Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten sie. Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, so dass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen, und von allen fielen die Fesseln ab.
Als aber der Aufseher aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offen stehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. Paulus aber rief laut: "Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier!" Da forderte der Aufseher ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen.
Und er führte sie heraus und sprach: "Liebe Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde?" Sie sprachen: "Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!" Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Haus waren. Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen und führte sie in sein Haus und deckte ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war.
Apostelgeschichte 16, 23-34
Liebe
Schwestern und Brüder,
wenn
ich singe, geht’s mir gut. Meistens. Wenn ich gut aus dem Bett
gekommen bin, singe ich unter der Dusche. Wenn die Sonne scheint und
die Arbeit gelingt, wenn ich draußen unterwegs bin und mich gut
fühle, wenn es zwischen meiner Frau und mir stimmt, wenn mich jemand
gelobt hat.
Wenn
mir's nicht so gut geht, dann ist da meistens auch keine Melodie in
meinem Sinn, die da irgendwie über meine Lippen wollte. Zum
freiwilligen Singen muss man irgendwie schon in der richtigen
Stimmung sein.
Ich
denke mal, den meisten Menschen geht es so ähnlich.
Das
ist auch die biblische Normaltheologie: Leidet jemand unter euch,
der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. So heißt es
im Jakobusbrief (Jakobus 5, 13). Not lehrt beten, Glück lehrt singen.
Dagegen
ist es mehr als normal, auffällig und eindrücklich, wenn auch in
der Not, im Unglück gesungen wird. Gewiss, es gibt Klagelieder und
Trauergesänge; aber es gibt auch Lobgesänge aus tiefer Not.
Merkwürdigerweise
sind mir zwei Beerdigungsfeiern aus meiner Pfarrerzeit in Deutschland
besonders im Gedächtnis haften geblieben – zwei Beerdigungsfeiern
nämlich, in denen wir auf ausdrücklichen Wunsch der Angehörigen
Loblieder gesungen haben: Dir, dir o Höchster will ich singen und
Großer Gott, wir loben dich (Dass es genau diese Lieder
waren, wusste ich nicht mehr, das gebe ich zu, ich habe gestern
nachgesehen. Aber ich wusste eben noch genau, bei welchen
Beerdigungen ich nachsehen musste.) Manchmal
möchten Angehörige, dass zu Trauerfeiern gar nicht gesungen wird;
weil ihnen ja die Töne im Hals stecken bleiben in ihrer
Trauersituation. Hier war es anders. Nicht, dass da keine Trauer war.
Aber es war da noch etwas Größeres: Dankbarkeit, Gottvertrauen,
Gewissheit der Erlösung und darin dann auch Trost.
In
unserem Abschnitt aus der Apostelgeschichte ist es ein bisschen
ähnlich. Paulus und Silas, der Apostel und sein Mitarbeiter, sind
gerade erst auf europäischem Boden angekommen, haben eine Frau
bekehrt und eine andere von ihrer dämonischen Besessenheit befreit,
und schon hat man sie verhaftet, ausgepeitscht und ins Gefängnis
geworfen. – Sackgasse, Ende, Aus. Eigentlich zum Verzweifeln.
