Sonntag, 28. August 2016

Predigt am 28. August 2016 (14. Sonntag nach Trinitatis)

Liebe Schwestern und Brüder, wir sind dem Fleisch nichts schuldig; wir müssen nicht nach den Bedürfnissen des Fleisches leben.
Wenn ihr nach den Bedürfnissen des Fleisches lebt, dann müsst ihr sterben. Wenn ihr aber durch den Geist die Werke des Leibes tötet, dann werdet ihr leben.
Denn die sich vom Geist Gottes treiben lassen, die sind Gottes Kinder.
Ihr habt nicht den Geist von Sklaven empfangen, ihr müsst euch nicht wieder fürchten; ihr habt vielmehr den Geist von Kindern empfangen; in diesem Geist rufen wir zu Gott: „Abba, Vater!“
Der Geist Gottes bezeugt unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind.
Und wenn wir Kinder sind, dann sind wir auch Erben: Erben Gottes, Miterben von Christus: Wir leiden mit ihm, und wir werden mit ihm verherrlicht.
Römer 8, 12-17

Fleisch und Geist
Ich muss euch etwas gestehen: Ich liebe Fleisch. Ein saftiges Steak, eine knusprige Ente, ein pikanter Gulasch, leckere Würste, Serrano-Schinken. Vegetarier werden ist keine Option für mich. Ich liebe Fleisch.
Ich liebe auch Menschenfleisch: Den Anblick von nackter Haut, von wohlgeformten Körpern. Und ich liebe es, wenn Fleisch und Fleisch sich spüren, sich berühren, sich durchdringen. Ich liebe Fleisch.
Fleischliche Lüste, fleischliche Begierden – so bin ich, weil ich Mensch bin: aus Fleisch und Blut. Aus Fleisch und Blut, so wie auch meine tierischen Mitgeschöpfe: die sich auch über einen gefüllten Fressnapf freuen und über einen Partner zum Kopulieren.
Ihr merkt es schon: Mit dem Fleisch, das ist eine zweideutige Sache. Es steht auf der einen Seite für unsere animalischen Grundbedürfnisse. Und auf der anderen Seite für Genuss und Schönheit.
Liebe Schwestern und Brüder, wir sind dem Fleisch nichts schuldig; wir müssen nicht nach den Bedürfnissen des Fleisches leben – schreibt Paulus.
Und er meint: Ihr seid mehr als Tiere, ihr seid Menschen. Ihr seid mehr, als eure natürlichen Bedürfnisse euch diktieren, ihr seid Geist. Ihr habt ein bewusstes Verhältnis zu eurem Verhalten. Wenn euch der Hunger überkommt, dann müsst ihr nicht die Äpfel vom Baum des Nachbarn klauen oder gar das Karnickel aus seinem Hasenstall. Wenn ihr Durst habt, dann müsst ihr nicht aus der nächsten Pfütze trinken. Und wenn euch der Anblick einer Frau oder eines Mannes erregt, dann müsst ihr nicht über diesen anderen Menschen herfallen. Ihr sollt nicht eure Natur ausleben, sondern eure Bedürfnisse kultivieren. Das ist Geist. Das macht euch zu Menschen. Zu Gottes Kindern.
Fleisch ist ok. Aber bitte mit Kultur genossen: Liebevoll zubereitet und gemeinsam verzehrt.
Und fleischliche Liebe ist schön. Aber eben: Liebe! Liebe, die im anderen mehr sieht als nur ein Mittel zur eigenen Befriedigung.
Auch Gott liebt Fleisch. Darum haben sie ihm früher Opfer gebracht: Rinder, Schafe, Ziegen, Tauben. Aber das war wohl ein Missverständnis. Gott liebt weder den Geruch von Gegrilltem noch den Geschmack von Rinderlenden. Gott liebt seine Geschöpfe, die aus Fleisch und Blut sind, und er liebt sie lebendig und nicht tot.
Gott liebt auch Menschenfleisch. Will heißen: Er liebt uns Menschen – so wie wir sind: als leibliche Wesen: mit Haut und Haaren, mit Fleisch und Blut. Er will uns nicht besitzen oder missbrauchen. Er will bei uns sein. Er will unser Leben teilen.
So sehr liebt er uns, dass Christus Fleisch geworden ist. Mensch unter Menschen. Gottes Kind aus Fleisch und Blut. Und Gottes Geist in ihm. Nicht seine fleischlichen Bedürfnisse trieben ihn an Sondern Gottes Geist.

