Sonntag, 15. Mai 2011

Predigt vom 15. Mai 2011 (Jubilate)

in Playa de Las Américas und vom 14. Mai 2011 in San Sebastián.
Unter Verwendung einer Predigt von 2005.



Jesus sprach zu seinen Jüngern: "Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen." Da sprachen einige seiner Jünger untereinander: "Was bedeutet das, was er zu uns sagt: 'Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen'; und: 'Ich gehe zum Vater'?" Da sprachen sie: "Was bedeutet das, was er sagt: 'Noch eine kleine Weile'? Wir wissen nicht, was er redet." Da merkte Jesus, dass sie ihn fragen wollten, und sprach zu ihnen: "Danach fragt ihr euch untereinander, dass ich gesagt habe: 'Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen'? Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden. Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. Und auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. An dem Tag werdet ihr mich nichts fragen.
Johannes 16, 16-23a

Liebe Gemeinde,

„Jubilate – freut euch, jubelt!“ – so fordert uns der Name dieses Sonntags in der österlichen Freudenzeit auf. „Mit Freuden zart zu dieser Fahrt lasst uns zugleich fröhlich singen“ – so haben wir schon gesungen. „Wir wollen alle fröhlich sein in dieser österlichen Zeit!“ – das haben wir letzte Woche gesungen. Oder: „Auf, auf, mein Herz mit Freuden …!“

Und was ist, wenn wir uns gar nicht freuen können? – Es ist eine eigenartige Sache mit solchen Aufforderungen, die sich auf unser Gefühlsleben richten. Da geht es jemandem schlecht, er sorgt sich, er trauert oder, schlimmer noch, er ist depressiv – also traurig, ohne dass er selber einen Grund weiß –, und du sagst ihm: „Freu dich doch!“ „Don't worry, be happy!“ – Vielleicht sagst du ihm sogar, warum er sich freuen soll: Weil die Sonne scheint, weil das Meer so blau ist, weil es anderen doch viel schlechter geht und tausend Gründe mehr. Aber es funktioniert nicht. Er kann sich nicht freuen. Gefühle kann man nicht befehlen. Du schaffst es höchstens, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, weil er sich nicht freuen kann.

Wir spüren das ja auch, dass es Situationen gibt, wo man so was wirklich nicht sagen kann. Das geht mir auch so. Wenn jemand gestorben ist, dann kann ich nicht hergehen und den Angehörigen sagen: „Freut euch doch!“ Obwohl es ja dafür sogar gute Gründe gäbe: Auferstehung, Ostern, das ewige Leben. Trotzdem sind sie traurig. Und das sollen sie auch sein dürfen.

Die Worte Jesu, die wir gehört haben, sind da jedenfalls verständnisvoller, seelsorgerlicher: Ihr habt nun Traurigkeit, sagt er seinen Jüngern. Es ist der Abend des Abschieds, am Gründonnerstag. Die bevorstehende Verhaftung Jesu, sein möglicher Tod liegen in der Luft. Jesus selber deutet es an, ohne es ganz offen auszusprechen.

Ihr habt nun Traurigkeit. Ja, das ist so, und das ist das angemessene Gefühl in dieser Situation der Ungewissheit und des Abschieds. Aber es ist nicht das letzte Wort. Nach der Traurigkeit steht ein Komma und ein Aber: aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. Keine Aufforderung: „Freut euch doch! Alles nicht so schlimm. Ostern steht vor der Tür. Ich werde auferstehen.“ Kein Appell zur Freude, sondern ein Wort des Trostes. „Ihr werdet euch wieder freuen, auch wenn ihr es jetzt nicht könnt – und auch gar nicht sollt.“

Diese Stelle ist eine von vielen, bei denen ich immer Musik im Ohr habe. Hier ist es das Deutsche Requiem von Johannes Brahms. Da wird in einem Sopran-Solo erst die Traurigkeit ausgemalt, aber dann kommt ein großes Aber, und dann erklingt in einem weiten Bogen die Freude: Ich will euch wiedersehen und euer Herz soll sich freuen. Und der Chor unterlegt das mit dem alttestamentlichen Wort: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. – Das ist Musik, die in der Todestraurigkeit trösten kann.

