Sonntag, 30. Oktober 2011

Predigt zum Reformationsgedenken am Sonntag, dem 30. Oktober 2011


Jesus sprach zu seinen Jüngern: Fürchtet euch nicht vor den Menschen! Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern. Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.
Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid viel besser als viele Sperlinge.
Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.
Matthäus 10,26-33


Liebe Schwestern und Brüder,

als Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an der Schlosstür von Wittenberg aushängte, hatte er nicht das Gefühl, etwas besonders Mutiges zu tun. Ja, er fand die Praxis des Ablasshandels und der kirchlichen Buße seiner Zeit falsch; er wollte auf Grundlage der Bibel und der kirchlichen Tradition darauf hinweisen und darüber wissenschaftlich disputieren – das war der Zweck seiner Thesen. Was daraus innerhalb weniger Monate wurde, eine Bewegung zur Erneuerung der Kirche, an deren Spitze er selber marschieren würde, das ahnte er nicht.

Als Martin Luther drei Jahre später, am 10. Dezember 1520 die päpstliche Bannandrohungsbulle und die Bücher des kirchlichen Rechts öffentlich verbrannte, wusste er, dass er sein Leben riskierte. Er tat es trotzdem um der Wahrheit des Evangeliums willen. Er widersprach der Anmaßung des Papstes, über dem Wort Gottes in der Bibel zu stehen. Er tat das im Bewusstsein, dass er als getaufter Christ, als Lehrer der Heiligen Schrift und als berufener Prediger verpflichtet war, für die Wahrheit Jesu Christi und gegen die Verfälschung seiner Botschaft zu kämpfen. Ihm stand der Tod auf dem Scheiterhaufen vor Augen; aber sein Glaube, sein Gottvertrauen war stärker als seine Angst.

Als Martin Luther vier Monate später, am 18. April 1521 auf dem Reichstag zu Worms vor dem Kaiser stand und bekannte, dass er nichts zu widerrufen habe, weil sein Gewissen im Wort Gottes gefangen sei, da wusste er nicht mal, ob er den Saal auf freiem Fuße wieder verlassen würde. Aber ob er das legendäre „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ wörtlich gesagt hat oder nicht, das war seine Haltung, seine Gewissheit: Gegen Gottes Wort und gegen sein Gewissen handeln, das war ihm nicht möglich. Das hätte ihn mehr als Leib und Leben gekostet, es hätte ihn das Seelenheil kosten können.

Martin Luther kannte es gut, das Wort aus unserem Predigttext: Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.

Im Gedenken an Luthers Standhaftigkeit und Bekennermut ist dieses Wort zum Predigttext für den Reformationstag gemacht worden.

Luther hat Großes und Entscheidendes getan, damit die evangelische Wahrheit, die Wahrheit des Evangeliums wieder ans Licht kam und am Licht blieb. Aber Luther ist letztlich doch nur einer unter sehr vielen Bekennern des Glaubens.

Vor wenigen Wochen ging die Geschichte von Yousef Nadarkhani durch die Medien. Er wurde im Iran zum Tode verurteilt, weil er, obwohl als Moslem geboren, schon vor Jahren Christ geworden war und sich nun dafür eingesetzt hatte, dass seine und andere christliche Kinder nicht am islamischen Religionsunterricht teilnehmen müssen. Er war der Pastor einer christlichen Hausgemeinde. Jetzt soll – nach internationalen Protesten – sein Fall neu verhandelt werden. Wie groß die Chancen sind, dass das Todesurteil aufgehoben wird, kann keiner sagen. Dabei könnte er ganz einfach frei kommen: er müsste nur dem christlichen Glauben abschwören und sich wieder als Moslem bekennen. – Er wird es nicht tun, denn es geht um die Wahrheit des Evangeliums, es geht um den Glauben an Jesus Christus, es geht um das Seelenheil.

Solche Geschichten, von Menschen, die um ihres Christseins willen zum Tode verurteilt wurden und nichts weiter hätten tun müssen, als dem Glauben abzuschwören, solche Geschichten haben wir früher als Überlieferungen aus ferner Zeit gehört, aus den ersten drei Jahrhunderten der christlichen Kirche im römischen Reich. – Solche Geschichten ereignen sich heute wieder, und sie ereignen sich sogar tausende Male häufiger als je zuvor. Noch nie hat es so massive Christenverfolgungen gegeben wie in den letzten Jahrzehnten.

Heute sind es vor allem islamische Länder, wo der christliche Glaube einen hohen Preis haben kann – vor allem, wenn Moslems zum Christentum übertreten. Wir sehen es aber auch – zuletzt verstärkt in Ägypten, aber seit längerem auch im Irak –, wie alte christliche Minderheiten benachteiligt, verfolgt und vertrieben werden.

Und dann ist da noch Nordkorea, der vielleicht brutalste und unmenschlichste Staat der Welt, der seit vielen Jahren an erster Stelle steht bei der Unterdrückung und Verfolgung von Christen. Dort wird jeder, von dem bekannt wird, dass er Christ ist, ins Arbeitslager gesteckt und seine Angehörigen oft gleich noch mit. Aus diesen Lagern kommt kaum einer lebend wieder heraus. Zehntausende leiden dort für ihren Glauben.
Sie können sich bei der Organisation Open Doors weiter darüber informieren.

Mir ist es wichtig, dieses Thema – Christenverfolgung – immer mal wieder auf die Tagesordnung zu setzen. In einer Zeit und in einer Kultur, wo es sich gehört, dass man anderen Religionen und Kulturen mit Toleranz und Achtung begegnet, ist es leider üblich geworden, auch Intoleranz, ja Menschenverachtung, bei anderen zu tolerieren. Nach dem Motto: Was müssen die auch Christen werden, wenn sie in einem islamischen Land leben! Und dann vielleicht noch so Evangelikale, wie doof!

