick: Der Reisende aus der Ferne und das Hirtenmädchen am Brunnen. Er hatte den schweren Stein vom Brunnenloch gehoben und ihre Schafe getränkt, und dann hatten sie festgestellt, dass sie entfernte Verwandte waren und sich ein erstes Mal umarmt und geküsst. Sie war ein Stück Heimat in der Fremde – für ihn, Jakob. Und für sie, Rahel, war er der starke, schöne, weitgereiste junge Mann. Liebe auf den ersten Blick.
Vielleicht war es ja auch Liebe auf den ersten Blick, als ihre Schwester Lea ihn von ferne kommen sah. Und als er neben ihr als Gast an der elterlichen Tafel saß und sie den Erzählungen des schönen Fremden lauschte. Liebe, freilich, die von ihm nicht erwidert wurde. Das wusste sie schon. Sie sah die Blicke, die zwischen Rahel und ihm hin- und hergingen. Und sie wusste, dass sie nicht mithalten konnte mit ihrer kleinen Schwester. Sicher, auch sie war gut gebaut und gewiss nicht dümmer als sie; aber ihre Augen, die waren groß und rund und schielten. Lea mit dem blöden Blick, sagten sie. Und so steht es auch in älteren Bibelübersetzungen.
Als schöner und starker, letztlich aber doch mittelloser Fremder das schöne Mädchen zur Frau zu bekommen, war nicht so einfach. Jakob und ihr Vater kamen überein, dass er sieben Jahre für ihn arbeiten sollte, dann würde er die Tochter bekommen. Sieben Jahre lang sahen sie sich fast täglich, arbeiteten miteinander, sprachen miteinander, nur zusammenkommen durften sie nicht. Harte Sitten damals.
Als dann nach sieben Jahren Hochzeit gefeiert wurde, brachte man ihm spät im Dunkel der Nacht, wie es Brauch war, die verschleierte Braut ins Schlafgemach. Endlich! Doch als am Morgen die Sonne aufging, war es Lea, die neben ihm lag. Lea mit dem blöden Blick. „Bei uns gibt’s die Jüngere nicht vor der Älteren“, beschied ihn sein Schwiegervater. „Aber wenn du bereit bist, noch mal sieben Jahre für mich zu arbeiten, kannst du Rahel auch haben. Von mir aus sofort.“
Und dann sind sie beide Jakobs Frau. Lea bekommt Kinder, Rahel nicht. Eifersüchtig sind sie beide aufeinander. Aber wenn es drauf ankommt, halten sie doch zusammen.
Lea und Rahel, beide sind starke Frauen in einer Zeit, wo Männer über das Schicksal von Frauen bestimmen und wo Liebe nicht viel zählt. Beide sind keine Heldinnen. Oder doch. So wie unendlich viele Frauen, die ihre Liebe nicht leben konnten oder mit einer anderen teilen mussten.

Montag, 29. Juni 2015

Zündfunke (Rundfunkandacht) am 29. Juni 2015

Guten Morgen, liebe Hörer,
Eva ist an allem schuld. Das Weib. Die Frau. Hat sich verführen lassen und hat ihn verführt. Den Mann. Das arme unschuldige Opfer.
Eva ist an allem schuld. Sie hat in den süßen Apfel gebissen. 'Von der verbotenen Frucht genascht und sie dann ihrem arglosen Adam gegeben. Und nun ist nichts mehr wie es war. Die paradiesische Harmonie ist hin. Die Neugier auf immer neue unbekannte Früchte ist geweckt. Und die Angst und die Scham, etwas falsch gemacht zu haben. Das Versteck-Spiel vor Gott und voreinander hat begonnen. Vertrieben aus dem Paradies sind die Menschen für sich selber verantwortlich. Müssen sich erarbeiten, was sie zum Leben brauchen. Immer fehlt etwas. Und immer streben sie nach Mehr und nach Neuem.
Eva ist an allem schuld. So hat man die Bibel immer wieder gelesen. Und man – also Mann – hat Evas Töchter verachtet und doch begehrt. Als Hexen verbrannt oder als jungfräuliche Mutter in den Himmel gehoben.
Und sich vor der eigenen, männlichen Verantwortung gedrückt. Habt ihr mal überlegt, Männer, was für ein jämmerliches Bild euer Stammvater Adam da abgibt in der alten Geschichte? Isst einfach, was die Frau ihm vorsetzt. Fragt nicht. Und als er selber gefragt wird – von Gott –, dann sagt er: Ich war’s nicht. Ich kann nichts dafür. Die Frau ist schuld. – Blödsinn! Du bist selber schuld, auch wenn du nur tust, was deine Frau dir sagt.
Eva hat wenigstens nachgefragt: Ist das ok jetzt? Hat Gott nicht gesagt: Ihr sollt nicht? Und dann hat sie eine Entscheidung getroffen. Vielleicht eine falsche, aber auch eine mutige.
Eigentlich mag ich Eva.
Um Evas Töchter, Frauen, mutige und besondere Frauen soll es in dieser Woche im Zündfunken gehen.

