Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind! Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.
Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten – und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! – und das man von alters her nicht vernommen hat. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.
Jesaja 63, 15 - 64, 3
Liebe Schwestern
und Brüder,
Advent bedeutet
Warten. Und Warten heißt: Er ist noch nicht da; der, auf den wir
warten.
Vielleicht gibt es
Anzeichen, dass er bald kommen wird. So wie in dem Evangelium (Lukas 21, 25-33), das
wir gehört haben: erschreckende Zeichen am Himmel, Angst und
Schrecken auf der Erde. – Aber noch ist er nicht da; der, auf den
wir warten.
Noch schlimmer
aber ist es, wenn die Zeichen ausbleiben, wenn gar nichts geschieht.
Wir warten, aber er ist einfach nur ganz weit weg.
Die einen sagen: "Seht ihr, es geht auch ohne ihn." Die anderen sagen: "Seht ihr, ohne
ihn geht alles den Bach runter." Und alle haben sich schon darauf
eingestellt, dass er nicht mehr kommt.
Als ob es Gott
nicht gäbe, so sollen wir leben, so sollen wir sogar glauben, hat
ein nicht ganz unbedeutender Theologe gesagt. "Gott gibt uns zu
wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne
Gott fertig werden." (Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung)
Wir glauben an
einen Gott, mit dessen Erscheinen, mit dessen Eingreifen, mit dessen
Advent wir schon gar nicht mehr rechnen. Wir müssen ohne ihn fertig
werden.
Müssen wir das? –
Unser Predigttext ist ein Aufschrei, ein Protest gegen Gott, der sich
fern hält, der uns warten lässt, der uns unter einem leeren Himmel
leben lässt, als ob es ihn nicht gäbe:
Schau herab vom
Himmel! Bei dir da oben ist es heilig und herrlich. Aber sieh dir an,
wie es bei uns auf der Erde aussieht, und in unseren Herzen!
Schöne Formeln
sind das von Gottes Barmherzigkeit! Hartherzig bist du! Du hast dich
gegen uns gestellt!
So betet ein Mensch, so betet ein Volk an gegen den verschlossenen
Himmel, gegen den fernen Gott.
Müssen wir ohne Gott fertig werden? Fertig werden mit harten
Schlägen, die wir wahlweise einem namenlosen Schicksal oder aber
diesem Gott anlasten? Eltern, die ihre Kinder verloren haben, sind an
Gott verzweifelt. Frauen, die ihre Männer im Krieg gelassen haben.
Männer, die Granaten und Gewehrläufen ins Auge gesehen haben, an
deren Seite ihre Kameraden verbluteten. Vertriebene, Vergewaltigte,
Verhungerte, Gefolterte. Und die, die damals den Gaskammern entronnen
sind. Wie viele von ihnen haben Gott abgeschrieben? – Es gibt ihn
nicht. Und wenn es ihn gibt, um so schlimmer! Dann besser ohne ihn
fertig werden.
Und wie viele haben doch nicht aufgehört zu schreien, zu
protestieren, an die verschlossenen Himmelstüren zu trommeln?
Sie schreien und trommeln, weil sie Gott noch kennengelernt haben –
anders: Als Vater, als Erlöser, als der, der wohltut denen, die auf
ihn warten.
Sie wollen nicht ohne ihn fertig werden. Sie akzeptieren nicht, dass
das Leben sinnlos ist. Sie finden sich nicht ab mit dem Nihilismus.
Und nicht mit der Nachricht Gottes: Ihr müsst jetzt ohne mich
zurechtkommen.
Es
ist als ob sie mit Plakaten und Spruchbändern vor Gott
demonstrieren. Mach auf,
komm raus aus deinem verschlossenen Himmel! Zeig dich! Zeig es uns,
dass du noch der Allmächtige bist! Zeig es ihnen, die dich
abgeschrieben haben!
Wir
kennen alle die gemäßigt-christlichen Antworten: Gib
dich zufrieden und sei stille. Was Gott tut, das ist wohlgetan. Sie
stehen im Gesangbuch und auch so ähnlich in der Bibel. Aber da steht eben auch der
Schrei, die Klage, der Protest, der sich mit diesen Antworten nicht
zufrieden geben mag.
Wir kennen auch alle die Antworten, die den lieben Gott aus der
Schusslinie nehmen wollen: Das meiste Elend, unter dem wir Menschen
leiden, bereiten wir uns selber. Krieg und Gewalt, ja auch Hunger und
Mangel kommen doch von uns Menschen, von unserer Unfähigkeit, eine
friedliche und gerechte Welt zu schaffen. – Da ist es doch nicht
fair, Gott für verantwortlich zu machen.
Ja, aber. – Ich erlaube mir hier ein ganz großes Aber: Aber diese
Botschaft hilft niemandem, der gerade davon betroffen ist. Dass wir
Menschen unfähig zum Frieden sind, das hilft dem nicht als
Erklärung, der irgendwo auf dieser Welt von einer Bombe zerfetzt
wird, und schon gar nicht seiner Mutter, seiner Frau, seinen Kindern.