Ich sage euch, warum die Christen werden müssen: Weil Jesus seine Jünger losgeschickt hat zu allen Völkern, um sie alle zu Christen zu machen. Wie eine von uns so gerne sagt: „Irgendwann kriegen wir euch alle!“ Und da hat es eben geklappt.

Erstaunlich genug: In einer Gesellschaft, wo es nichts kostet, sich zu Jesus Christus zu bekennen, da treten die Leute aus der Kirche aus oder sind so tolerant, dass es ihnen egal ist, woran jemand glaubt – Hauptsache nicht so christlich-fundamentalistisch. Anderswo, wo Christsein einen hohen Preis kostet, vielleicht sogar das Leben, da werden Menschen zu Christen, da treten sie in die Gemeinden ein! Und wir, wir kümmern uns kaum um sie …

Und übrigens: Wenn Menschen um ihres Glaubens an Jesu willen verfolgt werden, dann diskutiere ich nicht darüber, ob ihr Glaubensverständnis auch das meine ist und ob sie vielleicht zu fromm, zu unkritisch, zu modern oder zu traditionell sind, ob sie Evangelikale sind oder orthodoxe Kopten. Es sind zuerst und vor allem meine Brüder und Schwestern, die um ihres und um meines Glaubens willen leiden.

Liebe Schwestern und Brüder, die Worte Jesu, die wir gehört haben, sind Worte, die genau für Situationen wie diese bestimmt sind: Für Christen, die ihren Glauben offen leben und bekennen. Für Christen, die genau deswegen bedroht sind an Leib und Leben. Für Christen, denen Angst gemacht wird, die benachteiligt, verspottet, verfolgt, gefangen, gefoltert, getötet werden. Für Christen, die doch nichts weiter tun müssten, als ihren Glauben und ihren Herrn verleugnen, um ihre Haut zu retten.

Denen allen sagt Jesus: Fürchtet euch nicht! – Dreimal in diesem kurzen Abschnitt: Fürchtet euch nicht!

Fürchtet euch nicht, das, was ihr von mir gehört habt, öffentlich zu leben und zu bezeugen!

Fürchtet euch nicht vor denen, die euch nach dem Leben trachten!

Fürchtet euch nicht vor dem Tod

Bekennt euch zu mir, was auch geschieht: wie Martin Luther, wie Yousef Nadarkhani, wie die vielen namenlosen Christen in Nordkorea, wie die mutigen Glaubensbekenner aller Zeiten.

Und dann sagt Jesus auch, warum sie sich nicht zu fürchten brauchen.

Sie brauchen sich nicht zu fürchten, weil er sich zu ihnen bekennt, so wie sie zu ihm. Sie sind bereit, ihr Leben zu geben – er hat bereits sein Leben gegeben. Sie bekennen es vor den Menschen, dass sie Jesus kennen und lieben – Jesus bekennt es vor Gott, dass er sie kennt und liebt.

Sie brauchen sich nicht zu fürchten, weil sie ja Gott fürchten. Vielleicht ein nicht ganz leichter Gedanke, dass Gott Leib und Seele töten kann. Die Kehrseite aber ist, dass er die Seele retten und den Leib auferwecken kann. Diese Gewissheit, diese Art von Gottesfurcht macht Jesu Jünger stark gegen die Menschenfurcht.

Und: Sie brauchen sich nicht zu fürchten, weil Gott alles weiß und alles kann. Das sagt Jesus mit den Beispielen von den Sperlingen und von den Haaren.

Es gibt nichts Unwichtigeres als die Zahl der Haare auf unserem Kopf; aber selbst diese so unwichtige Zahl ist Gott bekannt. Weil ihm nichts entgeht, weil er so genau und so sorgfältig mit uns umgeht. Wie viel genauer als unsere Haare mag Gott unsere Gedanken, Wünsche und Gefühle kennen! Wie viel genauer als auf unseren Kopf mag er in unsere Herzen schauen!


Es gibt keine unscheinbareren Vögel als Sperlinge, Spatzen – damals hat man sie immerhin als billige Suppeneinlage gehandelt. Und doch kennt Gott auch jeden Spatzen, und wenn dem Spatzen etwas passiert, dann nicht ohne Gottes Wissen. Weil Gott nichts entgeht, weil er seine Welt im Großen und im Kleinen im Blick hat. Wie viel mehr hat er uns im Blick! Wie viel genauer wird er darauf achten, was uns geschieht!


Diese Bilder, liebe Schwestern und Brüder, mögen denn auch die Brücke schlagen zu uns, die wir nicht in der Situation sind, unser Leben für den Glauben an Jesus Christus aufs Spiel setzen zu müssen. Wir müssen uns nicht fürchten, weil die furchteinflößende Situation – Spott, Verfolgung, Todesgefahr – uns gar nicht betrifft.


Und doch leben wir manchmal ziemlich furchtsam in dieser Welt. Sind auch ziemlich furchtsam und zurückhaltend, wenn es darum geht, unseren Glauben zu bekennen, uns als Christen zu erkennen zu geben.


Und auch so sind wir furchtsam. Es kann ja so viel passieren. – Ja, sicher. Aber wenn wir uns an Gott, an Jesus halten, dann wissen wir: Wenn auch unserem Leib alles mögliche passieren kann, unsere Seele ist in Gottes Hand – ganz sicher und geborgen. Weil Gott uns kennt und lieb hat.


Mir ist ein Lied eingefallen, das wir ganz früher in der christlichen Kinderstunde gesungen haben: Ein kleiner Spatz zur Erde fällt, / und Gott entgeht es nicht. / Wenn Gott die Vögelein so liebt, / weiß ich, er liebt auch mich.

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Sonntag, dem 30. Oktober 2011


Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

“Runter kommen sie alle”, sagt eine alte Pilotenweisheit. Die Frage ist nur, wie. Damit der Flieger heil runter kommt, muss er vor allem eines können: Landen. Darum heißt es auch: “Fliegen heißt Landen.”

