Guten Morgen, liebe Hörer,
es war Liebe auf den ersten Blick:
Der Reisende aus der Ferne und das Hirtenmädchen am Brunnen.
Er hatte den schweren Stein vom Brunnenloch gehoben und ihre Schafe getränkt,
und dann hatten sie festgestellt, dass sie entfernte Verwandte waren
und sich ein erstes Mal umarmt und geküsst.
Sie war ein Stück Heimat in der Fremde – für ihn, Jakob.
Und für sie, Rahel, war er der starke, schöne, weitgereiste junge Mann.
Liebe auf den ersten Blick.
Vielleicht war es ja auch Liebe auf den ersten Blick, als ihre Schwester Lea ihn von ferne kommen sah.
Und als er neben ihr als Gast an der elterlichen Tafel saß und sie den Erzählungen des schönen Fremden lauschte.
Liebe, freilich, die von ihm nicht erwidert wurde.
Das wusste sie schon.
Sie sah die Blicke, die zwischen Rahel und ihm hin- und hergingen.
Und sie wusste, dass sie nicht mithalten konnte mit ihrer kleinen Schwester.
Sicher, auch sie war gut gebaut und gewiss nicht dümmer als sie;
aber ihre Augen, die waren groß und rund und schielten.
Lea mit dem blöden Blick, sagten sie.
Und so steht es auch in älteren Bibelübersetzungen.
Als schöner und starker, letztlich aber doch mittelloser Fremder das schöne Mädchen zur Frau zu bekommen, war nicht so einfach.
Jakob und ihr Vater kamen überein, dass er sieben Jahre für ihn arbeiten sollte, dann würde er die Tochter bekommen.
Sieben Jahre lang sahen sie sich fast täglich,
arbeiteten miteinander,
sprachen miteinander,
nur zusammenkommen durften sie nicht.
Harte Sitten damals.
Als dann nach sieben Jahren Hochzeit gefeiert wurde, brachte man ihm spät im Dunkel der Nacht, wie es Brauch war, die verschleierte Braut ins Schlafgemach.
Endlich!
Doch als am Morgen die Sonne aufging, war es Lea, die neben ihm lag.
Lea mit dem blöden Blick.
„Bei uns gibt’s die Jüngere nicht vor der Älteren“, beschied ihn sein Schwiegervater.
„Aber wenn du bereit bist, noch mal sieben Jahre für mich zu arbeiten, kannst du Rahel auch haben.
Von mir aus sofort.“
Und dann sind sie beide Jakobs Frau.
Lea bekommt Kinder, Rahel nicht.
Eifersüchtig sind sie beide aufeinander.
Aber wenn es drauf ankommt, halten sie doch zusammen.
Lea und Rahel, beide sind starke Frauen in einer Zeit, wo Männer über das Schicksal von Frauen bestimmen und wo Liebe nicht viel zählt.
Beide sind keine Heldinnen.
Oder doch.
So wie unendlich viele Frauen, die ihre Liebe nicht leben konnten oder mit einer anderen teilen mussten.
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