Treiben und Treibenlassen
Denn die sich vom Geist Gottes treiben lassen, die sind Gottes Kinder.
Wir können uns treiben lassen. Getrost auf Gottes Floß die Welt entlang ... auf Meeren und auf Flüssen. (So hat es Hanns Dieter Hüsch gedichtet.)
Wer sich treiben lässt, weiß nicht, wo es ihn hintreiben wird, wo er möglicherweise landet, strandet oder auch scheitert.
Wir können uns treiben lassen: vom Fleisch. Von den Wünschen und Bedürfnissen, die unsere leibliche Existenz mit sich bringt. Treiben lassen von der Suche nach fleischlichen Genüssen: Wo gibt’s was Leckeres zu essen? Wo gibt’s schöne Frauen? Wir können uns treiben lassen von der Sehnsucht nach immer mehr. 'Treiben lassen von der Sucht nach Macht und Anerkennung oder nach Schönheit und ewiger Jugend. Treiben lassen von der Todesangst und doch dem Tod entgegen.
Denn das Fleisch, es ist nun mal sterblich. Jugend und Schönheit lassen sich nicht konservieren. Von der Anerkennung, die wir einst genossen, bleibt im besten Fall ein schwacher Abglanz, wenn vielleicht doch noch jemand unsere Lebenserfahrung schätzt und uns nicht als tattrige Greise betrachtet, die von der Zeit schon lange überholt wurden. Und von den fleischlichen Genüssen ist irgendwann auch nicht mehr viel übrig. Vielleicht bekommen wir noch einen netten Nachruf. Und wenn wir Enkel hatten, werden sie sich vielleicht noch manchmal an uns erinnern. Das war’s mit dem Fleisch.
Wir können uns auch treiben lassen: vom Geist. Von dem, was mehr ist als Genuss und Schönheit, Macht und Ruhm. Treiben lassen vom Glauben, von der Hoffnung, von der Liebe. Treiben lassen von der Menschlichkeit. Das Fleisch muss sterben. Der Geist lebt.
Ich stelle mir das vor in dem Bild von Gottes Floß: Unser Lebensfloß wird getrieben von den natürlichen Strömungen der Meere und der Flüsse, die wir befahren. Getrieben von dem, was uns als fleischliche Wesen so antreibt. Aber auch getrieben von dem Wind des Geistes. Unser Floß hat ein Segel, mit dem wir den Wind einfangen, dass er uns treibt. Und es hat ein Ruder, mit dem wir den Strömungen entgegensteuern können. Mit Segel und Ruder geben wir ihm Richtung. Wir können den unterirdischen Triebkräften und Strömungen entgegensteuern, um Schiffbruch zu vermeiden. Wir können den Wind ausnutzen, um an Ziele zu gelangen, zu denen uns unsere natürlichen Wünsche und Bedürfnisse nicht führen würden. Wir können unserem Leben eine Fahrtrichtung geben. Wir können sogar unterwegs die Richtung ändern. Wir lassen uns nicht einfach treiben, sondern wir treiben unser Leben selbst. Man sagt auch: sein Leben führen.
Die Segel setzen und das Ruder in die Hand nehmen. Dazu befähigt uns Gott. Gottes Geist zwingt uns nicht in eine bestimmte Richtung. Er schreibt uns nicht den Fahrweg vor. Wir können vor dem Wind segeln oder auch hart am Wind. Gottes Geist macht uns nicht zu Getriebenen, die nun statt von ihrem Fleisch von Gott zu irgendwas gezwungen werden. Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit, hat Paulus ausdrücklich geschrieben, an anderer Stelle (2. Korinther 3, 17). Aber genau das meint er auch hier.
Die Segel setzen und das Ruder in die Hand nehmen. Der Gotteswind bläst hinein in unser Leben und hilft uns voranzukommen auf unserem Weg durch die Welt, der zugleich unser Weg zu Gott ist.