Und was ist am Landen so schwer? – Nun: Fliegen kann man überall, Landen kann man nur auf einer entsprechenden Piste. Also muss man als erstes mal überhaupt die Piste treffen. – Wenn ich mich da an meine ersten Versuche am Simulator erinnere, dann war das ziemlich abenteuerlich. So eine Landebahn ist nämlich von oben gesehen fürchterlich schmal, auch wenn eine gut ausgebaute Piste auf einem Flughafen 40 bis 60 Meter Breite hat. Wenn dann auch noch der Wind etwas von der Seite bläst, wird es noch schwieriger. Sie kennen dieses komische Gefühl, wenn der Pilot kurz vor der Landung noch mal kräftig gegensteuert. Aber wenn er das nicht tun würde, würde er schlicht und einfach die Bahn verfehlen.

Die Bahn zu treffen, reicht freilich noch nicht aus für eine sichere Landung. Es muss auch die Landegeschwindigkeit stimmen. Genau genommen muss er den Punkt treffen, kurz unter dem die Maschine gar nicht mehr fliegen kann, weil der Auftrieb nicht mehr reicht. Ist er zu schnell, verpasst er womöglich den Aufsetzpunkt oder schießt über die Piste hinaus. Ist er zu langsam, sackt die Maschine durch und kracht auf die Bahn. Es ist schon vorgekommen, dass Flugzeuge bei einer allzu harten Landung auseinandergebrochen sind. Die Landung ist in der Tat die anspruchvollste und riskanteste Flugphase.

Wie ist das nun mit unserem Lebensflug? Anders als ein Pilot denken wir meistens nicht an das Ende des Fluges. Sicher kann und soll man sein Leben genießen. Aber es ist eben doch nicht endlos und ziellos. Irgendwann kommen wir irgendwo an. Irgendwie endet unser Lebensflug. “Fliegen heißt Landen” – “Leben heißt Sterben”. Wer das Ziel seines Lebens nicht im Blick hat, der legt dann, wenn es so weit ist, vielleicht auch eine Bruchlandung hin. Versucht wie ein Pilot, dem der Treibstoff ausgeht, sich noch irgendwie in der Luft zu halten, bis die Strömung abreißt und die Kiste durchsackt und am Boden zerschellt. Ich glaube, man kann auch vorbereitet sterben. In früheren Zeiten sprach man von der “ars moriendi”, der Kunst des Sterbens. Ich wünsche mir, dass die Landung am Ende meines Lebens eine sanfte wird. Und ich hoffe, dass mein Glauben mir dabei hilft.


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Samstag, 29. Oktober 2011

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Samstag, dem 29. Oktober 2011


Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

in einem modernen Verkehrsflugzeug hat der Pilot nicht mehr viel Arbeit. Das meiste nimmt ihm sein computergesteuerter Kollege ab, der Autopilot.
Was hat es eigentlich damit auf sich? Was kann ein Autopilot, was nicht?

Genau genommen gibt es drei Autopiloten. Einen für die Geschwindigkeit; den kennen inzwischen auch viele Autofahrer als Tempomat. Dann gibt es einen Autopiloten für die horizontale Navigation, also für den Kurs. Im einfachsten Fall dreht der Pilot einen bestimmten Kurs ein, den das Flugzeug dann fliegt. Im komplizierteren Fall folgt der Autopilot bestimmten Signalen von Funkfeuern oder steuert mit Hilfe des GPS bestimmte Koordinaten an. Und schließlich gibt es den Autopiloten für die vertikale Navigation, also die Flughöhe. Entweder der Autopilot hält das Flugzeug auf einer vorgegebenen Höhe oder er lässt es auf eine andere Flughöhe steigen oder sinken.

Obwohl der Autopilot die meisten Dinge selber richtig und sauber erledigt, muss der Pilot doch immer noch an vielen Stellen eingreifen. Er muss letztlich Geschwindigkeit, Kurs und Flughöhe vorgeben, auch wenn der Autopilot sie dann alleine findet. Und er muss in der Lage sein, in jeder Phase des Fluges selber die Kontrolle zu übernehmen, also im Ernstfall das Flugzeug mit Schubhebeln, Steuerhorn und Pedalen selbst zu steuern.

Vor allem aber gibt es zwei Flugphasen, in denen der Autopilot immer abgeschaltet ist: Start und Landung. Die muss der Pilot in jedem Fall selber beherrschen.

Für mich ist auch das ein Bild für unser Leben. Wir können an vielen Stellen getrost auf Autopilot schalten. Wir können im Normalfall ruhig unseren Gewohnheiten, Bedürfnissen und üblichen Verhaltensweisen folgen. Wir müssen nicht alles selber überlegen, steuern und entscheiden.
Aber im Ernstfall müssen wir jederzeit in der Lage sein, unser Leben selber in die Hand zu nehmen, Entscheidungen zu treffen, gegebenenfalls gegenzusteuern oder einen neuen Kurs zu setzen. Wir sollten schon selber unser Leben leben und es nicht von einem automatischen Programm leben lassen. Nur wer selber steuern kann, darf auch mal auf Autopilot schalten.





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Freitag, 28. Oktober 2011

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Freitag, dem 28. Oktober 2011


Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

vor wenigen Tagen erst drohte mal wieder ein Fluglotsenstreik. Das hätte bedeutet, dass der Flugverkehr zum Erliegen gekommen wäre. Denn ohne Fluglotsen geht gar nichts.

In jeder Phase des Fluges, vom Zurückstoßen der Maschine vom Gate bis zum Herunterfahren der Triebwerke steht der Pilot in Kontakt mit der Flugsicherung, holt Genehmigungen ein und empfängt Anweisungen. Der Fluglotse hat jederzeit genaue Informationen über Geschwindigkeit, Kurs und Flughöhe einer Maschine, und auch darüber, welche Anweisungen und Freigaben vorliegen. So kann er den gesamten Flugverkehr in seinem Sektor überblicken und kontrollieren, so dass Flugunfälle nahezu unmöglich werden. Sollte es auf Grund irgendeines Fehlers zu einem Konflikt, d. h. zu einem erhöhten Risiko kommen, etwa wenn sich zwei Flugzeuge auf derselben Flughöhe zu stark annähern, dann sieht der Lotse das in roter Farbe auf seinem Schirm, und er kann die notwendige Anweisung zum Ausweichen geben.

