Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des HERRN und ihre Nachkommen sind bei ihnen. Und es soll geschehen: ehe sie rufen, will ich hören. Wolf und Schaf sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muss Erde fressen. Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.
Jesaja 65, 17-25
Liebe Schwestern und Brüder,
was für ein wunderbarer Tag gestern: Sonne, blauer Himmel, milde Wärme – Frieden, Glück! Ich denke an warme Frühlingstage in Deutschland. Der erste Sonntagnachmittag im Jahr, wo man draußen sitzen kann. Vögel hört man und Menschenstimmen aus der Ferne. Sie machen die Stille spürbar. Die Sonne wärmt die Haut, ohne zu brennen. – So ein Frühlinstag war gestern – jedenfalls für mich.
Dabei ist November – Totensonntag. Das weckt ganz andere Bilder in mir: Menschen in dicken Jacken und Mänteln, unter Regenschirmen gehen sie über den Friedhof, bleiben am Grab ihrer Angehörigen stehen, lassen sich von ferne berühren von einem Posaunenchoral, der am Rande des Friedhofs von Bläsern mit kältesteifen Fingern gespielt wird ...
So spricht der Herr: Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen.
Hier im ewigen Frühling verlangt es mich nicht nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Denn dieser blaue Himmel über mir, mit seinen weißen Wolken und seiner gelben Sonne ist mir Himmel genug. Und diese grüne Erde, die in den letzten drei Wochen zu neuem Leben erwacht ist, dieser wunder-warme Ort auf unserem wunder-schönen Planeten ist mir Paradies genug.
Den November mit seiner Kälte, seiner Nässe, seinen Gräbern und den traurigen Menschen habe ich hinter mir gelassen. Und ihr auch.
Nur diese Choräle, die berühren mich auch noch hier – ganz von ferne: Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben... Wer weiß, wie nahe mir mein Ende... Christus, der ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn... Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt... Wachet auf, ruft uns die Stimme.
Ein neuer Himmel und eine neue Erde... – Ich denke an die Menschen, denen Himmel und Erde kaputt ist. Ich denke an die, die mit Angst und Sorge zum Himmel schauen, weil Raketen oder Bomben fallen könnten aus diesem Himmel. Ich denke an die, die mit Angst und Sorge auf die Erde schauen, weil sie vertrocknet ist und keine Nahrung gibt für Menschen und Vieh.
Ich denke an die Menschen, die in die Erde hinabschauen, in diese Grube, wo sie einen hineinlegen, mit dem sie gerade noch gesprochen, gelacht, geweint, gehofft, gebetet haben, und der nun schweigt. Die Erde, sie fällt auf den Sarg, wird ihn bedecken, wird ihn sich einverleiben bis nichts mehr übrig ist als – Erde: von Erde genommen, zu Erde geworden.
Ich denke an die Menschen, die zum Himmel schreien und ohne Antwort bleiben von dem, zu dem sie gebetet haben und der nun schweigt.
Es ist diese unpassende Ungleichzeitigkeit: Hier berühren sich Himmel und Erde und wir leben im Paradies. Und da tut sich die Erde auf, um uns zu verschlingen, und der Himmel schweigt.
Ich habe es gelesen, ihr habt es gehört, wie sie sich den neuen Himmel und die neue Erde vorstellten, damals vor Jahrtausenden. Und es ist eigentlich wie ein Frühlingstag im November auf Teneriffa: Freude, Glück, Geborgenheit. Menschen genießen den Ertrag ihrer Arbeit. – Hundert Jahre alt werden wir hier noch nicht ganz. Aber viel fehlt nicht mehr.
Und ich denke: Haben wir Menschen nicht schon unglaublich viel Wirklichkeit werden lassen, wovon die Alten nur geträumt haben? – Schon für mich, der ich noch kein halbes Jahrhundert auf dieser Welt bin, verwirklichen sich vor meinen Augen und unter meinen Händen Dinge, die vor kurzem noch Science Fiction waren bzw., wie das bei uns im Osten meistens hieß: utopisch. Und auch wenn es für mich die Informationstechnik ist, die mich am meisten erstaunt – ich bin ja mit meinem Smartphone heute schon unterwegs wie man sich das vor wenigen Jahrzehnten für die Besatzung des Raumschiffs Enterprise vorgestellt hat –, erstaunlicher ist eigentlich noch die Entwicklung, die die Medizin in den letzten hundert Jahren genommen hat. Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben ... – Doch das gibt es noch, aber nur noch im Promillebereich. Die Säuglingssterblichkeit, die Lebenserwartung insgesamt, das ist schon unglaublich, wenn man es mit früheren Jahrhunderten vergleicht! Und womöglich wird es in weiteren hundert Jahren so weit sein, wie es hier angedeutet ist: Als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt.