Und in dieser Weise kann ich auch bei Bestattungen und Trauergesprächen reden: Jetzt sind Trauer und Schmerz groß, aber es gibt Trost, und am Ende wird Freude sein.

Es ist eine Frage der Zeit. Noch eine kleine Weile, sagt Jesus. Natürlich, es ist die Zeit von Karfreitag bis Ostern. Wirklich nur eine kleine Weile, keine drei Tage. Aber Schmerz und Trauer können drei Tage schier zur Ewigkeit dehnen. Die Länge des Leides sagt nichts über seine Tiefe. Und doch ist es tröstlich zu wissen: Es ist nicht endlos. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass das Leiden gewendet wird. Das verändert alles.

Schon beim Prediger Salomo heißt es: Weinen hat seine Zeit, Lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit (Prediger 3,4). – Leiden ist nicht endlos, sondern es wird ein Ende haben.
Und was wir als Christen wissen und sagen können, ist noch mehr. Wir können sagen: „Am Ende wird Freude sein.“ Nicht nur: „Der Schmerz wird schon nachlassen“, sondern: „Am Ende wird Freude sein.“ Das gilt für Trauernde und für Traurige, für Deprimierte und Depressive.

Als Johannes die Worte Jesu vom Gründonnerstag aufschreibt, ist Ostern schon geschehen. Vielleicht schon zu lange geschehen. Die Christen erleben eine Zeit der Traurigkeit, des Leidens, der Anfechtung. Das Evangelium stößt auf Widerstände. Nach der Euphorie des Aufbruchs kommen die Mühen der Ebene. Und von Jesus selbst ist nichts zu sehen. So wie er es gesagt hat: Noch eine kleine Zeit, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen. Die Christen haben sehnsüchtig gewartet, ihn wiederzusehen. Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen. – Naherwartung nennen wir das: Die Erwartung Jesus werde schon sehr, sehr bald wiederkommen, die Seinen zu sich nehmen, die Welt sichtbar erlösen und verwandeln. Das hören sie mit, wenn sie die Worte Jesu hören: Noch eine kleine Weile. Es ist nur eine Frage der Zeit.

Ihr Problem, vielleicht mehr noch unser Problem – oder doch nicht mehr unser Problem? –: Es zieht sich hin. Aus der kleinen Weile sind mittlerweile bald 2000 Jahre geworden. Immer wieder gab es Enthusiasten, die es nicht mehr erwarten konnten, die die Wiederkunft Jesu für die allernächste Zeit erwarteten, die sogar Termine berechneten, die dann doch nicht eintrafen. „Es kann doch nun wirklich nur noch eine ganz kleine Weile sein“, sagen sie. – Denen sagt der Jesus des JhEvs: „Es dauert schon noch eine kleine Weile.“

Aber die Mehrheit, das sind ja heute die anderen, die die Hoffnung aufgegeben haben. „Es wird sich nichts mehr ändern“, sagen sie. „Dass Jesus wiederkommt und dem Leiden ein Ende macht, ist nicht zu erwarten.“ – Und denen sagt der Jesus des JhEvs: „Es dauert doch nur noch eine kleine Weile.“

Alles eine Frage der Zeit, und Zeit ist relativ.

Ja, alles eine Frage der Zeit – aber eben der Zeit und nicht der Ewigkeit! Das ist der springende Punkt: Leid und Traurigkeit sind nicht endlos, weil sie zeitlich sind. – Und das macht den unendlichen Unterschied zur Freude aus. Die Freude ist ewig, weil es die Freude der Ewigkeit ist. Eure Freude soll niemand von euch nehmen. Sie hat kein Ende.