Der Pilot im Flugzeug ist es zwar, der den Flug durchführt, aber wie er ihn durchführt, wie genau er von A nach B gelangt, das entscheidet letzten Endes die Flugsicherung. Der Entscheidungsspielraum des Piloten ist im Grunde nur sehr gering. Es gibt verbindliche Regeln und es gibt verbindliche Anweisungen, an die er sich zu halten hat. Tut er es nicht, so riskiert er sein Leben und zumindest seine Pilotenlizenz.

Wenn wir unser Leben mit einem Flug vergleichen, dann ist es ähnlich. Wir sind die Piloten, wir steuern unser Leben. Viele sind dabei allerdings ohne verbindliche Regeln und Anweisungen unterwegs. Darum kommt es im Leben auch immer mal wieder zu kleinen oder großen Unfällen und Katastrophen. Dabei gibt es auch für uns so etwas wie eine Flugsicherung. Ich meine Gott, der unseren Flug überwacht, uns jederzeit auf seinem Schirm hat und uns notfalls auch Warnungen und Ausweichempfehlungen gibt. Um die mitzubekommen, ist es allerdings nötig, dass wir auch unseren Flugfunk in Betrieb nehmen. Ich meine, dass wir den Kontakt mit Gott suchen und aufrechterhalten. Man nennt das Gebet.




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Donnerstag, 27. Oktober 2011

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Donnerstag, dem 27. Oktober 2011

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

“Über den Wolken muss die  Freiheit wohl grenzenlos sein”, sang Reinhard Mey vor Jahrzehnten. Ja, klar, Fliegen gibt ein Gefühl ungeheurer Freiheit. Frei von aller Erdenschwere durch die Lüfte gleiten … wunderbar! – Trotzdem ist kaum ein Satz so falsch wie der von der grenzenlosen Freiheit über den Wolken.

Kaum irgendwo sonst gelten so strenge Regeln wie im Luftverkehr: Flugplan, Checklisten, Flugrouten, -höhen und -geschwindigkeiten - alles ist vorgeschrieben. Selbst die Dialoge mit der Flugsicherung sind standardisiert. Ohne “Cleared for takeoff” hebt kein Flugzeug ab, und ohne “Cleared for landing” muss auch bei besten Landebedingungen durchgestartet werden. Auch die Absprachen und Aufgabenverteilungen im Cockpit sind standardisiert.

Das alles dient der Sicherheit.

Natürlich würde es in vielen Fällen auch ohne solche genauen Regeln funktionieren. Aber sicherer ist es, wenn jeder sich darauf verlassen kann, dass alle sich an dieselben Regeln halten. Sie verhindern, dass es zu kleinen oder größeren Unfällen kommen kann.

Ohne Regeln geht es einfach nicht. Grenzenlose Freiheit bedeutete Chaos und im schlimmsten Falle Tod.

Eigentlich ist es überall so, wo Menschen zusammenleben. Es gibt Regeln und Absprachen. Dazu gehören staatliche Gesetze, die zur Not mit Zwang und Gewalt durchgesetzt werden. Dazu gehören aber auch Regeln des Anstands und der Höflichkeit. Man grüßt einander. Man hilft einander in Notfällen. Man respektiert das Eigentum des anderen usw.

Das wohl grundlegendste Regelwerk der Menschheit sind die Zehn Gebote aus der Bibel, und zwar aus dem Teil der Bibel, den Juden und Christen gemeinsam haben.

Darunter sind so grundlegende Regeln wie die Gebote “Du sollst nicht töten”, “Du sollst nicht ehebrechen”, “Du sollst nicht stehlen” … Um diese Regeln anzuerkennen, muss man nicht mal Christ oder Jude sein.

Am sichersten, am einfachsten und am angenehmsten wäre es, wenn alle sich an diese grundsätzlichen Regeln halten würden.

So wie es in der Luftfahrt weniger Unfälle gibt, weil alle sich an dieselben Regeln halten, so gäbe es auch im zwischenmenschlichen Miteinander weniger Unfälle, wenn sich alle an diese einfachen Regeln halten würden.




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Mittwoch, 26. Oktober 2011

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Mittwoch, dem 26. Oktober 2011


Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

warum manchen wir so etwas Verrücktes: wir setzen uns in ein Flugzeug, das in 10 bis 12 Kilometern Höhe durch die Luft fliegt? Wenn bei einem Auto oder bei einem Bus etwas kaputtgeht, dann kann man rechts ranfahren und anhalten. Ein Flugzeug kann in der Luft nicht anhalten. Dann würde die Luftströmung, die es trägt, abreißen und das Flugzeug würde runterfallen. Was von einem Flugzeug und seinen Insassen übrigbleibt, das aus mehreren Kilometern Höhe abstürzt, das wissen wir und wollen es uns lieber gar nicht vorstellen. – Warum vertrauen wir uns trotzdem so einem Fluggerät an?

Weil wir wissen, dass bei einem Flugzeug alles Menschenmögliche für die Sicherheit getan wird.

