Liebe Schwestern und Brüder,
vor vierzig Tagen ist Gott zur Welt gekommen. Wir haben es groß gefeiert: mit voller Kirche, mit frohem Gesang, mit Lichterglanz und Weihnachtsgans, mit Geschenken und Grußkarten, mit Stress und Besinnlichkeit. Und dann sind wir zur Tagesordnung übergegangen. „Was, der Stern hängt immer noch im Haus der Begegnung?“ – Ja, denn Gott ist immer noch in der Welt. Das Kind ist noch nicht ganz sechs Wochen alt. Es braucht uns noch. Und wir brauchen es.
Vor vierzig Tagen ist Gott zur Welt gekommen. Und nun geht Gottes Mutter mit ihrem Verlobten ins Gotteshaus; nach Hause gewissermaßen. Und dort, im Tempel trifft junges Leben auf altes Leben. Der Greis nimmt den Säugling auf den Arm. Jetzt hat er seinen Frieden gefunden. Jetzt kann er getrost sterben: Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesaget hast! (Evangelium Lukas 2, 22-35)
Ja, es ist berührend, wenn ein sehr alter Mensch und ein sehr junger Mensch einander begegnen. Es ist berührend, wenn etwa der Urgroßvater den Enkel auf den Armen hält. Wir ahnen und spüren in solchen Momenten etwas von der Folge der Generationen. Wir ahnen vielleicht sogar, dass auch dieses Kind einmal ein Greis sein könnte, der dann wieder sein Urenkel auf dem Arm hält. Und wir werden daran erinnert, dass wir selber ein Teil dieser Geschichte sind. Erinnern uns, wie wir selber Kinder waren und noch unsere uralten Urgroßeltern kennenlernen durften; und nun sind viele Jahre vergangen und wir haben selber schon Kinder, Enkel und vielleicht sogar Urenkel auf dem Arm gehalten…
Kind und Greis, Jung und Alt – dieses Gegenüber gibt es nur, weil es den Tod gibt. Alt – das ist ja nur ein anderer Ausdruck für: dem Tode nahe, dem Ende nahe. Und Jung: dem Tode noch fern.
Vielleicht haben wir deshalb auch den Ausdruck „Alt“ immer mehr zurückgedrängt. Früher gab es das Altenheim, heute die Seniorenresidenz. Es ändert aber nichts daran, dass dort Menschen leben, die ihrem Lebensende entgegen gehen, die höchstwahrscheinlich die letzte Station ihres Lebensweges erreicht haben.
Man könnte auch darüber nachdenken, ob wir, wenn wir das Wort „alt“ nicht mehr gebrauchen, auch die Ehrfurcht vor dem Alter verlieren. Das Wort „Greis“, das ich gebraucht habe, ist im Grunde genommen schon abgeschafft. Erst ist es nur noch abwertend gebraucht worden, dann gar nicht mehr. Früher war es mal ein Ehrentitel, auch wenn die Anekdote wohl nicht stimmt, nach der der Philosoph Immanuel Kant anlässlich seines 50. Geburtstags als „Ehrwürdiger Greis!“ angesprochen worden sein soll.
Wir hören es nicht gerne, dass wir alt sind, weil wir es nicht gerne hören, dass wir dem Tode schon lange näher sind als der Geburt. Aber so ist es: der nahende Tod lässt uns alt aussehen.
Aber da ist dieses Kind gekommen und hat dem Alten ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert. Da war Glück und Dankbarkeit, Trost und Frieden: Jetzt kann ich sterben; alles ist gut.
Ich frage mich, dieses Bild vor Augen: Ist es nicht das, worum es immer und eigentlich geht: dass wir in Frieden und getrost sterben können? Der Heidelberger Katechismus beginnt mit dieser Frage, weil es die alles entscheidende Frage ist: Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?
Für den alten Simeon war das sein Trost im Leben und im Sterben: den Heiland Jesus gesehen und im Arm gehalten zu haben. Mehr brauchte er nicht.
Das Predigtwort für diesen Tag aus dem Brief an die Hebräer im 2. Kapitel spricht genau von diesem Heiland Jesus Christus, der uns getrost und in Frieden sterben lässt, weil er uns von der teuflischen Todesmacht und Todesangst erlöst und befreit.
Weil nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat auch Christus es gleichermaßen angenommen, damit er durch seinen Tod die Macht nähme dem, der Gewalt über den Tod hatte, nämlich dem Teufel, und die erlöste, die durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mussten. Denn er nimmt sich nicht der Engel an, sondern der Kinder Abrahams nimmt er sich an. Daher musste er in allem seinen Brüdern gleich werden, damit er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volkes. Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden. (Hebräer 2, 14-18)
Dieses Bibelwort spricht in einer einzigartigen Weise davon, wie Jesus Christus den Tod besiegt. Nicht so, dass wir nicht mehr sterben müssen; aber so, dass wir anders sterben können: friedlich, getrost, ohne Angst. Bevor Jesus kam – so heißt es hier – hatte der Teufel die Macht über den Tod; die zeigt sich in der höllischen Todesangst. Der Tod unter der Herrschaft des Teufels macht alles zunichte: Er frisst unser Lebenswerk auf und übergibt es dem Vergessen. Er nagelt uns auf unsere verpassten Lebenschancen fest, auf das: „Ach hätte ich doch nur…“ und „Wenn ich doch noch mal von vorne anfangen könnte…“ – Hätte, hätte – du kannst nicht! Zu spät! Verpasst! – Das ist die Stimme des Teufels.