Knechte und Kinder
Ihr habt nicht den Geist von Sklaven empfangen, ihr müsst euch nicht wieder fürchten; ihr habt vielmehr den Geist von Kindern empfangen; in diesem Geist rufen wir zu Gott: „Abba, Vater!“
Was ist das Gegenteil von einem Sklaven? Ein Freier natürlich, ein freier Mensch. Paulus sagt es anders: Ein Kind. Christen sind keine Sklaven, sondern Kinder, Gottes Kinder.
Manche reden so und glauben so, als wären Christen Gottes Knechte.
Ich hatte einen Kommilitonen im Theologiestudium, den nannten wir scherzhaft den „Gottesknecht“. Weil er sich als Studienanfänger als besonders fromm, um nicht zu sagen strenggläubig hervortat. Zum Beispiel legte er Traktätchen aus, in denen vor vorehelichem Geschlechtsverkehr gewarnt wurde. Der „Gottesknecht“ war etwa ein halbes Jahr an unserer Hochschule, dann hatte er eine Freundin. Und nach weniger als einem weiteren halben Jahr war es offensichtlich: sie war schwanger. Das hat uns ein bisschen erheitert. Es war offenbar nicht ganz so einfach mit dieser Art von Gottesknechtschaft. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.
Ich glaube aber, wie gesagt, dass das alles ein Missverständnis ist. Gott macht uns nicht zu gehorsamen Knechten, zu Sklaven, sondern zu freien, mündigen Gotteskindern.
Gott ist unser Vater. Ein guter, geduldiger und liebevoller Vater. Er führt uns nicht am Gängelband wie kleine Babys. Er sperrt uns nicht ein, weil draußen so schrecklich viel Böses passieren kann. Er zwingt uns nicht seinen Willen auf. Er treibt uns nicht mit der Peitsche an, sondern lässt uns seinen Geist spüren. Gott lässt uns frei.
Das Musterbeispiel ist das Gleichnis von den beiden Söhnen, das Jesus erzählt: Der eine geht freiwillig in die weite Welt hinaus – und kommt auch freiwillig wieder zurück. Der andere bleibt freiwillig in Vaters Haus und Hof. Keinem hat er es vorgeschrieben; der eine führt sein Leben so, der andere anders. Und am Ende hat der, der fast am Ende war, das Ruder herumgerissen, die Segel gesetzt und ist zu seinem Vater zurückgekehrt. Ein Gottesknecht war er gewiss nicht, aber ein Gotteskind.
Gottes Knecht, das war nur einer. Der sich erniedrigt hat, der gehorsam war bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz (Philipper 2,8). Damit wir keine Knechte, keine Sklaven mehr sein müssen, sondern freie, mündige Gotteskinder sind:
Menschen aus Fleisch und Blut,
unterwegs auf Gottes Floß die Welt entlang,
mit Gottes Geistwind im Segel
und mit der eigenen Hand am Ruder.
Manchmal schlagen die Wogen über uns hinweg.
Manchmal kommen wir den Klippen gefährlich nahe.
Irgendwann werden wir irgendwo anlanden,
und, ich bin sicher, dann wartet da schon der Eine,
der uns mit offenen Armen empfängt
und wir werden ihn erkennen: Abba, Vater!