Den Unterschied merken Sie, wenn Sie ein Flugzeug mit Ihrem Pkw vergleichen. Ihr Auto hat einen Motor; das Verkehrsflugzeug hat mindestens zwei Triebwerke. Ihr Auto hat einen Tacho, einen Drehzahlmesser, eine Treibstoffanzeige. Das Flugzeug hat alle Anzeigen und alle dazugehörigen Messgeräte und Sensoren doppelt, mindestens. Ihr Auto hat vielleicht einen Bordcomputer. Das Flugzeug hat vier. Ihr Auto hat einen Piloten, das Verkehrsflugzeug zwei. Es ist ein System der doppelten Sicherheit. Ein System kann ausfallen; dass zwei Systeme gleichzeitig ausfallen, ist wesentlich unwahrscheinlicher. Wenn also bei ihrem zweistrahligen Flugzeug mal ein Triebwerk ausfallen sollte, dann wird der Pilot einen nahe gelegenen Flughafen ansteuern und das Flugzeug mit einem Triebwerk sicher landen. Wenn ein Pilot etwas übersieht oder einen Fehler macht, kann, nein, muss ihn der andere darauf hinweisen, notfalls den Fehler selber korrigieren.

Diese hohen Sicherheitsstandards machen das Flugzeug zu einem viel sichereren Verkehrsmittel. als es Ihr Pkw ist. Und nur deshalb, weil die Sicherheit so hoch und das Risiko so gering ist, setzen wir uns in so eine Maschine.

Wir Menschen brauchen unsere Sicherheit, und unsere Sicherheiten. Doppelte Sicherheit ist besser als einfache oder gar keine Sicherheit.

Wir wissen aber auch: Absolute Sicherheit gibt es nicht. Nicht mal im Flugverkehr.

Auch der christliche Glaube gibt keine absolute Sicherheit. Aber er gibt mir Gewissheit. Wenn ich mich ins Flugzeug setze, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass mit dem Flug alles gut geht. Wenn ich mich Gott anvertraue, dann bin ich ganz gewiss, dass mit meinem Leben alles gut geht.

Dienstag, 25. Oktober 2011

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Dienstag, dem 25. Oktober 2011


Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

Fliegen ist ein Bild für den Glauben, habe ich gestern gesagt. Wenn wir uns ins Flugzeug setzen, dann vertrauen wir darauf, dass Fliegen funktioniert und dass wir sanft wieder auf dem Boden ankommen.

Fliegen ist ja eigentlich ein Wunder – zumindest für unsere Alltagserfahrung. Die lehrt uns nämlich, dass alles, was keinen festen Widerstand erfährt, zu Boden fällt. Physikalisch gesprochen wirkt zwischen der Erde und einem beliebigen Körper die Gravitationskraft, die beide zwingend zueinander bringt. Wenn ich einen Gegenstand loslasse, so fällt er zu Boden. Wenn ich ihn in die Luft werfe, dann fliegt er zwar, die Gravitation holt ihn aber schnell auf die Erde zurück. Entsprechend dieser Erfahrung und der dahinter stehenden Naturgesetze, erscheint es uns wie ein Wunder, dass hunderte Tonnen schwere Flugzeuge sich in die Luft erheben und wie Vögel durch den Himmel gleiten.

Das Geheimnis hinter diesem Wunder ist eine andere Kraft, die der Gravitation, der Erdanziehungskraft entgegen wirkt. Wir nennen sie den Auftrieb. Wenn diese Kraft größer ist als die Erdanziehungskraft, dann hebt sie das Flugzeug in die Höhe, es steigt. Wenn sie kleiner ist als die Erdanziehungskraft, dann sinkt das Flugzeug Richtung Boden. Wenn beide Kräfte gleich sind, dann behält das Flugzeug seine Höhe bei.

Diese Kraft, der Auftrieb, ensteht dadurch, dass die Tragfläche des Flugzeuges sich mit hoher Geschwindigkeit durch die Luft bewegt. Die Tragfläche ist nicht einfach, wie der Name es sagt, eine Fläche, sondern sie ist gewölbt, wie ein Vogelschwinge. Und zwar die Oberseite stärker als die Unterseite. Dadurch strömt die Luft mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten oberhalb und unterhalb der Tragfläche vorbei, und es entsteht ein Druck, der mit der Tragfläche das ganze Flugzeug in die Höhe hebt – der Auftrieb.

Das Erstaunliche daran ist, dass die dünne Luft tatsächlich das schwere Flugzeug tragen kann.

Und was hat das nun mit dem Glauben zu tun? – Für mich ist die Luft ein Bild für Gottes Geist. Im Griechischen kann man sogar dasselbe Wort für Luft und Geist gebrauchen – pneuma. So wie die leichte, fast nicht spürbare Luft ein schweres Flugzeug tragen kann, so kann Gottes Geist mein Leben tragen, so dass ich leicht durchs Leben gleite und nicht abstürze.




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Montag, 24. Oktober 2011

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Montag, dem 24. Oktober 2011


Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,

wie sind Sie hierher auf unsere schöne Insel gekommen? – Wahrscheinlich wohl mit dem Flugzeug. Es sei denn Sie gehören zu den wenigen Ausnahmen, die die langwierigere, letztlich auch unangenehmere und gefährlichere Variante einer Schiffsreise vorgezogen haben.

Die allermeisten von uns fliegen selbstverständlich mit dem Flugzeug. Vielleicht die ersten Male mit einem etwas beklommenen Gefühl. Aber das haben wir überwunden. Ich staune immer wieder von neuem, wenn die Maschine abhebt, und die Vogelperspektive zuerst den Flughafen, dann Häuser, Straßen, Berge und Landschaften klein und kleiner werden lässt, und wenn ich nach nur wenigen Stunden an einem ganz anderen Ort in einem ganz anderen Land ankomme.

Ich persönlich habe dieses Staunen zu einem Hobby gemacht. Nein, einen eigenen Pilotenschein konnte ich leider nicht erwerben. Aber von Zeit zu Zeit wird mein Computer zum Flugzeug. Mit einer Simulatorsoftware und etwas Zubehör wird aus meinem Arbeitsplatz ein Cockpit. Wie man ein Flugzeug startet, landet und dazwischen in der Luft hält, welche Regeln dabei gelten und worauf man achten muss, davon verstehe ich ein bisschen was.

