Lukas 11, 14-23
Liebe Schwestern und Brüder,
wer sich mal mit marxistischer oder hegelscher Dialektik beschäftigt
hat, kennt das so genannte Gesetz vom Umschlagen quantitativer
Veränderungen in qualitative Veränderungen. Was hochtrabend klingt,
meint einen ganz einfachen Sachverhalt, nämlich den sprichwörtlichen
Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Quantitative
Veränderung: Mit jedem Tropfen wird es mehr Wasser im Fass.
Qualitative Veränderung: Das Fass läuft über.
Wir kennen viele Beispiele dafür:
- Auf eine Waage (also eine richtige Waage mit zwei Waagschalen – unsere modernen Küchen- und Personenwaagen sind ja in Wahrheit keine Waagen, sondern Kraftmesser) lege ich so lange Gewichte, bis sich die Waage auf die andere Seite neigt.
- Oder, weil ich neulich im Radio das Thema hatte: Ein Flugzeug rollt auf der Startbahn immer schneller; aber erst bei einer bestimmten Geschwindigkeit hebt es ab: wenn nämlich der Auftrieb, der durch den Luftstrom an den Tragflächen entsteht, stark genug ist, das Flugzeug zu tragen.
- Statt der technischen Beispiele könnte man auch ein biologisches wählen: Das Kind im Mutterleib wächst, die Veränderungen sind spürbar, aber allmählich. Bis es so nicht mehr weitergeht, und die Geburt eine völlig neue Situation für Mutter und Kind entsteht.
So schlagen quantitative Veränderungen in qualitative Veränderungen
um.
Ich glaube, das Prinzip ist klar. Wenn wir in der Schule wären, dann
würde ich jetzt jeden bitten, ein eigenes Beispiel zu finden …
Um quantitative Veränderungen, die in qualitative Veränderungen
umschlagen, geht es, wenn man so will, auch in unserem Predigttext.
Jesus spricht in militärischen Bildern von einem Burgherrn, der sich
auf die Menge, also die Quantität seiner Rüstung und Waffen
verlässt. Sie liefern ihm eine bestimmte Qualität, nämlich den
Schutz vor Feinden.
Wie kann ein Feind nun seine Festung überwinden? Indem er die
Quantität seiner Angriffswaffen erhöht – so weit, dass der
kritische Punkt erreicht ist, an dem der Angriff glückt – und auf
der anderen Seite die Verteidigung fällt. Stehen sich vor dem Kampf
51 % Angriffstärke und 49 % Verteidigungskraft gegenüber, so steht
es nach dem Kampf 100 zu 0. Genau genommen gibt es dann keine
quantitativ messbare Macht mehr, sondern nur den absoluten Sieger und
den absoluten Verlierer. (Wer eine bestimmte Art von Computerspielen
kennt, kann das bestimmt gut nachvollziehen.)
Nun geht es bei Jesus ums Geistliche. Es geht ihm um die
quantitativen Veränderungen, die über Glauben und Unglauben, über
Gut und Böse, über Himmel und Hölle entscheiden. Es geht ihm um
die quantitativen Veränderungen, die am Ende über die Qualität
unseres Lebens entscheiden:
Wie stark sind die Glaubenskräfte in uns? Wie gut sind wir gerüstet
gegen Angriffe des Bösen? Wie viele gute Gedanken, Bibelworte,
Lieder und Gebete stehen uns zu Gebote, wenn Zweifel und Anfechtungen
oder auch andere Heilsrezepte und Lebenswerte auf uns einstürmen?
Kann es nicht sein, dass unser Glaube bei weitem nicht bei 100 %
steht, sondern irgendwo so knapp über 50? Kann es sein, dass es bei
dem oder jenem nur noch eine Kleinigkeit ist, die ihn davor bewahrt,
seinen Glauben zu verlieren?
Als vor zwei Jahren die Missbrauchsskandale aus der katholischen
Kirche hochkamen, da war das für viele, deren Glaube sowieso schon
auf der Kippe stand, die kritische Masse, durch die sich die Waage
nach der anderen Seite neigte, so dass sie sich von der Kirche und
wahrscheinlich auch vom Glauben verabschiedet haben; das war das
Tröpfchen, das das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Denn wer fest
im Glauben und eng mit der Kirche verbunden lebte, den hat das ja
eher nicht gleich an allem irre werden lassen; aber bei dem, dessen
Glaube sowieso nur noch an einem seidenen Faden hing, für den war
das zu viel, da ist der Faden – vielleicht der Geduldsfaden –
gerissen.