Dass wir Menschen unfähig zur Gerechtigkeit sind, das hilft denen
nicht als Erklärung, die ums nackte Überleben kämpfen. Dass wir
Menschen noch nicht alle Möglichkeiten der Medizin ausgeschöpft
haben, das hilft dem nicht als Erklärung, der an der tödlichen
Krankheit zugrundegeht.
Der, der in unserem Predigttext zu Gott ruft, der geht noch einen
Schritt weiter. Er sagt ein noch größeres Aber:
Aber du Gott, bist
am Ende schuld! Wenn wir friedlos, ungerecht und gottlos leben, dann
bist du es letztlich gewesen, der unsere Herzen verstockt hat.
Vielleicht machst du uns verantwortlich. Aber am Ende bist du der
Allmächtige, du hast uns so gemacht.
Und darum rufen wir dich auf: Wende dich uns wieder zu! Kümmere dich
um uns! Reiß den Himmel auf und zeig deine Macht!
Ein starkes
Stück: Gott wird zur Bekehrung, zur Umkehr zur Buße aufgefordert. –
Ein starkes Stück! Wo doch an unserer Buße und Bekehrung alles zu
liegen scheint. – Nein, es liegt alles an Gott!
Darf man so mit Gott sprechen? – Als wir in unserer Bibelstunde
über den Abschnitt gesprochen haben, waren einige erschrocken. Darf
man, dürfen wir so mit Gott reden?
Ich habe gesagt: Ja, wir dürfen.
Ich denke daran, dass Jesus Gott mit einem ungerechten Richter
verglichen hat, dem eine Witwe so lange auf die Nerven geht, bis er
nachgibt und ihr Recht verschafft (Lukas 18, 1-8).
Und
ich denke, dass es allemal besser ist, Gott auf die Pelle zu rücken,
ihn anzuklagen, aufzurütteln, die Spruchbänder auszurollen und ihn
herauszufordern, als ihn zu vergessen, ihn abzuschreiben und uns dem
Nihilismus hinzugeben: Lasst
uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot (Jesaja 22, 13; 1. Korinther 15, 32).
Eigentlich
ist dieses unverschämte Gebet das rechte Adventsgebet: "O
Heiland reiß die Himmel auf! (EG 7) Los,
komm herab, zeig es uns, zeig es allen! Denn wir, wir reißen es
nicht."
Eigentlich
ist sogar der Aufruf zur Bekehrung an Gott berechtigt. Denn unsere
Bekehrung, unsere Umkehr zu Gott bringt unser Leben noch lange nicht
in Ordnung. Entscheidend ist, dass Gott sich zu uns bekehrt, sich zu
uns hinwendet. Dass er die Himmelstüren aufreißt, zu uns kommt und
uns zu sich nimmt.
Wenn Gott sich nicht zu uns hinwendet, dann stehen wir vor
verschlossenen Türen, dann geht gar nichts.
Darum
ist es so richtig, so wichtig, Gott zu drängen und zu bitten. Und
ihn bei dem zu behaften, was er ist und sein will: unser Vater, Unser
Erlöser, das ist von Alters her sein Name.
Ja,
wir dürfen so mit Gott sprechen. Nicht nur, weil da einer vor
zweieinhalb Jahrtausenden mal so mit Gott gesprochen hat. Nein, auch
weil Gott ja schon in der Vergangenheit den Himmel geöffnet hat. Wir
reden eben nicht ins Leere. Sondern wir reden ja zu dem, der schon zu
uns gekommen ist.
Im
Advent wissen wir, dass Weihnachten wird, weil Weihnachten war. Der
Himmel ist ja aufgerissen. Die Hirten in Bethlehem haben es gesehen:
Den Engel des Herrn, die
Klarheit des Herrn, die Menge der himmlischen Heerscharen (Lukas 2). – Den offenen Himmel. – Und dann sind sie in den Stall von Bethlehem
gegangen und haben das Kind gefunden, in
Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.
Eigentlich viel unspektakulärer als die Engel draußen auf dem Feld.
– Aber das, das war das Eigentliche. Ein neugeborenes Kind – da
stand ihnen der Himmel offen!
Gott
hat neu angefangen. Gott hat die Gebete seines Volkes erhört. Der
Heiland ist geboren.
Wenn
wir Zeiten des verschlossenen Himmels erleben, wenn Gott fern ist, wenn es ist, als ob es ihn nicht gäbe, – dann erinnert euch an
Weihnachten! Dann erinnert ihn an Weihnachten: Kein
Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so
wohl tut denen, die auf ihn harren.
Schreibt Gott nicht ab, ruft und kämpft und demonstriert, aber
schreibt Gott nicht ab! Er wird auch euch den Himmel aufreißen. Er
kommt. Darauf warten wir, das ist Advent.
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