Wie kommst du als Pfarrer zu so einem Hobby?, fragen mich manche. Vielleicht ist es die besondere Verbindung mit dem Himmel, sage ich.

Jedenfalls ist das Fliegen ein schönes Bild für den Glauben, finde ich. Warum das so ist, möchte ich Ihnen diese Woche im Zündfunken erklären.

Ein erster Gedanke dazu: Glauben ist Vertrauen. Und Fliegen hat ebenfalls viel mit Vertrauen zu tun. Ich setze mich in ein Flugzeug und vertraue darauf, dass der Pilot mich sicher von A nach B bringt. Ich vertraue darauf, dass die Luft das Flugzeug trägt, dass alle Systeme funktionieren, auch wenn ich nicht verstehe, wie das geht. Ich vertraue darauf, dass alle Beteiligten, Piloten und Fluglotsen vor allem, aber auch all die anderen, die an so einem Flug beteiligt sind, ihre Aufgabe sorgfältig und richtig wahrnehmen, und dass ich am Ende dort ankomme, wo ich hinwollte.

Wenn ich mich vertrauensvoll dem System Flugzeug anvertraue, dann kann ich mich auch vertrauensvoll Gott anvertrauen, damit ich mit meinem Leben gut und sicher ans Ziel komme.

Sonntag, 23. Oktober 2011

Predigt am 23. Oktober 2011 (18. Sonntag nach Trinitatis)

Als Jesus sich auf den Weg machte, lief einer herbei, kniete vor ihm nieder und fragte ihn: "Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?" Aber Jesus sprach zu ihm: "Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein. Du kennst die Gebote: ' Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst niemanden berauben; ehre Vater und Mutter.'" Er aber sprach zu ihm: "Meister, das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf." Und Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb und sprach zu ihm: "Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!" Er aber wurde unmutig über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter.
Und Jesus sah um sich und sprach zu seinen Jüngern: "Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen!" Die Jünger aber entsetzten sich über seine Worte. Aber Jesus antwortete wiederum und sprach zu ihnen: "Liebe Kinder, wie schwer ist's, ins Reich Gottes zu kommen! Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme." Sie entsetzten sich aber noch viel mehr und sprachen untereinander: "Wer kann dann selig werden?" Jesus aber sah sie an und sprach: "Bei den Menschen ist's unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott."
Markus 10, 17-27


 Liebe Schwestern und Brüder,

Was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?

Einmal kam ein junger Mann zur Kirche und hörte dort die Worte unseres heutigen Predigttextes: Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben haben, und komm und folge mir nach! Er verließ augenblicklich das Gotteshaus und verschenkte seinen gesamten Grundbesitz, den er von seinen Vorfahren geerbt hatte; das waren immerhin über 80 Hektar Land; auch allen anderen Besitz verkaufte er und gab das Geld den Armen.

Er suchte sich selber eine verlassene Hütte am Rande des Dorfes; dort lebte er fortan zurückgezogen, ins Gebet versenkt und mit einfachen Arbeiten befasst, wahrscheinlich Körbe oder Seile flechten, von denen er seinen Lebensunterhalt bestritt. Als es ihm dort nicht einsam genug war, zog er weiter weg – zunächst auf den Friedhof, der damals ganz außerhalb des Dorfes lag, und dann hinaus, dorthin wo man eigentlich gar nicht leben konnte – in die Wüste. Denn unser junger Mann lebte in Ägypten, und dort ist die Wüste immer ganz nahe.

Das geschah um das Jahr 270 herum. Der junge Mann hieß Antonius, und er wurde berühmt als der Vater des Mönchtums.

Antonius bewies, dass es möglich war, die Worte Jesu ernst zu nehmen und zu befolgen. Er ging nicht traurig weg, weil er viele Güter hatte, als er die Worte Jesu hörte. Er ging fröhlich hin und befolgte diese Worte. Am Ende seines Lebens ist er auch fröhlich gestorben. Gewiss, das ewige Leben zu ererben.

Der heilige Antonius wurde zum Vorbild für viele andere. Radikale Jesus-Nachfolge, radikaler Verzicht auf den eigenen Besitz, auf den eigenen Willen, auch auf die eigene Sexualität – das war seither das Kennzeichen von spirituellen Erneuerungsbewegungen, das war das Kennzeichen des Mönchtums, aus dem die Kirche über Jahrhunderte hinweg immer wieder Kraft geschöpft hat.

Spätestens seit Antonius war klar: Was Jesus verlangte, war zwar schwierig, aber es war nicht unmöglich. Und mit dem Mönchtum hatte die Kirche dann auch eine Institution, in der man so leben konnte: ohne eigenen Besitz – aber doch abgesichert.

Viele Jahrhunderte später hatte ein anderer junger Mann diesen Weg für sich erwählt. In einem Moment größter Lebensgefahr wurde ihm schlagartig klar, dass es doch nichts Wichtigeres geben könnte, als ganz für Gott da zu sein, und er entschied sich, Mönch zu werden. Er gab seinen eigenen Besitz auf, auch seine eigenen Karrierepläne – er hätte Jurist werden sollen – und tauschte dafür die Sicherheit des Klosters ein. Das war für ihn nicht nur die materielle Sicherheit, das war für ihn vor allem die Sicherheit des ewigen Seelenheils. Wenn er – wie es der junge Mann im Bibeltext nicht vermochte, wie es aber der heilige Antonius und viele andere seither getan hatten – wenn er den Worten Jesu so folgte, dann würde er gewiss das ewige Leben ererben.

Und dann hörte er als Mönch immer wieder die Worte Jesu, die Worte der Bibel. Und er studierte sie, als er im Auftrag seines Ordens Theologe wurde, und er sagte sie anderen weiter, als er Priester wurde. Und diese Worte drangen ihm so ins Herz, dass er ganz traurig wurde – so wie damals der junge Mann, der zu Jesus gekommen war. Er wurde traurig, weil er merkte, dass er sie auch als Mönch, auch mit den größten Anstrengungen immer noch nicht befolgen konnte.