Sonntag, 21. Juni 2015

Predigt am 21. Juni 2015 (3. Sonntag nach Trinitatis)

Es nahten sich Jesus allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: „Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.“
Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:
„Ein Mensch hatte zwei Söhne. Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: ,Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht.‘
Und er teilte Hab und Gut unter sie.
Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.
Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land, und er fing an zu darben und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. Und er begehrte seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm.
Da ging er in sich und sprach: ,Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu deinem Tagelöhner!‘
Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Der Sohn aber sprach zu ihm: ,Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße.‘ Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: ,Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße und bringt das gemästete Kalb und schlachtet’s; lasst uns essen und fröhlich sein! Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden.‘ Und sie fingen an, fröhlich zu sein.
Aber der älteste Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre. Der aber sagte zu ihm: ,Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wieder hat.‘ Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: ,Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. Und aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.‘ Er aber sprach: ,Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.
Lukas 15, 1-3. 11b-32

Stell dir vor, es ist ein Fest, und du gehst nicht hin!
Die meisten von euch werden sich an die Predigt vergangene Woche erinnern: Da ging es um Feste, um Kirche und um den Himmel; und darum, ob du da hingehst oder nicht.
Stell dir vor, du gehst nicht hin, weil ein anderer hingeht, der es nicht verdient hat – in deinen Augen: Dein Bruder. Der missratene. Hat sich seinen Anteil am Erbe auszahlen lassen, im Ausland auf großem Fuß gelebt. Und jetzt, wo er abgebrannt ist, steht er wieder vor der Tür. Und deine Eltern feiern ein Fest für ihn.
Kennst du dieses Gefühl von Verletzung, von Schmerz und Wut, weil sie dich zutiefst ungerecht behandelt haben? Du bist einfach nur das A..., und du weißt gar nicht, warum. Du hast alles richtig gemacht. Du warst da, wenn du gebraucht wurdest. Du warst immer nett und freundlich. Und es war normal. Es gab kein besonderes Lob, keine besondere Anerkennung, erst recht kein Fest zu deinen Ehren! Aber dein Bruder, der missratene, der das Geld deiner Eltern versoffen, verkokst und verhurt hat, der bekommt zur Belohung noch eine Extra-Party! Willst du da mit feiern?
Und so stehst du doppelt draußen. Draußen, weil du ihm gegenüber die schlechte Karte gezogen hast. Und draußen, weil die drinnen ohne dich feiern und fröhlich sind.
Und dann kommt dein Vater raus zu dir. Stellt sich zu dir: „Komm doch mit rein!“
Und du schreist ihm deine ganze Wut ins Gesicht.
Und er bleibt ganz ruhig, legt dir die Hand auf den Arm und sagt: „Sieh’s doch mal so: Du bist die ganze Zeit hier bei uns. Im Elternhaus. Alles, was wir hier haben, ist auch dein. Du arbeitest mit, du lebst mit, du feierst mit. Was fehlt dir denn? Und jetzt ist dein Bruder zurückgekommen, von dem wir alle dachten, er wäre verloren; er war schon tot und ist wieder lebendig geworden; du solltest mit uns glücklich sein!“
Und, kannst du das?
*
Der Apostel Paulus hat einen großen, einfachen, wunderbaren Satz geschrieben:
Die Liebe hört niemals auf (1. Korinther 13, 8a).
Das ist eigentlich die ganze Erklärung für das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Dein Bruder kann getan haben, was er will. Er kann sein Leben verpfuscht haben, das Erbe verprasst, Gottes Gaben vergeudet – sein Vater hat ihn einfach lieb. Er bleibt sein Sohn. Und wenn er umkehrt, heimkehrt, dann schlägt dem Vater das Herz vor Freude bis zum Hals, und er läuft ihm entgegen und fällt ihm um den Hals und feiert ein Freudenfest. Er kann gar nicht anders. Es ist wie Auferstehung: Mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden.
Die Liebe hört niemals auf. Die Liebe des Vaters zu seinem Sohn hört niemals auf. Zu keinem seiner Söhne und Töchter.
Der Apostel Johannes hat auch einen großen, einfachen, wunderbaren Satz geschrieben:
Gott ist die Liebe (1. Johannes 4, 16b).
Jesus hat Geschichten und Gleichnisse erzählt, um zu zeigen, wie das ist mit Gott und den Menschen und mit der Liebe. Und er hat es vorgelebt, wie das ist mit Gott und den Menschen. Hat mit allen gegessen und gefeiert, auch mit denen, die man für verloren hielt, die Zöllner und Sünder. Und andere, die sich für rechtschaffen hielten, standen draußen und wollten nicht mit feiern. Da hat Jesus die Geschichte vom verlorenen Sohn erzählt.
Paulus und Johannes haben es auf den Punkt gebracht, was Jesus von Gott mitgebracht hatte: Gott ist die Liebe und: Die Liebe hört niemals auf.
Wir nennen das Evangelium, Gute Nachricht, Frohe Botschaft. Es ist das Wichtigste, was du von Gott wissen musst: Gott ist die Liebe und: Die Liebe hört niemals auf.
*
Der Vater fragt:
„Kannst du das: mit uns glücklich sein?
Kannst du das: nicht nur dich sehen, und wo du meinst, zu kurz gekommen zu sein?
Kannst du das: nicht vergleichen, sondern lieben?“
*
Stell dir vor, du gehst jetzt mit hinein zum Fest! Stell dir vor, du begrüßt deinen Bruder. Mit Handschlag; für eine Umarmung reicht’s noch nicht. Und er erzählt dir, wie schrecklich das war: sein verpfuschtes Leben und das Elend und der Hunger da bei den Schweinen. Und wie leid ihm das tut, und wie froh er ist, dass er jetzt wieder zu Hause ist. Und wie gut du es hattest die ganze Zeit. Und dann erzählt ihr euch die Geschichten von früher, eure gemeinsamen Geschichten: als ihr Kinder wart und du schon immer der Vernünftigere und Liebere und er der, der sich immer Streiche ausdachte und Unfug machte. Und wie euch eure Eltern doch beide liebhatten, so unterschiedlich ihr wart.
Und stell dir vor: Du spürst, wie es dir warm wird ums Herz. Was für ein Augenblick, wieder gemeinsam hier zu sein – im Elternhaus! Und du umarmst deinen Bruder.
Die Liebe hört niemals auf.
*
Jesus hat eine große, einfache und wunderbare Geschichte erzählt. Man hat sie das Gleichnis vom verlorenen Sohn genannt. In Wahrheit ist es die ganze große Geschichte von Gottes Liebe zu seinen Menschenkindern in eine kurze Erzählung gepackt. Von Menschenkindern, die in die Welt hinaus laufen, um das Glück zu finden. Von anderen Menschenkindern, die zuhause bleiben, um ihre Sicherheit zu bewahren. Davon auch, wie unsicher das Glück ist und wie die Sicherheit unglücklich macht. Es ist die Geschichte vom verlorenen Paradies. Und von der Sehnsucht nach Heimat. Es ist die Geschichte von Umkehr und neuem Leben. Vor allem aber die Geschichte von dem liebenden Vater, der seine Kinder nicht festhält, wenn sie gehen, und nicht wegschickt, wenn sie wiederkommen. Die Geschichte von offenen Türen und offenen Armen und von ewiger Liebe. Auch für dich!

Sonntag, 14. Juni 2015

Predigt am 14. Juni 2015 (2. Sonntag nach Trinitatis)

