Liebe Schwestern und Brüder,
ja – warum spreche ich euch
eigentlich so an? – Weil wir verwandt sind, eng verwandt. Nicht nur
im übertragenen Sinne. Wenn wir weit genug zurückgehen könnten,
dann würden wir alle irgendwann auf gemeinsame Vorfahren stoßen.
Nach der Bibel sind wir sowieso alle Söhne Evas und Töchter Adams –
und natürlich auch umgekehrt. – Wir sind verwandt.
Für Adam und Eva war die Welt noch ein
Paradies, ein Garten, den sie bebauen und bewahren sollten. – Wenn
wir heute Erntedank feiern, wenn in den meisten Kirchen unserer
Heimat heute die Kirchen mit Erntegaben geschmückt sind, dann hat
das immer noch mit Adam und Eva zu tun. Mit Gottes Auftrag nämlich,
die Erde zu bebauen und zu bewahren wie einen Garten, und es hat zu
tun mit seinem Segen. Der Mensch bebaut und bewahrt, pflanzt und
gießt und düngt und erntet. Und Gott lässt es wachsen. Genau so
haben wir es gesungen: Wir pflügen und wir streuen den Samen auf
das Land, doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand (EG 508).
Wir sind nicht nur Söhne und Töchter
von Adam und Eva, wir sind auch alle Kinder Noahs, des Mannes, der
aus der rettenden Arche herausgekommen ist und mit dem das Leben auf
die Erde zurückgekommen ist nach der großen Flut. Er hat von Neuem
begonnen, die Erde zu bebauen, zu pflanzen, zu gießen, zu düngen
und zu ernten. Er war – was viele nicht wissen – auch der erste,
der Weinbau betrieben hat (und der, nebenbei gesagt, auch mit
unangenehmen Folgen von zu viel Weingenuss zu tun bekam). Diesem Noah
hatte Gott zugesagt: So lange die Erde steht, soll nicht aufhören
Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht (1. Mose 8, 22). –
Diese Zusage gilt, unbeschadet aller Befürchtungen eines möglichen
Klimawandels.
Alle, die wir
Menschenkinder sind, sind demnach Schwestern und Brüder. Fast
7 Milliarden Geschwister hat jeder von uns. Wir sind verwandt.
Wir gehören zusammen, im Guten und im Bösen. Gemeinsam leben wir
von den Früchten der Erde. Gemeinsam leben wir von Gottes Segen.
Wir Christen wissen
noch mehr: Wir sind auch Gottes Kinder. Jede und jeder von uns ist
von Gott gewollt und von Gott geliebt. Jeder und jedem von uns ist
Gott ein Vater. Und so sind wir erst recht Schwestern und Brüder.
Schau dir deinen
Banknachbarn an. Er ist ein Mensch, wie du. Natürlich ist er anders.
Größer oder kleiner. Vielleicht ist er ein Mann und du bist eine
Frau – oder umgekehrt. Seine Haare sehen bestimmt anders aus als
deine (und nicht nur von der Frisur her). Sein Gesicht ist anders als
deins. Das ist auch gut so, so können wir uns unterscheiden. Und
natürlich kleidet sich auch jeder ein bisschen anders. Wir sind ja
nicht beim Militär oder in einem Kloster. Wir sind Individuen, jeder
anders, jeder besonders, und das zeigen wir auch. Aber bei all den
Unterschieden und Besonderheiten: Wir haben ja doch viel mehr
Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten. Vergleicht mal eure Hände: So
unterschiedlich sie sind – es sind eindeutig Menschenhände. Keiner
hat Affenpranken oder Bärentatzen oder Katzenpfötchen. Und schaut
euch ins Gesicht: Es ist eindeutig ein menschliches Gesicht. Mit oder
ohne Bart, mit oder ohne Brille, mit großen oder kleinen Ohren,
hellen oder dunklen Augen, schiefer oder gerader Nase: Im Grunde ist
es doch ähnlich. Keiner von uns hat spitze Ohren oder schwarze
Knopfaugen oder Hörner auf dem Kopf. Wir sehen uns an und erkennen
im anderen einen Menschenbruder oder eine Menschenschwester.
