Sonntag, 2. Oktober 2011

Predigt vom 2. Okober 2011 (Erntedanktag)

Überarbeitete Fassung einer Predigt von 2005




Liebe Schwestern und Brüder,

ja – warum spreche ich euch eigentlich so an? – Weil wir verwandt sind, eng verwandt. Nicht nur im übertragenen Sinne. Wenn wir weit genug zurückgehen könnten, dann würden wir alle irgendwann auf gemeinsame Vorfahren stoßen. Nach der Bibel sind wir sowieso alle Söhne Evas und Töchter Adams – und natürlich auch umgekehrt. – Wir sind verwandt.

Für Adam und Eva war die Welt noch ein Paradies, ein Garten, den sie bebauen und bewahren sollten. – Wenn wir heute Erntedank feiern, wenn in den meisten Kirchen unserer Heimat heute die Kirchen mit Erntegaben geschmückt sind, dann hat das immer noch mit Adam und Eva zu tun. Mit Gottes Auftrag nämlich, die Erde zu bebauen und zu bewahren wie einen Garten, und es hat zu tun mit seinem Segen. Der Mensch bebaut und bewahrt, pflanzt und gießt und düngt und erntet. Und Gott lässt es wachsen. Genau so haben wir es gesungen: Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land, doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand (EG 508).

Wir sind nicht nur Söhne und Töchter von Adam und Eva, wir sind auch alle Kinder Noahs, des Mannes, der aus der rettenden Arche herausgekommen ist und mit dem das Leben auf die Erde zurückgekommen ist nach der großen Flut. Er hat von Neuem begonnen, die Erde zu bebauen, zu pflanzen, zu gießen, zu düngen und zu ernten. Er war – was viele nicht wissen – auch der erste, der Weinbau betrieben hat (und der, nebenbei gesagt, auch mit unangenehmen Folgen von zu viel Weingenuss zu tun bekam). Diesem Noah hatte Gott zugesagt: So lange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht (1. Mose 8, 22). – Diese Zusage gilt, unbeschadet aller Befürchtungen eines möglichen Klimawandels.

Alle, die wir Menschenkinder sind, sind demnach Schwestern und Brüder. Fast 7 Milliarden Geschwister hat jeder von uns. Wir sind verwandt. Wir gehören zusammen, im Guten und im Bösen. Gemeinsam leben wir von den Früchten der Erde. Gemeinsam leben wir von Gottes Segen.

Wir Christen wissen noch mehr: Wir sind auch Gottes Kinder. Jede und jeder von uns ist von Gott gewollt und von Gott geliebt. Jeder und jedem von uns ist Gott ein Vater. Und so sind wir erst recht Schwestern und Brüder.

Schau dir deinen Banknachbarn an. Er ist ein Mensch, wie du. Natürlich ist er anders. Größer oder kleiner. Vielleicht ist er ein Mann und du bist eine Frau – oder umgekehrt. Seine Haare sehen bestimmt anders aus als deine (und nicht nur von der Frisur her). Sein Gesicht ist anders als deins. Das ist auch gut so, so können wir uns unterscheiden. Und natürlich kleidet sich auch jeder ein bisschen anders. Wir sind ja nicht beim Militär oder in einem Kloster. Wir sind Individuen, jeder anders, jeder besonders, und das zeigen wir auch. Aber bei all den Unterschieden und Besonderheiten: Wir haben ja doch viel mehr Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten. Vergleicht mal eure Hände: So unterschiedlich sie sind – es sind eindeutig Menschenhände. Keiner hat Affenpranken oder Bärentatzen oder Katzenpfötchen. Und schaut euch ins Gesicht: Es ist eindeutig ein menschliches Gesicht. Mit oder ohne Bart, mit oder ohne Brille, mit großen oder kleinen Ohren, hellen oder dunklen Augen, schiefer oder gerader Nase: Im Grunde ist es doch ähnlich. Keiner von uns hat spitze Ohren oder schwarze Knopfaugen oder Hörner auf dem Kopf. Wir sehen uns an und erkennen im anderen einen Menschenbruder oder eine Menschenschwester. Genetisch stimmen wir zu weit über 99 % miteinander überein. Wir sind eben verwandt. Oder altmodisch, biblisch ausgedrückt: Es ist das gleiche Fleisch und Blut, aus dem wir gemacht sind.

Daran erinnert uns der Predigttext zum diesjährigen Erntedanktag. Es ist ein Wort aus dem Buch des Propheten Jesaja im 58. Kapitel:

Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: "Siehe, hier bin ich."
Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wurst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: "Der Die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne."
Jesaja 58, 7-12

Entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! – Dieser Satz hat mich besonders angesprochen. Der Mensch neben dir ist dein eigen Fleisch und Blut, deine Schwester, dein Bruder. Und damit ist nicht nur der gemeint, der neben dir in der Kirchenbank sitzt, sondern jeder Mensch, der dir begegnet. Auch der Obdachlose vor der Kirche. Auch der Nachbar, über den du dich ärgerst. Auch der Uhrenverkäufer im Strandrestaurant. Auch die Frau, die nicht aufhört, dich zuzutexten. Sie ist deine Schwester, er ist dein Bruder. Es ist nur die Frage, ob wir das erkennen, ob uns das bewusst wird und ob wir diese Menschen wie Schwestern und Brüder behandeln.

Unser Predigttext ist, wie sehr oft, nur ein Ausschnitt. Wenn man die Verse davor mit liest, dann erfährt man, dass es ums Fasten geht. – Komisches Thema zum Erntedankfest! – Wir feiern doch gerade, dass wir genug, mehr als genug zum Leben haben. Uns geht es gut, wir müssen nicht fasten: Gott gibet Speise reichlich und überall, hieß es im Lied (EG 502). Gottes gute Gaben nicht anzunehmen – das bringt doch nichts! – Und: genau das sagt auch der Prophet. Es geht ihm, nein, es geht Gott hier um eine andere Art zu fasten. Diese Art von Fasten kennen wir besser unter dem Begriff Teilen.