Einer, der mit zu Tische saß, sprach zu Jesus: „Selig ist, der das Brot isst im Reich Gottes!“
Jesus sprach: „Es war ein Mensch, der machte ein großes Abendmahl und lud viele dazu ein. Und er sandte seinen Knecht aus zur Stunde des Abendmahls, den Geladenen zu sagen: ,Kommt, denn es ist alles bereit!‘ Und sie fingen an alle nacheinander, sich zu entschuldigen. Der erste sprach zu ihm: ,Ich habe einen Acker gekauft und muss hinausgehen und ihn besehen; ich bitte dich, entschuldige mich.‘ Und der zweite sprach: ,Ich habe fünf Gespanne Ochsen gekauft, und ich gehe jetzt hin, sie zu besehen; ich bitte dich, entschuldige mich.‘ Und der dritte sprach: ,Ich habe eine Frau genommen; darum kann ich nicht kommen.‘ Und der Knecht kam zurück und sagte das seinem Herrn. Da wurde der Hausherr zornig und sprach zu seinem Knecht: ,Geh schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen, Verkrüppelten, Blinden und Lahmen herein.‘ Und der Knecht sprach: ,Herr, es ist geschehen, wie du befohlen hast; es ist aber noch Raum da.‘ Und der Herr sprach zu dem Knecht: ,Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, dass mein Haus voll werde; denn ich sage euch, dass keiner der Männer, die eingeladen waren, mein Abendmahl schmecken wird.‘“
Lukas 14, 15-24