Sonntag, 21. August 2016

Predigt am 21. August 2016 (13. Sonntag nach Trinitatis)

Neufassung einer Predigt von 2010

„Johannes, der gute Johannes, der sich von seiner Gemeinde, die er in Ephesus einmal gesammelt hatte, nie wieder trennen wollte, dem diese Eine Gemeinde ein genugsam großer Schauplatz seiner lehrreichen Wunder und wundertätigen Lehre war, Johannes war nun alt … So zaudernd eilig, als ein Freund sich aus den Armen eines Freundes windet, um in die Umarmung seiner Freundin zu eilen, – trennte sich allmählich sichtbar Johannis reine Seele von dem ebenso reinen, aber verfallenen Körper. – Bald konnten ihn seine Jünger auch nicht einmal zur Kirche mehr tragen. Und doch versäumte Johannes auch keine Kollekte gern; ließ keine Kollekte gern zu Ende gehen, ohne seine Anrede an die Gemeinde, welche ihr tägliches Brot lieber entbehrt hätte, als diese Anrede… Studiert war Johannis Anrede nie. Denn sie kam immer ganz aus dem Herzen. Denn sie war immer einfältig und kurz; und wurde immer von Tag zu Tag einfältiger und kürzer, bis er sie endlich gar auf die Worte einzog: Kinderchen, liebt euch! – In der ersten Kollekte, in welcher Johannes nicht mehr sagen konnte als Kinderchen, liebt euch!, gefiel dieses Kinderchen, liebt euch! ungemein. Es gefiel auch noch in der zweiten, in der dritten, in der vierten Kollekte; denn es hieß, der alte schwache Mann kann nicht mehr sagen. Nur als der alte Mann auch dann und wann wieder gute heitere Tage bekam und doch nichts mehr sagte, und doch nur die tägliche Kollekte mit weiter nichts als einem Kinderchen, liebt euch! beschloss, als man sahe, dass er vorsätzlich nicht mehr sagen wollte, ward das Kinderchen, liebt euch! so matt, so kahl, so nichtsbedeutend! Brüder und Jünger konnten es kaum ohne Ekel mehr anhören und erdreisteten sich endlich den guten alten Mann zu fragen: Aber Meister, warum sagt du denn immer das nämliche? – Und Johannes antwortete: Darum, weil es der Herr befohlen. Weil das allein, das allein, wenn es geschieht, genug, hinlänglich genug ist.“
(G.E. Lessing, Werke, Bd. VIII, München 1979, S. 15ff)


Liebe Schwestern und Brüder,
Gotthold Ephraim Lessing hat diese Worte als Testament des Johannes überliefert. Nach einer kleinen Notiz des Hl. Hieronymus. Eine fromme Legende, die vielleicht nicht wahr ist, aber doch wohl gut erfunden. Denn genau das ist das große Thema des alten Johannes in seinen Briefen: Kinderchen, liebt euch! Nirgendwo sonst in der Bibel wird so eindringlich von der Liebe gesprochen und zur Liebe ermahnt, wie hier. Unser heutiger Predigttext ist der Abschnitt mit der höchsten Liebesdichte in der ganzen Bibel: So häufig wie hier kommt das Wort Liebe und seine Ableitungen sonst nirgends vor.
Hört die Worte aus dem 1. Brief des Johannes im 4. Kapitel:
Ihr Lieben, lasst uns einander lieben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe. Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden.
Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so wollen wir uns auch untereinander lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.
1. Johannes 4, 7-12