Schon beim Prediger Salomo, der doch als der größte Pessimist der Bibel gilt, ist das die Reihenfolge: Weinen – Lachen; Klagen – Tanzen. Nicht umgekehrt. Obwohl der menschliche Lebenslauf es doch umgekehrt nahelegt: Freude am Anfang über den neu geborenen Menschen – Trauer am Ende über den Verstorbenen. Aber die biblische Reihenfolge ist umgekehrt: Erst das Weinen, dann das Lachen; erst das Klagen, dann das Tanzen. Erst Karfreitag, dann Ostern. Erst der Tod, dann das Leben. Und das Leben ist ewiges Leben, und die Freude ist ewige Freude.

Leid und Traurigkeit werden aufhören – über kurz oder lang – es ist nur eine kleine Weile. Sie gehören zu dieser Weltzeit, aber nicht zu Gottes Ewigkeit.

Ist die Freude dann nur Zukunftsmusik? – Ich sage nein. Denn die Ewigkeit ist nicht nur Zukunftsmusik. Ich komme auf den Prediger Salomo zurück. Er sagt: Gott hat die Ewigkeit ins Herz der Menschen gelegt. Wir tragen Gottes ewige Welt schon in uns, in unserem Herzen. Als Ahnung, als Hoffnung, als Realität. Schon im Alten Testament und selbst beim größten Pessimisten der Bibel ist das so. Viel mehr ist es im Neuen Testament so, bei Jesus, und vor allem im JhEv: Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben (Johannes 3,36). Er hat es. Er bekommt es nicht erst irgendwann, er hat es. Die Ewigkeit ist nicht nur Zukunftsmusik, die Ewigkeit ist jetzt und hier. Und darum ist auch die ewige Freude schon jetzt und hier.

Sie ist auch dort, wo jetzt noch – für eine kleine Weile – Traurigkeit ist. Die Traurigkeit kann die Freude überlagern. Aber sie kann sie nicht besiegen.

Traurigkeit ist ein tiefes Gefühl. Wir kennen den Ausdruck „tief-traurig“. Aber sie ist nicht das tiefste Gefühl. Tiefer als die Traurigkeit ist die Freude. – Wir sagen zwar nicht: „Wir sind tief erfreut“, sondern eher: „Wir sind hoch erfreut.“ Freude ist für uns eben oft ein Hochgefühl. Vielleicht, weil sie vom Himmel hoch zu uns kommt und uns in den Himmel hoch erhebt. Aber sie ist eigentlich ein tiefes Gefühl. Es gibt tiefe, tiefe Freude. Und wir merken, dass damit etwas anderes gemeint ist, als eine oberflächliche Fröhlichkeit. Die gibt es auch, und die kann auch für eine Zeit die Traurigkeit überlagern. Aber sie kann sie nicht besiegen. Die ewige Freude, von der Jesus spricht, ist tiefe Freude, die uns in unserer Traurigkeit tragen kann. Sie kann unter Tränen da sein. Sie kann unter Schmerzen da sein. Und wir spüren sie manchmal als Trost.

Jesus beschreibt sie in dem unübertrefflichen Bild von der Geburt: Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. – Fast jede Frau kann das verstehen, und auch immer mehr Männer, die mit ihren Frauen die Freude auf die Geburt und die Angst um das Kind und die Mühen und Schmerzen der Geburt geteilt haben. – Die Freude der Geburt ist unendlich viel tiefer als alle Angst und alle Schmerzen.

Und genau so ist die Freude des ewigen Lebens unendlich viel tiefer als alle Traurigkeit und alles Leiden an unserer Welt und an uns selbst.

„Freut euch, jubelt!“ – ein Befehl kann das nicht sein. Gefühle lassen sich nicht befehlen. Aber es kann eine Erinnerung sein an die Freude, die doch auf dem Grunde unseres Herzens schon in uns ist. An die Freude, die über kurz oder lang – eine kleine Weile noch – durchbrechen wird und alle Trauer wegwischen wird.

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