Montag, 10. August 2015

Predigt am 9. August 2015 (10. Sonntag nach Trinitatis)

Als Jesus nahe hinzukam, sah er die Stadt Jerusalem und weinte über sie und sprach: „Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, und werden dich dem Erdboden gleich machen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.“
Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben, und sprach zu ihnen: „Es steht geschrieben: ,Mein Haus soll ein Bethaus sein‘; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht.“ Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Angesehensten des Volkes trachteten danach, dass sie ihn umbrächten, und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn das ganze Volk hing ihm an und hörte ihn.
Lukas 19, 41-48


Jesus weint.
Gerade noch hat eine bunte Menschenmenge ihm zugejubelt.
Ihm, dem Friedenskönig, der in Jerusalem einzieht.
Sie haben gejubelt, weil sie mit ihm Wunder erlebt haben und jetzt noch größere Wunder erwarten.
Und eben noch hat er seine jubelnden Anhänger in Schutz genommen vor den Vorwürfen der besorgten Bürger, die Angst haben vor einem Messiaskönig Jesus:
„Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien“, hat er gesagt.
Und dann hält er inne, sieht hinüber zur Stadt und weint.
Sieht hinüber und sieht vor seinem inneren Auge, was kommen wird:
Tod und Zerstörung.
Weint, weil die Steine allein noch schreien werden, wenn die Menschenkinder verstummt sind, tot oder vertrieben.
*
Die Juden weinen.
An diesem Tag im August:
Wenn sie daran denken,
wie Jerusalem und der Tempel zerstört wurden,
wie kein Stein auf dem anderen blieb
und zehntausende Menschen starben.
Eintausendneunhundertundfünfundvierzig Jahre ist das jetzt her.
Und sie weinen noch immer.
Mit diesem Tag begann die beispiellose Geschichte eines Volkes, das ohne Heimat und ohne Heiligtum, zerstreut unter die Völker der Welt, verfolgt und verachtet und geschmäht und millionenfach getötet, lebte und überlebte.
Sie weinen, denn bis heute ist ihr Tempel, ihr Heiligtum nicht wieder erbaut.
An der Westmauer, die stehengeblieben ist, beten sie – bis heute.
Dort, wo der eigentliche Tempel war, dort dürfen sie nicht beten.
Dort werden sie weggejagt, mit Steinen beworfen, als Eindringlinge beschimpft, meistens aber schon von der eigenen, der israelischen Polizei gehindert, überhaupt hinzugehen.
Für andere ist dieser Berg die drittheiligste Stätte und die dulden keine Juden dort.
Für Juden ist es die heiligste Stätte, und sie überlassen sie den anderen und hoffen, dass das dem Frieden dient.*
*
Die Christen haben nicht geweint.
Schon als Jesus weinte, standen seine Anhänger verständnislos daneben.
„Mensch Jesus, du bist doch der Messias, der Friedenskönig; du kommst und machst alles gut. Warum redest du nur so schreckliche Sachen!“
Nur einer hat sich diesen Moment gemerkt.
Nur einer der vier Evangelisten hat ihn uns überliefert.
Als dann 37 Jahre später Jerusalem in Schutt und Asche lag, da haben sie auch nicht geweint, die Christen in Rom und Ephesus, sondern haben zu den Juden gesagt: „Seht ihr! Jesus hat es ja gleich gesagt!
Ihr habt nicht auf ihn gehört.
Ihr habt ihn getötet.
Das habt ihr nun davon!“
Oder sie haben es auch noch theologisch aufgeblasen: „Jesus ist das wahre Opfer für die Sünden der Welt darum konnte, ja musste der Opfergottesdienst im Tempel einfach weg.“
Um die Menschen, die starben und vertrieben wurden, um das Volk der Bibel, das sein verheißenes Land und sein Heiligtum verloren hatte, darum hat keiner eine Träne vergossen.
Kein Christ.
*
Jesus weint.
Mit seinem Volk.
Mit seinem jüdischen Volk.
Jesus weint:
Um die Stadt Gottes und um seinen heiligen Tempel.
Daran hängt sein Herz.
„Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“, hat er schon mit zwölf Jahren gesagt, als seine Eltern ihn im Tempel fanden.
„Mein Haus soll ein Bethaus sein“, sagt er jetzt und setzt ein Zeichen: Schmeißt die hinaus, die ein Kaufhaus, einen Markt, eine Räuberhöhle daraus machen.
Jesus weint.
Er will nicht, dass Gottes Volk und Gottes Land und Gottes Tempel untergehen.
Er will, dass sie leben und auf Gott hören und zu Gott beten.
Und dass sie Frieden haben.
*
Einige Christen haben dann doch noch geweint – viel später, wohl schon zu spät:
Als Gottes Volk in die endgültige Vernichtung geführt werden sollte, in die Todeslager, in die Gaskammern.
Einige Christen, wenige.
Die sind erschrocken und waren entsetzt.
Und sie merkten, dass auch sie diesen Unsinn nachgesprochen hatten: dass Gott sein Volk verstoßen hätte und sie jetzt das neue Gottesvolk wären, sie allein.
Und sie haben geweint um die Menschen.
Und sie haben geweint um ihre Schuld:
dass sie nichts getan hatten oder zu wenig, um das zu verhindern.
*
Einige Christen weinen noch manchmal oder sind zumindest betroffen:
wegen der Vergangenheit und wegen der toten Juden.
Jesus weint wegen der Zukunft und wegen der lebenden Juden.
Er möchte nicht, dass sie sterben.
Ich glaube: Jesus weint auch heute:
Wegen der lebenden Juden, die immer noch und immer wieder in Gefahr sind.
Und wegen der Christen, die sich nach seinem Namen nennen und sich trotzdem und immer noch und heute von neuem gegen seine lebenden Brüder und Schwestern stellen.
Die für die toten Juden Stolpersteine verlegen, aber den lebendigen Juden das Recht auf ihr Land und auf ihre Stadt und auf ihren heiligen Tempel absprechen.
Die meinen, dass es dem Frieden am meisten dient, wenn Juden nicht dort leben dürfen, wo sie wollen und wo sie schon vor Jahrtausenden gelebt haben.
Die den einzigen Staat im Nahen Osten, wo Juden, Christen und Muslime friedlich und mit allen demokratischen Rechten leben können, einen Apartheidstaat nennen.
Oder die faule Verträge und gute Geschäfte mit denen machen, die sich die Vernichtung Israels auf die Fahnen geschrieben haben.
*
Jesus weint.
Er hält inne und weint.
Er weint um sein Volk.
Um seine Juden.
Um seine Christen.
Um seine Menschen.
Weil sie so unfähig sind zum Frieden.
Jesus weint wegen der Zukunft,
die bis heute reicht und noch viel weiter.
Und die keinen Frieden verspricht.
Und dann geht er weiter.
Und ER tut, was zum Frieden dient.
Als er sich verhaften und schlagen und ans Kreuz hängen lässt.
Als er betet: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Jesus weint um uns.
Und er hofft und betet für uns, dass wir erkennen und tun was zum Frieden dient.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in ihm, Christus Jesus, unserem Herrn.
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