An
Gott gedacht und gebetet hätte ich schon in dieser Situation, aber
eben geklagt und um Hilfe gefleht. Paulus und Silas aber machen was
anderes: Sie singen Lobgesänge, dort in der hintersten Zelle: Dir,
dir o Höchster will ich singen oder Großer Gott, wir loben
dich oder Lob Gott getrost mit Singen. Natürlich gab's
diese Lieder noch nicht. Aber andere Lieder in genau dem gleichen
Sinne. Lobpreiszeit um Mitternacht im Gefängnis von Philippi – das
hatte es noch nie gegeben. Konzert im Knast. Und die Mitgefangenen
hören zu. – Lukas, der geschickte Erzähler der Apostelgeschichte
sagt uns mit keinem Wort, was das mit ihnen macht. Wir dürfen es uns
mit unserer Fantasie vorstellen …
Wer
von euch letzte Woche hier war, erinnert sich vielleicht, dass ich
über das sichtbare Äußere und das unsichtbare Innere gesprochen
habe. Wir Menschen sind so gestrickt, dass wir immer das, was wir
gerade sehen und erleben für das Wahre halten. So könnten Paulus
und Silas auch allein das Gefängnis, die Dunkelheit, die feuchte
Zelle, die Folterschmerzen für die ganze Wahrheit halten und daran
verzweifeln. In ihnen aber ist eine andere, eine tiefere Wahrheit:
die Gewissheit des Glaubens: Wir sind ja um Gottes Willen hier, im
Auftrag Jesu. Uns kann innerlich nichts geschehen, was auch äußerlich
mit uns geschieht. Und auch dem Evangelium, der guten Nachricht von
Jesus kann nichts geschehen. Sie wird von Jesus dem Auferstandenen
selber in die Welt getragen, egal wie es uns gerade äußerlich
ergehen mag. – Eine solche gelassene Haltung mag uns erstaunlich
und bewunderungswürdig erscheinen – oder auch ein bisschen verrückt;
sie hat aber viel für sich. Gottes Wort ist frei; es lässt sich
nicht einsperren. Gottes Macht endet nicht an verschlossenen
Gefängnistüren.
Das
alles, vielleicht aber auch die gute Gewohnheit, täglich ein
Danklied zur Nacht zu singen, lässt Paulus und Silas Gott loben auch
in einer Situation, die wir eigentlich nicht loben mögen. Aber wir
sollen ja auch nicht die Situation loben, sondern Gott den Herrn, der
darübersteht.
Dass
er darübersteht, dass seine Macht nicht an verschlossenen
Gefängnistüren endet und auch nicht an verschlossenen Herzenstüren,
zeigt der Fortgang der Geschichte.
Nein,
man wird nicht sagen dürfen, dass Gott deshalb das Erdbeben
geschickt hat, weil Paulus und Silas ihm so unbeeindruckt
Loblieder gesungen haben. Aber man wird sagen müssen, dass sie Recht
hatten, Gott zu loben. Denn am Ende macht er immer etwas Gutes und
Lobenswertes draus, aus jeder Situation. Die folgenden Ereignisse
bestätigen das nur.
Das
größte Wunder ist dabei nicht die Gefangenenbefreiung durch ein
Erdbeben. Man könnte dieses Wunder ja sogar als einen Zufall abtun.
Und außerdem: wenn man die Geschichte weiter liest, wären die
beiden sowieso am nächsten Tag freigekommen. Nein, das größte
Wunder, das eigentliche Wunder ist die Verwandlung, die sich im
Herzen des Kerkermeisters vollzieht.
Erst
ist er, wir wissen nicht ob pflichtbewusst oder lustvoll, dabei, als
die Gefangenen gefoltert und in den Hochsicherheitstrakt gesperrt
werden. Dann erschrickt er sich derartig, dass er sich gleich selbst
entleiben möchte. Ich stelle ihn mir als ein armes Würstchen vor,
das seine begrenzte Macht über wehrlose Gefangene auskostet, aber in
Panik ausbricht, als sie auszubrechen drohen. Sein Gefängnis ist
sein Lebensinhalt, an seinem traurigen Job hängt sein Lebensglück.
Er ist der eigentliche Gefangene seines Gefängnisses. Die Gefangenen
kommen irgendwann wieder frei; aber er muss bleiben. Er ist
ein Mensch, der im Gegensatz zu den beiden christlichen Missionaren,
die ihm da eingeliefert worden sind, völlig auf die Äußerlichkeiten
fixiert ist. Scheitert er im Job, dann ist sein ganzes Leben gescheitert.
– Wie arm!
Ja,
das größere Wunder, das eigentliche Wunder ist es, dass sich dieses
Leben von einem Moment auf den anderen umkehrt.