Vielleicht geht es uns manchmal so ähnlich wie damals den Leuten bei dem alten Johannes: Wir können es kaum noch ohne Ekel anhören: Liebe, Liebe, Liebe: Nächstenliebe, Gottesliebe, Bruderliebe, Feindesliebe! Die christliche Liebe hängt uns schon zum Hals heraus. So viel Liebesgesäusel! – Und mir als Prediger – ich gebe es zu – mir wird es auch manchmal zu viel, immer wieder von der Liebe zu reden. (Was nicht heißt, dass ich lieber ein Hassprediger wäre.) Aber das Thema Liebe erschöpft sich. Was soll man dazu sagen, was nicht schon tausendmal gesagt worden wäre? Und geht das mit der Liebe nicht auch manchmal an den harten Realitäten des Lebens vorbei?
Aber natürlich, der alte Johannes hat ja Recht: Der Herr hat es befohlen. Und das allein, wenn es geschieht, ist hinlänglich genug. Ja, wenn wir und alle in der Liebe leben würden, nach dem Gebot Jesu, dann wäre das hinlänglich genug. Vollkommen. Das Himmelreich auf Erden. Darum kann es wohl wirklich nicht genug gesagt werden: Kinderchen, liebt euch!
Warum hat Lessing diese alte Legende ausgegraben?
Weil er das Gefühl hatte: Das Christentum zu seiner Zeit hätte es vergessen, dass die Liebe das höchste und wichtigste ist. Der rechte Glaube, die richtigen Überzeugungen – das schien das Wichtigste zu sein. Ein Jahrhundert zuvor hatte das christliche Europa erbittert Krieg geführt, dreißig Jahre, um den rechten Glauben. Und jetzt stritten sie immer noch darum, wenn auch nur noch mit Worten. – Lessing war der Meinung: Es kommt nicht auf die richtige Lehre an, sondern auf das richtige Leben. Ihr kennt ja auch seine berühmte Ringparabel: Im Leben, in der Praxis, da muss eine Religion erweisen, dass sie diejenige ist, die vor Gott und Menschen angenehm zu machen vermag: Es eifre jeder seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach! Dazu passt nun auch die Geschichte vom alten Johannes, der nur noch das eine zu sagen weiß: Kinderchen, liebt euch! – Das wäre die Chance für das Christentum: dass es sich als Religion der Liebe erweist. Ganz im Sinne seines Stifters.
Damals haben sie Lessing entgegengehalten: Das reicht nicht. Zur Liebe gehört die Wahrheit. Und um die Wahrheit muss man auch streiten. – Das finde ich auch. Sonst wird alles gleichgültig. Auch in Glaubensfragen müssen wir uns manchmal streiten. Gerade auch um der Liebe willen. Aber mit Verständnis und Respekt.
Kinderchen, liebt euch! – das klingt naiv, haben sie gesagt. Für mich klingt es auch naiv: nach Stuhlkreis und An-den-Händen-fassen. Nach heiler Welt. Aber draußen vor den Türen unserer Kirchen, Gemeindezentren und Kirchentage, da blüht der Hass. Da ist Terror und Angst: Da erschießen oder überfahren sie wahllos Menschen, oder greifen andere mit der Axt an. Da fassen sie fremden Frauen unter die Röcke. Oder hüllen ihre eigenen Frauen in Säcke mit Sehschlitzen. Manche quälen Christen und Andersgläubige. Da beschimpfen sie anders Denkende und anders Aussehende oder rufen zur Gewalt gegen Politiker auf. Oder sie versuchen unbequeme Meinungen und Kritik gleich ganz zu verbieten. – So viele da draußen lassen sich nicht von uns mit in den Stuhlkreis nehmen. Sie haben uns nicht lieb und sie wollen von uns nicht geliebt werden. – Die Liebe hat offenbar auch ihre Grenzen.
Jesus hat gesagt: Wir sollen auch unsere Feinde lieben. Johannes ist zurückhaltender, vielleicht auch realistischer: Ihr Lieben, lasst uns einander lieben! Bruderliebe nennt er das auch: Kinderchen, liebt euch! – Ich verstehe es so: Fangt damit an: mit der Bruder- und Geschwisterliebe. Fangt damit an in euren Kreisen und Gemeinden, in eurer Kirche. Fangt damit an, hier die Liebe zu leben. Mit Verständnis und Respekt, mit offenen Augen, Ohren und Händen; mit der Fähigkeit zu streiten, ohne zu verletzen; mit der Bereitschaft, Fehler einzugestehen, und einander zu vergeben. Fangt hier an, in der christlichen Gemeinde: Kinderchen, liebt euch!