Erntedankfest war in unseren Gemeinden in Deutschland immer ein Fest des Teilens. Viele aus den Gemeinden haben Früchte des Gartens und des Feldes, oft aber auch verarbeitete Lebensmittel – Konserven, Mehl, Zucker, Nudeln, Honig, Nutella und vieles, vieles mehr mitgebracht in die Kirche, und wir haben es dann am nächsten Tag weiterverteilt – an ein Kinderheim, an ein Obdachlosenasyl, an ein Tafel-Projekt.

Besonders beeindruckend war immer unsere Erntedankaktion mit der Grundschule am Freitag vor dem Erntedanktag. Die Kinder kamen in die Kirche und fast jedes Kind brachte ein paar Lebensmittel mit; die füllten den ganzen Platz vor dem Altar in der Kirche. Bestimmt waren diese Gaben für ein christliches Projekt in Chemnitz, bei dem Straßenkinder in einem sozialen Brennpunktgebiet betreut werden, wo sie für ein paar Stunden unterkommen können, auch was zu essen bekommen und wo ihnen auch mal ermöglicht wird, mit anderen zusammen etwas zu unternehmen oder sogar für ein paar Tage wegzufahren. Dieses Projekt funktioniert nur, weil viele Menschen aus umliegenden Kirchengemeinden dafür spenden: die Kinder eben Lebensmittel und die Erwachsenen häufig Geldspenden.

Und so wie es bei uns war, ist es in vielen anderen Gemeinden. So ist es fast überall, wo Christen leben: Sie spenden, sie geben ab, sie teilen mit denen, die weniger haben und doch genau so viel brauchen wie wir.
Brich dem Hungrigen dein Brot! Du hast genug, dann teile mit dem, der nichts oder zu wenig hat!

Und was hat das mit Fasten zu tun? – Fasten heißt bewusst auf etwas verzichten. Was ich einem anderen gebe, das habe ich nicht mehr selbst, darauf habe ich verzichtet. – Wahrscheinlich merken wir das kaum noch. Weil wir aus dem Überfluss geben. Zehn Euro, zwanzig Euro, hundert Euro weggeben, das tut den wenigsten von uns spürbar weh.

Uns tut etwas anderes weh beim Spenden, Geben und Teilen: Wenn wir einer Hilfsorganisation geben, dann wissen wir nicht, ob die Hilfe wirklich sinnvoll ist und wie viel davon ankommt. Wenn wir einem Bettler geben, dann befürchten wir, dass unsere Gabe am Ende seine Situation nur stabilisiert: Betteln als Erwerbsquelle, von der man eben auch leben kann. Ich denke an eine Frau im Umfeld unserer alten Gemeinde, die den Pfarrern und einigen anderen gutwilligen Menschen hunderte, ja tausende Euros abgebettelt hat mit immer wieder neuen und anderen ausweglosen Situationen, in denen sie sich angeblich befand. Natürlich hat sie immer versprochen, das Geld wieder zurückzuzahlen, aber sie konnte es nie. – Da vergeht einem das Teilen.

Und wir haben noch ein Problem: Wir haben die Versorgung von Hilfsbedürftigen institutionalisiert und verstaatlicht. Der Sozialstaat ist zuständig, dass jeder das Existenzminimum hat. Dafür bezahlen wir Steuern. Warum sollen wir dann noch extra geben?

Und hier, hier sind wir als Gäste im Land, und es fällt uns noch schwerer, wirklich sinnvoll zu geben und zu teilen.

Ein Versuch ist unser Sozialfonds, den wir eingerichtet haben und für den wir heute wieder sammeln – ausnahmsweise mal nicht am letzten, sondern am ersten Sonntag im Monat. Vielleicht war es ja eine glückliche Fügung, dass ich das letzte Woche vergessen hatte; heute passt es besser. Mit diesem Geld können wir konkrete (und auch diskrete) Hilfe im Einzelfall geben. Bisher haben wir das noch nicht getan. Ich bin mir aber sicher, dass es dazu Gelegenheit geben wird.

Ja, wenn wir geben, spenden, teilen, dann ist das immer auch riskant. Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit, dass unsere Hilfe wirklich hilft, dass unsere Gaben auch nützen. Aber deswegen nichts mehr geben, alles für sich behalten, das würde uns hart und unmenschlich machen.

Der Mitmensch ist unser eigenes Fleisch und Blut, ist unser Bruder, ist unsere Schwester. Wir dürfen ihn nicht aus den Augen verlieren, er kann uns nicht gleichgültig sein. Eben weil er im Grunde genau so ist wie wir. Dass es uns gut geht, dass wir keinen Mangel leiden, ist ja doch nur zu einem Teil unser Verdienst. Zum anderen Teil ist es das Glück, dass wir im reichen Teil der Welt geboren sind, uns Reichtum ererben oder erarbeiten konnten, wo gleichzeitig anderen jegliche Voraussetzung dafür fehlt. Jeder von uns könnte auch der andere sein, der Arme, der Bedürftige, der Minderbemittelte. Und jeder von uns ist so oder so Schwester oder Bruder.

Lasst uns einander mit geschwisterlichen Augen ansehen. Lasst uns auch unseren ferneren Nächsten mit geschwisterlichen Augen ansehen. Und lasst uns entsprechend leben und handeln. Darauf liegt Gottes Verheißung und sein Segen.

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