Denn die Worte Jesu sagten ihm, dass er seinen Nächsten lieben sollte wie sich selbst. Aber er wusste von sich, dass er das nicht konnte. Seine Gedanken kreisten ja immer gerade um ihn selber, um seine eigene Seligkeit, nicht um die seines Nächsten.

Die Worte Jesu sagten ihm, dass man äußerlich alle Gebote erfüllen konnte, aber doch in Gedanken seinen Bruder in die Hölle wünschen konnte, und genau so ging es ihm.

Die Worte Jesu sagten ihm, dass er Gott über alles lieben sollte, aber er hasste Gott, weil er so unerfüllbare Forderungen stellte. Er las von Gottes Gerechtigkeit, und wusste dabei, dass der gerechte Gott ihn verurteilen würde. Er hatte alles Menschenmögliche getan für seine Seligkeit. Aber es reichte nicht, es würde niemals reichen, das ewige Leben zu ererben.

Wer kann dann selig werden?, fragte er, so wie die Jünger Jesu im Evangelium. – Bei den Menschen ist's unmöglich, das merkte er am eigenen Leibe, an der eigenen Seele.

Aber alle Dinge sind möglich bei Gott. Das entdeckte er, das verstand er, als er sich all die anderen Worte Jesu auf der Zunge zergehen ließ, die vom Glauben sprechen: Von dem Mann, der Jesus für seinen Sohn bat, von der Frau, die Jesus für ihre Tochter bat, und von den vielen anderen, zu denen Jesus sagte: Dein Glaube hat dir geholfen. Von dem Verbrecher, der neben ihm am Kreuz hing und sich bittend an ihn wandte und dem er sagte: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.

Er entdeckte es vor allem in den Worten des Apostels Paulus, der davon sprach, dass vor Gott alle Menschen, unterschiedslos Sünder sind – selbst ein heiliger Antonius – und dass alle durch Gottes Gnade selig werden, wenn sie nur daran glauben.

Der gerechte Gott, so lernte er verstehen, verurteilt uns Menschen nicht, sondern er schenkt uns seine Gerechtigkeit. Wir verdienen uns nicht das ewige Leben. Sonder wir ererben das ewige Leben, weil wir Gottes Kinder sind.

Dieser junge Mann, der das entdeckte, neu entdeckte, hieß Martin Luther. Er war in gewisser Weise das Gegenstück zum heiligen Antonius. Antonius ließ alles, was er hatte hinter sich, entfloh der Welt und kämpfte einen lebenslangen geistlichen Kampf, um so das ewige Leben zu finden. Martin Luther kehrte aus den Kämpfen der Mönchszelle zurück in die Welt, weil er den Kampf verloren hatte. Aber gewonnen hatte er den gnädigen Gott, der nicht fordert, sondern schenkt, das ewige Leben schenkt.

Luther kehrte zurück in die Welt, wo man heiratet und sich seiner Sexualität erfreut; wo man selber Entscheidungen trifft, statt sich Autoritäten unterzuordnen; wo man selber Verantwortung übernimmt und dabei auch das Risiko zu scheitern; wo man Gut und Geld hat und es nicht, jedenfalls nicht alles, an die Armen verschenkt, sondern sein Auskommen sichert, Gewinne investiert, um auch künftig Gewinne zu machen, und wo vom eigenen Nutzen dann gerade auch die anderen profitieren. Bedeutete das Wort Beruf vorher die Berufung ins Kloster als die Gott besonders wohlgefällige Form der Nachfolge, so hieß Beruf nun, mitten in der Welt, mitten in den eigenen Gütern und mittels des eigenen Besitzes Jesus nachfolgen: die eigene Arbeit als Berufung annehmen – das ist der Beruf, so wie wir ihn verstehen. – So sieht evangelische, protestantische Weltbejahung aus.

Aber kann man so das ewige Leben ererben? – Ein junger Mann kommt zu Jesus, einer der eigentlich alles richtig macht, der mit seinen Gütern und Gaben Gott dient, der sich an Gottes Gebote hält und sich dabei noch um das Seelenheil sorgt. – Was will man mehr? – Nichts. – Nur er will mehr. Er will absolute Sicherheit für sein Seelenheil. Er will bei Jesus die Lebensversicherung fürs ewige Leben abschließen. – Und er muss erkennen, dass er den Preis dafür nicht bezahlen kann. Er geht traurig davon.

Dabei müsste er den Preis gar nicht bezahlen, wenn er sich nicht selber erarbeiten wollte, was Jesus ihm viel lieber schenken würde. Könnte er doch einfach glauben, könnte er doch einfach gewiss werden, dass Jesus den Preis bezahlt und ihm das ewige Leben schenkt, einfach schenkt. Eines fehlt dir, sagt Jesus: der Glaube.

Montag, 17. Oktober 2011

Predigt vom 16. Oktober 2011 (17. Sonntag nach Trinitatis)

Jesus mit Petrus, Jakobus und Johannes kam zu den übrigen Jüngern zurück, und sie sahen eine große Menge um sie herum und Schriftgelehrte, die mit ihnen stritten. Und sobald die Menge ihn sah, entsetzten sich alle, liefen herbei und grüßten ihn. Und er fragte sie: „Was streitet ihr mit ihnen?“ Einer aber aus der Menge antwortete: „Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen, und sie konnten's nicht.“ Er aber antwortete ihnen und sprach: „O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her zu mir!“ Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riss er ihn. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund. Und Jesus fragte seinen Vater: „Wie lange ist's, dass ihm das widerfährt?“ Er sprach: „Von Kind auf. Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!“ Jesus aber sprach zu ihm:: „Du sagst: 'Wenn du kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Sogleich schrie der Vater des Kindes: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ Als nun Jesus sah, dass das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: „Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein!“ Da schrie er und riss ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe lag da wie tot, so dass die Menge sagte: „Er ist tot.“ Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er stand auf.
Und als er heimkam, fragten ihn seine Jünger für sich allein: „Warum konnten wir ihn nicht austreiben?“ Und er sprach: „Diese Art kann durch nichts ausfahren als durch Beten.“
Markus 9, 14-29