Ein Freund hat gerade diese Woche erst ein Gedicht in Facebook geteilt, das genau davon spricht; ich lese mal nur die letzte Strophe:
Wo andre geliebt haben und gelacht,
war mir nur das Leben verworrn.
Heut weiß ich es endlich,
wüßt wie man es macht -
wie gerne begänn ich von vorn!
Nun hab ich verloren, ich hab mich verzählt
und spüre wie alles vergeht.
Was hab ich verstanden von dieser Welt?
Nur wenig und alles zu spät!
Das ist mein Refrain, ich weiß wie er geht:
Immer zu wenig, immer zu wenig, immer zu wenig -
und alles zu spät. (Christoph Hein)
war mir nur das Leben verworrn.
Heut weiß ich es endlich,
wüßt wie man es macht -
wie gerne begänn ich von vorn!
Nun hab ich verloren, ich hab mich verzählt
und spüre wie alles vergeht.
Was hab ich verstanden von dieser Welt?
Nur wenig und alles zu spät!
Das ist mein Refrain, ich weiß wie er geht:
Immer zu wenig, immer zu wenig, immer zu wenig -
und alles zu spät. (Christoph Hein)
Wahrscheinlich hat der Gute nicht weniger geliebt und gelacht als andere, nicht weniger verstanden vom Leben, keine größeren Fehler gemacht – und trotzdem ist da das Gefühl – und uns beschleicht es auch manchmal –: Wir haben so viele Möglichkeiten verpasst: Immer zu wenig – und alles zu spät.
Von Jesus Christus heißt es in unserem Abschnitt, er sei gekommen, um die Sünden des Volkes zu sühnen. – Wir tun uns heute sehr schwer damit: mit Sühne und Sünden. – Ich habe darüber nachgedacht, was Sühne bedeutet: eigentlich ja Wiedergutmachung. Also könnte man sagen: Was wir schlecht gemacht haben, macht Jesus wieder gut.
Wenn das stimmt ...: Was wir schlecht gemacht haben, was wir verpasst haben, was bei uns immer zu wenig war, das macht ER wieder gut! Wenn das stimmt, dann brauchen wir den Tod nicht mehr zu fürchten, dann brauchen wir um verpasste Gelegenheiten und vertane Chancen nicht mehr zu trauern!
Jesus Christus entreißt dem Teufel die Deutungshoheit über den Tod. Nein, der Tod ist nicht das Ende. Nein, der Tod definiert nicht, wer du gewesen sein wirst. Nein, der Tod schließt nicht die Akte deines Lebens. Jesus Christus sagt dir, wer du wirklich bist. Im Leben und im Sterben.
Er sagt dir: In deinem Leben ist etwas Wirklichkeit geworden von Gottes unendlichen Möglichkeiten. Du hast nicht alles erreicht, was du wolltest; du hast nicht alles verwirklicht, was in dir steckte; du hast Fehler gemacht und bist schuldig geworden; du hast aber auch Segen erfahren und Segen gewirkt. Und mit all dem bist du einzigartig und unersetzbar in Gottes großem Weltenplan. Das ist die Wahrheit über dein Leben. Nicht der Tod und schon gar nicht der Teufel bestimmt, wer du warst und wer du bist und wer du sein wirst, sondern Gott. – Dazu ist Jesus Christus in die Welt gekommen, damit wir das begreifen.
Und weil wir es nicht nur und nicht so gut mit dem Kopf begreifen, darum darf Simeon es mit seinen Augen sehen und mit seinen Händen begreifen: Gott kommt zu uns als Kind.
Wie wunderbar: Gott kommt zu uns als Kind! Da, wo wir alt aussehen, da, wo sich unser Leben verbraucht hat, da kommt er neu und ewig jung in unser Leben.
Ist das nicht ein großartiges Bild: Simeon, so alt er ist, ist Gottes Kind, und er hält seinen Gott im Arm als Kind!
Wo das Gott als Kind zu uns kommt, da werden auch wir wieder jung. Es eröffnen sich neue Möglichkeiten, weil sich neues Leben auftut – auch und gerade dann noch, wenn sich die Tür hinter diesem Leben schließt.
Martin Luther hat den Lobgesang des Simeon in einem wunderbaren Lied nachgedichtet:
Mit Fried und Freud ich fahr dahin in Gotts Wille; getrost ist mir mein Herz und Sinn, sanft und stille, wie Gott mir verheißen hat: der Tod ist mir Schlaf worden.
Jesus Christus verwandelt den Tod: Statt der unerbittlichen Endgültigkeit ist da nur noch Schlaf, auf den ein neuer Morgen folgt.
Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? – Die Antwort es Heidelberger Katechismus heißt: Dass ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin, der mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkömmlich bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst hat und also bewahrt, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja auch mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Darum er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens versichert und ihm forthin zu leben von Herzen willig und bereit macht.
So ist es: Mehr braucht man nicht zum Leben und zum Sterben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen