Klagelieder 3, 22-26. 31-32
Liebe Schwestern und Brüder,
es gibt Tage, die brennen sich für Jahre, Jahrzehnte, manchmal sogar
für Jahrhunderte in das Gedächtnis der Menschen ein.
Der 11. September 2001 ist so ein Tag – für Amerikaner und für
die Welt; wir haben vor vier Wochen erst daran erinnert: Innerhalb
weniger als einer Stunde sterben fast dreitausend Menschen. Einzelne
kommen nur ganz knapp davon, andere ganz knapp nicht. Eheleute,
Eltern, Kinder müssen stunden-, tage-, wochenlang bangen bis zu der
Gewissheit, dass auch ihr Angehöriger unter den Toten ist. Und der
Schmerz bleibt und ist an so einem Gedenktag wieder wie neu.
Der 13. Februar 1945 ist für die Menschen aus Dresden so ein Tag.
Die Erinnerung an die Bombennacht, den Höllenlärm, die Todesangst
und die Gebete im Luftschutzkeller, das Entsetzen über den glutroten
Himmel, den man noch von Chemnitz und Leipzig aus sehen konnte und
auch hier dann die Angst, die Ungewissheit über das Schicksal von
Angehörigen und Bekannten, die in der Stadt gelebt haben – das ist
uns von der Generation unserer Eltern und Großeltern mitgegeben
worden. Es stand uns jahrelang vor Augen, wenn wir an der Ruine der
Frauenkirche vorbeikamen.
Der 6. August 1945 ist so ein Tag – für die Menschen in Japan: Da
wurde die erste Atombombe über Hiroshima gezündet, die mit einem
Schlag fast 80.000 Tote forderte. Vom Stadtzentrum und den Menschen
darin war danach so gut wie nichts mehr übrig. Vorstellbar ist das
Entsetzen dieses Tages eigentlich nicht.
Es war auch ein Tag im August, es war das Jahr 587 v. Chr., das man
damals natürlich noch nicht so zählte: Da fiel das Heer der
Babylonier in die Stadt Jerusalem ein. Wir wissen nicht, wie viele
Menschen damals starben. Aber wir wissen von brennenden Häusern und
Straßen. Wir wissen davon, dass Menschen verschleppt wurden. Wir
ahnen Mord, Plünderung und Vergewaltigung. Und wir wissen von dem
Entsetzen der Menschen, die erleben müssen, wie auch Gottes Tempel,
das Haus des Herrn zerstört und geplündert wird, die kostbaren
Kultgeräte zerstört oder geraubt. Die Bundeslade mit den
Gesetzestafeln einfach mitgenommen aus dem Allerheiligsten, das doch
eigentlich kein Jude betreten durfte, geschweige denn ein
Ungläubiger, ein Heide.
Wo war Gott an diesem Tag? Ausgegangen aus seinem Haus? Weggegangen
aus seiner Stadt? Hatte er sein Volk, seine Menschen verlassen?
Wo war Gott an all den anderen Tagen des Unheils, als Städte
zerstört, Menschen getötet und gequält wurden? – Es sind ja nur
ganz wenige, willkürlich herausgegriffen, die ich genannt habe.
All die vielen unbekannten Tage, an denen Menschen vernichtet,
vergewaltigt, deportiert, in Gaskammern gesteckt wurden, all die habe
ich ja gar nicht genannt, kann sie auch gar nicht nennen, weil es so
viele sind.
Ja, vergeht denn überhaupt ein Tag, ohne dass Menschen durch die
Grausamkeit anderer Menschen zu Tode kommen, in Leid und Elend
gestürzt werden?
Wie kann man da von der Güte des Herrn reden? Seine Barmherzigkeit
rühmen, seine Treue preisen und seine Hoffnung auf ihn setzen?
Ich muss diese Fragen stellen. Ich muss diesen Kontrast deutlich
machen. Weil der Glaube sich irgendwann vor diese Fragen gestellt
sieht. Weil mancher Leute Glaube an diesen Fragen zerbricht. Das
sinnlose Leiden in der Welt gibt eben keinen Sinn. Und mit Gottes
Liebe, Güte und Barmherzigkeit passt es nicht zusammen.
Ich muss diese Fragen auch deshalb stellen, weil unser Bibeltext sie
stellt. Wir sind in den Klageliedern. Und da ist nicht einfach
nur so von Gottes Güte, Barmherzigkeit und Treue die Rede. Da ist
zuerst und vor allem all das andere ausgesprochen. Da ist Klage und
Zweifel, Anklage und Verzweiflung. Und dann, dann erst ist auch so
etwas wie Trost – aber nicht Vertröstung.
Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war. –
Mit diesen Worten beginnen die Klagelieder. Rudolf Mauersberger hat
diese Worte und weitere in einer ergreifenden Motette vertont – im
Gedanken und Gedenken der zerstörten Stadt Dresden, wo er
Kreuzkantor war.
Ich bin der Mann, der Elend sehen muss durch die Rute des Grimmes
Gottes – so beginnt das dritte
Klagelied, aus dem der Predigttext genommen ist. Da spricht einer von
sich selbst; davon, was das Grauen und Elend, das er erlebt hat, mit
ihm persönlich anstellt. Er hat den Eindruck, Gott hat sich gegen
ihn verschworen. Alles Elend der Welt ist über ihn gekommen. Gott
führt ihn in die Finsternis. Gott hat ihn eingemauert. Gott hat ihn
in ein auswegloses Labyrinth gestellt. Gott hat ihn angefallen wie
ein Raubtier, ein Löwe oder Bär und ihn zerfleischt. Gott hat aus
dem Hinterhalt Pfeile in seine Nieren geschossen. Gott hat ihn auf
Kieselsteine beißen lassen.