Und es
ist nicht das Erdbeben, das die größte Erschütterung in ihm
auslöst. Am meisten erschüttert ihn, dass die Gefangenen noch da
sind. Das liegt jenseits seines Horizontes. Was geht in denen vor,
dass sie nicht einfach abhauen? – Er entdeckt, dass es Menschen
gibt, denen anderes wichtiger ist als das Äußere – das äußere
Wohlbefinden, die äußere Freiheit. Im Knast sitzen zu bleiben,
obwohl die Türen offenstehen, das ist innere Freiheit!
Der
Kerkermeister ist erschüttert: Liebe
Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde? –
Was für eine Frage! Was für eine Einsicht in diesem Moment: Ich bin
verloren, ich brauche Rettung! Was für eine Umkehr der Verhältnisse:
Der sich eben noch ganz groß vorkam gegenüber den gefesselten
Gefangenen, ist auf einmal ganz klein und spricht sie mit Liebe
Herren, an.
Und das ist nicht einfach das Wort für „Señores, meine Herren!“,
es ist die Anrede, die für ganz hohe Beamte, für den Kaiser und für
die Götter vorbehalten war.
Dieser
Mann ist zutiefst erschüttert. Er spürt, dass sein Leben nicht mehr
stimmt, dass es noch nie gestimmt hat, dass es ein Leben an der
Oberfläche war, ein kleines, ekliges Kerkermeisterleben, gefangen in
den Zwängen seines sicheren Jobs, der auf einmal gar nicht mehr
sicher erscheint. Es muss mehr geben, und dieses Mehr spürt er ganz
deutlich bei diesen Herren,
die nachts im Gefängnis Loblieder singen und bei geöffneten
Zellentüren seelenruhig sitzen bleiben. Es muss mehr geben als die
oberflächlichen Äußerlichkeiten.
Glaube an den Herrn
Jesus, so wirst du und dein Haus gerettet! –
Da ist sie, die gute Nachricht, für die Paulus und Silas unterwegs
sind, auch schon mal ins Gefängnis gehen. Die gute Nachricht für
die, deren Leben an der Oberfläche festklebt, die nach der
Tiefendimension suchen.
Du
kannst, du sollst dich auf den Herrn Jesus – er ist in Wirklichkeit
der Herr, nicht Paulus oder Silas oder irgendwelche andere
Herrschaften – auf den Herrn Jesus einlassen. Ihm vertrauen. Er
gibt deinem Leben Tiefe. Er gibt deinem Leben Freiheit. Er gibt
deinem Leben Gott.
Der
Gefängnischef tut es. – Eine astreine Bekehrungsgeschichte.
Lebensänderung ist möglich. Auch am Höhepunkt – oder am
Tiefpunkt der Karriere.
Dass
da wirklich etwas anders geworden ist, schlagartig, das merken wir an
seinem Verhalten: Er kümmert sich um die, die eben noch seine
Gefangenen waren, versorgt ihre Wunden und lädt sie zum Essen ein.
Und er lässt sich taufen – mit allen, die zu seinem Haushalt
gehören: Frau und Kinder und vielleicht noch ein, zwei Sklaven. –
Ich staune, wie schnell und leicht das damals ging.
Am
Ende heißt es: Er freute sich mit
seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war. –
Am Ende ist Freude. Und Freiheit. – Wie das mit seinen Gefangenen
und mit seinem Gefängnis weitergehen mag, interessiert ihn jetzt
nicht mehr sonderlich. Er ist nicht mehr der Gefangene seines
Gefängnisses. Er hat die Tiefendimension seines Lebens gefunden.
Und
Freude: Ich stelle mir vor, wie er von Paulus und Silas die
Lobpreislieder lernt, die da in der finsteren Gefängnisnacht
erklungen waren. Ihm geht’s gut. Er kann jetzt singen. Und
vielleicht, vielleicht singt er auch noch, wenn es mal wieder
schwierig wird. Denn Gott ist doch da in seinem Leben, und deshalb,
so weiß er, wird Gott am Ende etwas Lobenswertes aus seinem Leben
gemacht haben. Auf jeden Fall! Amen.
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