Gerade der, der mit seinem Glauben näher an der 50- als an der
100-Prozent-Marke ist, der braucht quantitativen Input, Stärkung des
Glaubens.
In
der kirchlichen Sprache reden wir manchmal von Zurüstung
für den Glauben. Im Osten Deutschlands gebrauchen wir für
kirchliche Freizeiten den Ausdruck Rüstzeit.
Das
ist im Grunde genommen dieses militärische Bild, das wir aus der
Bibel genommen haben: Unser Glaube muss gerüstet, bewaffnet sein
gegen die Angriffe, die ihn infrage stellen, die darauf abzielen,
unsere Mauern zu schleifen und uns unsere Reichtümer – Glaube,
Hoffnung und Liebe – zu rauben. Darum rüsten wir unseren Glauben.
Wir rüsten ihn mit Worten des Glaubens, mit Liedern der Hoffnung,
mit Taten der Liebe, mit guten Gedanken, mit starker Gemeinschaft.
Der Friede muss bewaffnet sein, hieß es früher mal. Der Glaube muss
gerüstet sein, könnten wir sagen.
Man
kann das auch von der anderen Seite betrachten. Es gibt ja nicht nur
unseren gefährdeten Glauben, der vielleicht gerade so bei 51 %
steht. Es gibt ja auch umgekehrt diejenigen, wo der Glaube nur bei 49
% steht, wo es eben gerade noch nicht – oder nicht mehr –
reicht. Diejenigen, die vielleicht nur noch ein ganz klein wenig
brauchen, damit die Waagschale sich zugunsten des Glaubens neigt.
Diejenigen, deren Abwehr und Rüstung gegen
den
Glauben kurz vor dem Zusammenbrechen ist. Vielleicht brauchen sie
gerade noch das eine
gute Wort von uns, das eine
Zeichen, dass das Leben mit Gott, mit Jesus wirklich ein Gewinn ist,
der Lebensgewinn. Vielleicht müssen sie nur noch ein- oder zweimal
von uns eingeladen werden, und dann … dann ist es passiert.
Ich kenne Leute, die sind kritisch, wenn wir als Kirche Dinge tun,
die nicht unmittelbar zum Glauben führen. Da ging es mal um
Konzerte. Durch die kommt doch keiner zum Glauben, hat jemand gesagt.
Dieselben Leute sind für evangelistische Veranstaltungen, wo
ausdrücklich zum Glauben gerufen wird und manchmal sogar jemand
erkennbar einen bewussten Schritt zum Glauben tut. Aber wie viele
sind das? – Und wie viele Evangelisationen oder eben auch
Kirchenkonzerte braucht es, bis jemand Christ ist?
Und so ist das auch mit unseren geselligen Nachmittagen,
Bastelstunden und Gemeindefesten. Das sind nicht alles
Missionsstunden, aber es sind kleine Impulse, die sagen: Wir sind
hier, als Christen, als einladende Gemeinde, als Menschen, die ihren
Lebenssinn gefunden haben. Vielleicht ist das ja doch auch was für
dich?
Das sind eben die Quantitäten, die vielen kleinen Schritte, die
vielen guten Impulse, die in die eine oder die andere Richtung
wirken. Und dann kann es passieren, dass eben das eine Mal dann doch
der Groschen fällt, die Waage sich neigt, die Maschine abhebt, der
neue Mensch, der Christ das Licht der Welt erblickt.
Es sind oft die kleinen Veränderungen, die unscheinbaren Impulse,
die in große Veränderungen umschlagen können.
Bei
Jesus geht’s um die große Entscheidung: Dafür oder Dagegen, Gott
oder Teufel, Himmel oder Hölle. Ein Dazwischen gibt es nicht.
Vielleicht fühlst du dich ja durchaus noch im Dazwischen – hin-
und hergerissen zwischen Glauben und Unglauben, zwischen Vertrauen
und Zweifel, zwischen Dafür und Dagegen. Aber vielleicht fehlt ja
auch nur noch das eine Prozent, das eine Tröpfchen Glaube, der
winzige Impuls … Ja, diesen winzigen Impuls möchten wir dir gerne
geben. Vielleicht ja mit diesem Gottesdienst.
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