Genetisch stimmen wir zu weit über 99 % miteinander überein. Wir
sind eben verwandt. Oder altmodisch, biblisch ausgedrückt: Es ist
das gleiche Fleisch und Blut, aus dem wir gemacht sind.
Daran erinnert uns
der Predigttext zum diesjährigen Erntedanktag. Es ist ein Wort aus
dem Buch des Propheten Jesaja im 58. Kapitel:
Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: "Siehe, hier bin ich."
Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wurst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: "Der Die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne."
Jesaja 58, 7-12
Entzieh dich
nicht deinem Fleisch und Blut! –
Dieser Satz hat mich besonders angesprochen. Der Mensch neben dir ist
dein eigen Fleisch und Blut, deine Schwester, dein Bruder. Und damit
ist nicht nur der gemeint, der neben dir in der Kirchenbank sitzt,
sondern jeder Mensch, der dir begegnet. Auch der Obdachlose vor der
Kirche. Auch der Nachbar, über den du dich ärgerst. Auch der
Uhrenverkäufer im Strandrestaurant. Auch die Frau, die nicht
aufhört, dich zuzutexten. Sie ist deine Schwester, er ist dein
Bruder. Es ist nur die Frage, ob wir das erkennen, ob uns das bewusst
wird und ob wir diese Menschen wie Schwestern und Brüder behandeln.
Unser Predigttext ist, wie sehr oft, nur ein Ausschnitt. Wenn man die
Verse davor mit liest, dann erfährt man, dass es ums Fasten geht. –
Komisches Thema zum Erntedankfest! – Wir feiern doch gerade, dass
wir genug, mehr als genug zum Leben haben. Uns geht es gut, wir
müssen nicht fasten: Gott gibet Speise reichlich und überall,
hieß es im Lied (EG 502). Gottes gute Gaben nicht anzunehmen – das
bringt doch nichts! – Und: genau das sagt auch der Prophet. Es
geht ihm, nein, es geht Gott hier um eine andere Art zu fasten. Diese
Art von Fasten kennen wir besser unter dem Begriff Teilen.
Erntedankfest war in unseren Gemeinden in Deutschland immer ein Fest
des Teilens. Viele aus den Gemeinden haben Früchte des Gartens und
des Feldes, oft aber auch verarbeitete Lebensmittel – Konserven,
Mehl, Zucker, Nudeln, Honig, Nutella und vieles, vieles mehr
mitgebracht in die Kirche, und wir haben es dann am nächsten Tag
weiterverteilt – an ein Kinderheim, an ein Obdachlosenasyl, an ein
Tafel-Projekt.
Besonders beeindruckend war immer unsere Erntedankaktion mit der
Grundschule am Freitag vor dem Erntedanktag. Die Kinder kamen in die
Kirche und fast jedes Kind brachte ein paar Lebensmittel mit; die
füllten den ganzen Platz vor dem Altar in der Kirche. Bestimmt waren
diese Gaben für ein christliches Projekt in Chemnitz, bei dem
Straßenkinder in einem sozialen Brennpunktgebiet betreut werden, wo
sie für ein paar Stunden unterkommen können, auch was zu essen
bekommen und wo ihnen auch mal ermöglicht wird, mit anderen zusammen
etwas zu unternehmen oder sogar für ein paar Tage wegzufahren.
Dieses Projekt funktioniert nur, weil viele Menschen aus umliegenden
Kirchengemeinden dafür spenden: die Kinder eben Lebensmittel und die
Erwachsenen häufig Geldspenden.
Und so wie es bei uns war, ist es in vielen anderen Gemeinden. So ist
es fast überall, wo Christen leben: Sie spenden, sie geben ab, sie
teilen mit denen, die weniger haben und doch genau so viel brauchen
wie wir.