Und ich denke weiter: Vielleicht ist es ja so, dass Gott uns Menschen wirklich so große Möglichkeiten in die Hände gegeben hat, dass wir etwas von dem wahr werden lassen, was man sich früher nur als Paradies vorstellen konnte.
Aber ich denke auch: Es ist noch nicht überall so. Trotz dem, was wir erreicht haben, sterben Kinder, fallen Bomben und Raketen, verhungern Menschen oder verlieren ihre Existenz. – Aber es liegt nicht am Himmel, dass Bomben fallen, und es liegt nicht an der Erde, dass Menschen hungern. Es liegt am Menschen.
Vielleicht brauchen wir gar keinen neuen Himmel und keine neue Erde, sondern einen neuen Menschen. Oder mit den Bildern des Propheten gesprochen: Vielleicht sollten nicht Wolf und Schaf beieinander weiden, sondern Mensch und Mensch es miteinander aushalten, und nicht der Löwe Stroh fressen, sondern der Mensch nicht seinesgleichen.
Ja, das brauchen wir, einen neuen Menschen. Das hat Gott auch so gesehen, und er hat uns den neuen Menschen vom Himmel auf die Erde geschickt. – Das werden wir dann in Kürze wieder feiern. – Und kann sein, es hat auch mit ihm zu tun, dass es in unserer Welt heute schon manchmal ein bisschen utopisch-paradiesisch aussieht. Das Reich Gottes ist mitten unter euch, hat er gesagt. Und dass er auch uns zu neuen Menschen macht.
Und doch: Auch wenn es uns gelingen würde, unsere Welt noch so paradiesisch zu gestalten, friedlich, gerecht, gesund … – uns würde doch immer etwas fehlen. Denn so sind wir: An die paradiesischen Zustände, die wir haben, gewöhnen wir uns, und irgendwas fehlt immer zum perfekten Glück. Heute klagen wir, wenn ein Mensch mit Siebzig stirbt: "Viel zu jung!" Vor hundert Jahren wäre das noch Jammern auf sehr hohem Niveau gewesen. Wir wollen nicht nur länger leben, sondern ewig. Wir wollen nicht nur mehr haben, sondern alles.
Wir kennen das doch: Drei Monate auf der Insel, und schon geht uns immer nur Sonne, Meer und Wärme auf den Geist. Die Tage des unbeschwerten Glücks im Paradies sind selten, auch hier.
Den November mit seiner Kälte, seiner Nässe, seinen Gräbern und den traurigen Menschen haben wir hinter uns gelassen.
Und doch kriecht uns auch hier manchmal die Kälte in den Nacken und drängen sich die Friedhofschoräle in unsere Ohren und Herzen: Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben … Wer weiß, wie nahe mir mein Ende … – Unserer eigenen Endlichkeit, dem Sterbenmüssen, dem Loslassen und Verlieren entgehen wir nicht. Ob wir 70, 80, 100 Jahre oder noch viel älter werden.
Und wir spüren: Wir brauchen noch etwas mehr: Nicht nur das Paradies auf Erden, sondern einen neuen Himmel und eine neue Erde. Eine neue Dimension des Seins, etwas, das größer, besser, schöner ist als alles, was wir hier haben und uns wünschen können. Etwas das unvergänglich ist.
Die alten biblischen Bilder vom Paradies wie auch unsere neuen Erfahrungen vom Paradies inmitten der vergänglichen Welt, sie weisen über sich hinaus in diese neue, größere Dimension: in Gottes ewigen Frühling, ins Über-Unvorstellbare, in die Ewigkeit.
Es ist Totensonntag, da denken wir ans Sterben – mitten im Leben. Aber mehr noch lasst uns ans Leben denken – mitten im Sterben. Denn es ist Ewigkeitssonntag.
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