Stell dir vor, es ist ein Fest, und keiner geht hin!
Das Festgelände ist gerichtet:
Tische, Bänke und Girlanden.
Bier und Wein und andere Getränke sind da.
Die Würste liegen auf dem Grill (Mein Freund aus Thüringen würde sagen: auf dem Rost).
Salate stehen bereit.
Kuchen und andere Nachspeisen warten darauf, verzehrt zu werden.
Die Musik spielt.
Und spielt.
Und spielt.
...
Die ersten Würste drohen zu verbrennen, werden schnell in Schüsseln gesammelt.
Die Salate und Kuchen werden abgedeckt, weil die Fliegen kommen.
Traurig und verloren steht der Gastgeber am Rande des Festgeländes.
Ein großartiger Abend sollte es werden;
jetzt ist es der traurigste Abend seines Lebens: Keiner möchte mit ihm feiern.
Alles für die Katz
(die schon um die Fleischschüsseln schleicht).
*
Stell dir vor, es ist ein Fest, und du gehst nicht hin!
Schon wieder so eine Einladung!
Du hast gerade keine Lust.
Und viel um die Ohren:
Noch ein Angebot schreiben.
Noch einen Auftrag an Land ziehen.
Oder einfach mal ein paar Stunden für die Familie Zeit haben.
Vor dem Fernseher oder dem Computer abhängen.
Oder du hast gerade Urlaub, bist gar nicht da.
Oder hast ein neues Cabrio gekauft und willst mit deiner neuen Flamme ausfahren.
Es gibt so viel Schöneres, als zu dieser Party zu gehen und Bratwürste zu essen!
Ist ja nicht schlecht, aber ohne mich.
Vielleicht ein andermal wieder.
*
Stell dir vor, es ist ein Fest, und du musst hin!
Weil du Mitarbeiter bist.
Würste braten am Grill.
Getränke ausgeben.
Kuchen aufschneiden.
Und dann kommt keiner.
Und der Chef sagt:
„Ruf sie an, was los ist!“
Und du rufst sie an, einen nach dem andern:
„Was ist, kommst du noch?“ –
„Nein, ich muss noch ein Angebot schreiben; tut mir leid.“
„Nein, ich will mit meiner Freundin im neuen Cabrio ausfahren; tut mir leid.“
„Nein, ich wollte heute schön gepflegt Fußball gucken; tut mir leid.“
„Nein, ich bin zu müde; tut mir leid.“
Und du bist genervt.
Und der Chef ist sauer.
Und dann sagt er:
„Los, telefonier noch ein paar Leute ab aus deinem Adressbuch, ob die nicht kommen wollen.“
Und nach zwanzig mehr oder weniger erfolgreichen Versuchen schickt er dich los:
„Du gehst jetzt durch die Stadt und lädst irgendwelche Leute ein: Den Bettler auf der Bank. Und die Punks vor der Kaufhalle – mitsamt ihren Hunden.“
Stell dir vor, wie gerne du das machst!
*
Stell dir vor, es ist ein Fest, und du darfst nicht hin!
Bist einfach nicht eingeladen.
Weil du schon zweimal abgesagt hast.
Jetzt bist du von der Gästeliste gestrichen.
Gerade ist es etwas ruhiger im Betrieb.
Die Kinder sind aus dem Gröbsten raus.
Ständig vor der Glotze hängen, ist auf die Dauer nicht befriedigend.
Und der Mensch, mit dem du Tisch und Bett und Cabrio teilst, ist nun auch nicht mehr so aufregend nach all den Jahren.
Aber jetzt tut der so, als kennt er dich nicht mehr und feiert ohne dich!
*
Stell dir vor, es ist Kirche und keiner geht hin!
Das ist gar nicht so schwer vorstellbar, oder?
Bei uns in der Sommer-Nebensaison-Saure-Gurken-Zeit.
Oder in einer normalen deutschen Kirche an den 50 Sonntagen im Jahr, wenn nicht gerade Weihnachten oder Konfirmation ist.