Brich dem Hungrigen dein Brot! Du
hast genug, dann teile mit dem, der nichts oder zu wenig hat!
Und was hat das mit Fasten zu tun? – Fasten heißt bewusst auf
etwas verzichten. Was ich einem anderen gebe, das habe ich nicht mehr
selbst, darauf habe ich verzichtet. – Wahrscheinlich merken wir das kaum noch. Weil wir aus dem Überfluss
geben. Zehn Euro, zwanzig Euro, hundert Euro weggeben, das tut den
wenigsten von uns spürbar weh.
Uns tut etwas anderes weh beim Spenden, Geben und Teilen: Wenn wir
einer Hilfsorganisation geben, dann wissen wir nicht, ob die Hilfe
wirklich sinnvoll ist und wie viel davon ankommt. Wenn wir einem
Bettler geben, dann befürchten wir, dass unsere Gabe am Ende seine
Situation nur stabilisiert: Betteln als Erwerbsquelle, von der man
eben auch leben kann. Ich denke an eine Frau im Umfeld unserer alten
Gemeinde, die den Pfarrern und einigen anderen gutwilligen Menschen
hunderte, ja tausende Euros abgebettelt hat mit immer wieder neuen
und anderen ausweglosen Situationen, in denen sie sich angeblich
befand. Natürlich hat sie immer versprochen, das Geld wieder
zurückzuzahlen, aber sie konnte es nie. – Da vergeht einem das
Teilen.
Und wir haben noch ein Problem: Wir haben die Versorgung von
Hilfsbedürftigen institutionalisiert und verstaatlicht. Der
Sozialstaat ist zuständig, dass jeder das Existenzminimum hat. Dafür
bezahlen wir Steuern. Warum sollen wir dann noch extra geben?
Und hier, hier sind wir als Gäste im Land, und es fällt uns noch
schwerer, wirklich sinnvoll zu geben und zu teilen.
Ein Versuch ist unser Sozialfonds, den wir eingerichtet haben und für
den wir heute wieder sammeln – ausnahmsweise mal nicht am letzten,
sondern am ersten Sonntag im Monat. Vielleicht war es ja eine
glückliche Fügung, dass ich das letzte Woche vergessen hatte; heute
passt es besser. Mit diesem Geld können wir konkrete (und auch diskrete) Hilfe im
Einzelfall geben. Bisher haben wir das noch nicht getan. Ich bin mir
aber sicher, dass es dazu Gelegenheit geben wird.
Ja, wenn wir geben, spenden, teilen, dann ist das immer auch riskant.
Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit, dass unsere Hilfe
wirklich hilft, dass unsere Gaben auch nützen. Aber deswegen nichts
mehr geben, alles für sich behalten, das würde uns hart und
unmenschlich machen.
Der Mitmensch ist unser eigenes Fleisch und Blut, ist unser Bruder,
ist unsere Schwester. Wir dürfen ihn nicht aus den Augen verlieren,
er kann uns nicht gleichgültig sein. Eben weil er im Grunde genau so
ist wie wir. Dass es uns gut geht, dass wir keinen Mangel leiden, ist
ja doch nur zu einem Teil unser Verdienst. Zum anderen Teil ist es
das Glück, dass wir im reichen Teil der Welt geboren sind, uns
Reichtum ererben oder erarbeiten konnten, wo gleichzeitig anderen
jegliche Voraussetzung dafür fehlt. Jeder von uns könnte auch der
andere sein, der Arme, der Bedürftige, der Minderbemittelte. Und
jeder von uns ist so oder so Schwester oder Bruder.
Lasst uns einander mit geschwisterlichen Augen ansehen. Lasst uns
auch unseren ferneren Nächsten mit geschwisterlichen Augen ansehen.
Und lasst uns entsprechend leben und handeln. Darauf liegt Gottes
Verheißung und sein Segen.
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