Und dann kommt die Nächstenliebe. Was ihr als christliche Geschwister untereinander könnt, das geht wahrscheinlich auch im Miteinander mit anderen, mit nahen Menschen. Und mit denen, die uns plötzlich nahe sind, weil da vielleicht einer verletzt auf unserem Weg liegt – wie im Evangelium (Lukas 10, 25-37) gehört. – Bruderliebe, Nächstenliebe – und dann im Extremfall vielleicht auch so etwas wie Feindesliebe. Aber damit ist nicht gemeint, dass wir dem, der unsere Freunde mit der Waffe bedroht, die Hand reichen. Da geht die Nächstenliebe vor, und wir müssen sehen, wie wir dem Feind die Waffe aus der Hand schlagen können. Vielleicht brauchen wir dazu auch selber Waffen und Gewalt. Das widerspricht sich nicht. Nein, christliche Liebe zeigt sich nicht unbedingt in Pazifismus und Gewaltlosigkeit. Sie kann geradezu auch das Gegenteil verlangen. – Aber dann trotzdem für die Feinde beten und in ihnen Menschen sehen – was für eine Herausforderung!
Kinderchen, liebt euch! – Das ist schwierig genug. Denn es funktioniert nicht einfach so. Liebe lässt sich nicht gebieten, befehlen oder anordnen. Ich kann mich nicht einfach entscheiden: Ab jetzt liebe ich meinen Mitmenschen. – Bestenfalls kann ich etwas tun, was aussieht wie Liebe: Nett und freundlich sein, auf böse Worte und Taten verzichten, jemandem helfen. Aber wenn ich das nur tue, um damit zu zeigen, was für ein guter Mensch, was für ein guter Christ ich bin, dann ist das noch lange keine Liebe. Vielleicht sogar eher Heuchelei. Ich möchte gefallen: meinem Mitmenschen, mir selber oder auch Gott. – Vielleicht ist wahre Liebe manchmal sogar eher daran zu erkennen, dass sie auch Dinge tut, die dem anderen nicht gefallen. Und umgekehrt könnte man bezweifeln, dass jemand, der es immer allen recht machen will, das auch aus Liebe tut. – Komplizierte Sache!
Kinderchen, liebt euch! Liebe lässt sich nicht einfach anordnen, sie muss wachsen. Liebe ist kein Produkt, sie ist eine Frucht. Die Liebe, die wir geben, ist die Frucht der Liebe, die wir empfangen haben. Im letzten Grunde ist die Liebe von Gott. Im letzten Grunde ist Gott selber die Liebe. Und dass Menschen liebesfähig werden, das kommt direkt oder indirekt – über andere Menschen – von Gott.
Ihr kennt alle das Lied Gottes Liebe ist wie die Sonne, sie ist immer und überall da. So wie uns warm wird, wenn wir uns in die Sonne stellen oder legen, so wie sie uns von ihrer Wärme abgibt, so wird auch unser Herz von Gottes Liebe erwärmt, wenn wir es Gott hinhalten, wenn wir uns der Liebe Gottes hingeben. Selbst ein Stein wird warm, wenn die Sonne ihn bescheint, heißt es in einem anderen Lied.
Das Gebot der Liebe heißt demnach paradoxerweise nicht: Lauf los und tue deinem Mitmenschen Gutes! Sondern es heißt: Halt inne und lass dich von Gottes Liebe erwärmen und erfüllen!
Kinderchen, liebt euch! – Weil Gott euch liebt, weil ihr Gottes Kinderchen seid.
Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden.
Bei Gott fängt die Liebe an. Durch Jesus kommt sie in die Welt. In der Krippe und am Kreuz. Sie verlangt ihm alles ab. So sehr hat Gott die Welt geliebt.
Und manchmal verlangt die Liebe auch uns alles ab. Den Bruder, die Schwester, den Nächsten, den Feind lieben – das ist nicht schmerzfrei, nicht einfach, nicht billig, es kann wehtun, es kann Schritte fordern, die schwer fallen, es kann Opfer verlangen. Liebe ist nicht leicht.
Aber wo sie gelingt, wo sie zum Ziel kommt, da ist Gott selber zum Ziel gekommen, da ist Gott bei uns Menschen angekommen.
Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.
„Das allein, wenn es geschieht, ist hinlänglich genug.“ Amen.