Diese Worte müssen wir eigentlich
mithören, mitdenken, mitfühlen, wenn wir dann die anderen Worte
hören: Die Güte des Herrn …, seine Barmherzigkeit …,
seine Treue …
Gott, wie dieser Mensch ihn erlebt, Gott, wie viele, allzu viele ihn
erleben, ist nicht der liebe Gott. Gott kann auch böse sein, hart,
grausam, unerbittlich.
Und dann fragt man ihn, fragt man hoffentlich noch ihn: Warum?
Weshalb? Wozu?
Manchmal findet man tastend Ansätze zu Antworten. Die Propheten
Israels und der Sänger der Klagelieder, sie haben solche Ansätze
von Antworten gefunden: Sie sprechen von Schuld und Sünde, von der
Gottvergessenheit ihres Volkes. Sie sprechen von der Torheit und
Gottlosigkeit ihrer Regierenden. Und sie sprechen von Gottes Zorn.
Gott, so wie die Bibel von ihm spricht, ist nicht der liebe Gott,
sondern der heilige Gott, der gerechte Gott, auch der zornige und
strafende Gott.
Für uns ist das noch schwerer zu fassen als für die Menschen
damals, weil wir uns so daran gewöhnt haben, dass Gott der liebe
ist, dass Gott die Liebe ist. Die Kehrseite: Wir reden von Gott wie
von unserem Haustier: Der ist ganz lieb. Der tut nichts. – Der
domestizierte Gott.
Nur taugt der domestizierte Gott nicht für böse Tage. Wir halten
das ganze Elend unserer Welt, die Leidenden und Gemordeten fern von
Gott. Gott, der liebe Gott, kann damit ja nichts zu tun haben. Er tut
so was doch nicht. Gott ist dafür da, dass mein Leben gelingt, dass
ich Glück und gute Tage genießen kann und dass er mich im Unglück,
wenn es denn schon kommt, ein bisschen tröstet. So weit, so gut.
Aber dass Gott auch Menschen ins Elend stößt, oder dass er
zumindest das Elend und die Katastrophen zulässt, diese Vorstellung
halten wir von unserem lieben Kuschelgott fern.
Der Mensch, der all seine Not und Verzweiflung, Gott vorwirft, der
Mensch, der weiß, dass er es auch im Schlimmsten und Bösesten mit
Gott zu tun hat, der ist es dann am Ende doch auch, der sich von Gott
trotzdem, gerade und immer noch das Beste erwartet: Güte,
Barmherzigkeit, Treue.
Wie geht das? – Es geht, und es geht nur aus einem ganz tiefen und
fundamentalen Gottvertrauen heraus. Das ist die Gewissheit, dass
Gottes Wille für uns eigentlich immer gut ist, dass Gottes Tun für
uns eigentlich immer der beste ist, dass Leid und Elend, Tod und
Verderben zwar sehr wohl real sind, aber bei Gott doch nur die
Oberfläche, unter der Leben und Liebe sind.
Ja, manchmal sehen wir Menschen nicht unter die Oberfläche. Wir
können es nicht. Wir sind zu oberflächlich. Wir sehen das
Verderben, wir sehen den Tod, wir spüren den Schmerz. Wir erfahren
Gottes Zorn, den wir nicht wahr haben wollen und nicht verstehen –
schon gar nicht wenn er uns trifft. Aber wir dringen nicht durch in
die Tiefe, sehen nicht in Gottes Herz, wo doch immer noch seine Güte,
seine Barmherzigkeit, seine Treue wohnt.
Der Sänger der Klagelieder, er ist durchgedrungen bis ins Herz
Gottes. Am Tiefpunkt der Anklage und Verzweiflung geschieht der
Umschwung:
Ich sprach: Mein Ruhm und meine Hoffnung auf den HERRN sind dahin,
so heißt es. Und dann spricht
er doch eine Bitte aus: Gedenke doch, wie ich so elend und
verlassen, mit Wermut und Bitterkeit getränkt bin! Und
aus dieser entspringt Bitte so etwas wie glaubende Zuversicht: Du
wirst ja daran gedenken, denn meine Seele sagt's mir. Dies nehme ich
zu Herzen, darum hoffe ich noch. –
Und dann folgen die Worte unseres Predigttextes: Die Güte
des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit
hat noch kein Ende …
Es ist ein Sich-Hindurch-Beten zum Herzen Gottes. Durch all das
Elend, durch all das Leid, durch alle Verletzungen hindurch. Aus der
Ausweglosigkeit findet er den einzigen Ausweg zu dem, von dem er doch
meinte, er hätte ihm erst den Weg verstellt. Und vielleicht ist es
ja auch das: Dass Gott uns zu sich zwingt …
Im Grunde, im Grunde ist das auch der einzige Weg, den wir gehen
können: Den Weg von Gott zu Gott. Den Weg von der Klage und
Verzweiflung an Gott zum Vertrauen auf die Güte und Barmherzigkeit
in Gott. Den Weg vom fremden zum bekannten Gott. Den Weg vom zornigen
zum liebenden Gott.
Denn das ist er am Ende doch: nicht der liebe Gott, aber der liebende
Gott. Am Ende offenbart er sich als der, der er im Innersten ist. Am
Ende steht uns seine Tür, steht uns sein Herz offen.
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