Neulich hat der Ratsvorsitzende gemeint, Jugendliche brauchten mehr Platz in der Kirche. Da habe ich mich kaputtgelacht, denn Platz haben wir da meistens genug. Und die Jugendlichen kommen trotzdem nicht. Außer manchmal vor der Konfirmation, weil sie da müssen.
Stell dir vor, es ist Kirche und keiner geht hin!
Der Pastor hat die halbe Woche an der Predigt gefeilt.
Die Organistin hat stundenlang geübt.
Der Altar ist geschmückt.
Das Abendmahl ist bereit.
Und wir sitzen vereinzelt in leeren Reihen und singen „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind“ oder „Liebster Jesu, wir sind vier“.
*
Stell dir vor, es ist Kirche und du gehst nicht hin!
Gut, dass es die Kirche gibt, sagst du.
Gut, dass andere für dich beten.
Gut, dass jemand sich um das Gute kümmert.
Aber du hast keine Lust.
Willst lieber ausschlafen.
Frühstücken mit der Familie.
Oder Brunchen mit Freunden.
Cabriofahren mit der Freundin.
Oder Bratwürste grillen mit den Nachbarn.
Jeder wird das verstehen.
Vielleicht nächste Woche.
Oder übernächste.
Oder Weihnachten.
*
Stell dir vor, es ist Kirche, und wir tun ein bisschen mehr um die Leute einzuladen!
Geh mal am Samstag dein Adressbuch durch und ruf jemanden an, ob er mit zum Gottesdienst kommt.
Oder sprich gar jemand Fremdes an auf der Straße.
Stell dir vor, wie gerne du das machst!
*
Stell dir vor, es ist Kirche, und du darfst nicht hin!
Stell dir vor, wir würden die Türen verschließen und nur geladene Gäste einlassen:
Du kommst hier nicht rein!
Dich haben wir schon zweimal eingeladen und du bist nicht gekommen.
Jetzt ist Schluss mit Kirche!
Stell dir vor, du willst deine Cabrio-Freundin heiraten und wir sagen: Nein.
Nicht in der Kirche.
Du wolltest nichts von uns wissen, jetzt wollen wir nichts von dir wissen.
Stell dir vor, du suchst Hilfe und Trost, weil alles schief gegangen ist: die Freundin weg, das Cabrio geschrottet, den Auftrag hat ein anderer gekriegt.
Und uns interessiert das überhaupt nicht.
Kirche geht auch ohne dich.
*
Stell dir vor, es ist Himmel, und keiner geht hin!
Alle wollen sie lieber hier bleiben.
Geld verdienen.
Cabrios kaufen.
Frauen beeindrucken.
Fußball gucken.
Computer spielen.
Mit der Familie frühstücken.
Und mit Freunden Würste grillen.
„So schön wie hier, kann’s im Himmel gar nicht sein“ hat der Theaterregisseur Christoph Schlingensief sein Krebstagebuch genannt.
*
Aber stell dir mal vor, es ist Himmel, und keiner darf rein!
Dann müssen wir in alle Ewigkeit Geld verdienen,
Autos kaufen,
Frauen beeindrucken,
Fußball gucken
und Würste grillen.
Willst du das wirklich?
*
Stell dir vor, es ist Himmel, und da ist mehr als du dir vorstellen kannst!
Himmelblau und Engelgold.
Zehn Dimensionen.
Licht und Liebe.
Offene Arme: Kommt her zu mir alle!
(Nur Bratwürste gibt es wahrscheinlich nicht.)
*
Und stell dir vor, es ist Himmel, und alle sind eingeladen!
Die Leute aus deinem Adressbuch.
Die Punks vor der Kaufhalle.
Die Freunde von der Grillparty.
Und die Frauen, die neben dir im Cabrio saßen.

Stell dir vor, es ist Himmel, und du bist dabei!