Ich glaube, hilf meinem Unglauben!
In diesem Satz, in diesem Hilferuf, liebe Schwestern und Brüder, finde ich mich wieder. Zwischen Glauben und Unglauben. Zwischen Macht und Ohnmacht. Zwischen Leben und Tod.
Ja, ich glaube. Ich möchte glauben. Ich rede vom Glauben. Ich glaube an den Glauben, klammere mich an ihn. – Und doch: Ich bin kleingläubig, ungläubig. Ich weiß um meine Zweifel. Ich kenne alle Ungewissheiten und alle Einwände. Ich stelle alles in Frage. Ich zweifel an meinem Glauben, und ich glaube an meinen Zweifel.
Glaube, so groß wie ein Senfkorn, versetzt Berge, sagt Jesus. – Ich habe noch keinen Berg versetzt.
Alles Dinge sind möglich dem, der da glaubt. – Mir sind oft die einfachsten Dinge unmöglich. Ich stoße an meine Grenzen, und komme nicht darüber hinweg.
Soll mein Glaube das glauben? – Geister und Dämonen, die Menschen krank machen, und ein Wunderheiler, der sie vertreibt?
Kann mein Glaube das können? – Heilen durch Gebet? – Gesundbeten?
O du ungläubiges Geschlecht! – Ja, da bin ich dabei; da gehöre ich dazu.
Ich glaube, hilf meinem Unglauben! – Vielleicht auch andersherum: Ich glaube nicht, hilf meinem Glauben! Hilf ihm auf die Sprünge; mache mich fähig zu glauben!
Und doch möchte ich auch bitten: Lass mich nicht leichtgläubig werden! Erhalte mir meine Skepsis! Bewahre mir mein Misstrauen!
Das Misstrauen gegen falsche Autoritäten. Die Skepsis gegen vorgefertigte Wahrheiten.
Prüfet alles, und das Gute behaltet!, heißt es ja auch. Lass mich nicht ungeprüft glauben. Nicht alles für wahr halten, was man so für wahr hält. Nicht alles annehmen, was es an Annahmen gibt. Bewahre mich vor Aberglauben. Aber lass mich glauben! Erhalte mir meinen gesunden Zweifel. Aber lass mich an meinem Zweifel nicht verzweifeln!

Ich glaube, hilf meinem Unglauben! – Kann ich an dieser unglaublichen Geschichte Glauben lernen? – Ich glaube, schon.
Da ist der Glaube der Jünger Jesu. Besser gesagt: ihr Kleinglaube, ihr Unglaube. Er ist unfähig, zu helfen, zu heilen. Er kann nur diskutieren. Besserwisserischer Glaube. Aber das nützt nichts. Glaube ist nicht Wissen. Glaube ist nicht Besserwissen.
Der Mensch, der die Hilfe des Glaubens braucht, er steht dabei, er versteht nichts, er ist enttäuscht: Deine Jünger – sie konnten's nicht.
Ich denke an heiße Diskussionen um die richtige christliche Lehre, um das richtige Verständnis der Heiligen Schrift, um das richtige Verständnis, wer Jesus war und ist, um das richtige Verständnis, was Christen dürfen und was nicht. Darüber sind Gemeinden und Kirchen zerbrochen.
Und die Menschen, die die Hilfe des Glaubens brauchen, stehen daneben, verstehen nichts, sind enttäuscht. Wenden sich ab: Diese Christen – sie können's nicht.
Als alles vorbei ist, fragen die Jünger Jesus: Warum konnten wir nicht? Was haben wir falsch gemacht? – Immerhin. Daran möchte ich mir doch ein Beispiel nehmen: Jesus fragen: Was war falsch? Was geht anders? Wie können wir es besser machen? – Wie können wir besser glauben?
Die Antwort Jesu: Nur durch Beten. – Das Böse ist nicht durch Diskussionen und Argumente zu überwinden, nicht durch die richtigen Rituale, die man nur kennen muss, nicht durch moralische Überlegenheit. Sondern nur durch Beten.
Hilfreicher Glaube beginnt und endet im Beten. – Ja, ist Glaube überhaupt etwas anderes als Beten?
Wie viele Menschen beten, ohne genau zu wissen, was es mit dem Gegenüber des Gebets auf sich hat? Wie viele Gebete, beginnen mit den Worten: „Gott, wenn es dich gibt ...“?
Und wenn wir schon etwas über Gott wissen oder ahnen, dann doch weniger aus Erklärungen als viel mehr aus Begegnungen – Begegnungen im Gebet.
Glaube ist Beten: Stilles oder lautes. Zweifelndes oder gewisses. Redendes oder hörendes. Beten hilft meinem Unglauben zum Glauben: Ich glaube, hilf meinem Unglauben! – Das ist ja selber ein Gebet.

Glauben lernen kann ich von dem Mann, der diese Worte gesprochen, gebetet hat. Er hat sich nicht beirren lassen. Nicht beirren lassen durch die schlechten Erfahrungen, die er schon machen musste mit denen, die ihm nicht helfen konnten. Er hat sich nicht beirren lassen durch die Diskussionen der Fachleute: der Schriftgelehrten, die die Bibel am besten kannten und der Apostel, die sich in Abwesenheit ihres Herrn als seine Stellvertreter aufspielten. Er hat sich nicht beirren lassen durch die Hilflosigkeit der Helfer. Nicht beirren lassen durch das Unvermögen ihres Glaubens.
Er geht zu Jesus, erzählt seine Geschichte, erbittet Hilfe – und erhält sie.
Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser! – Du, Jesus! Nicht die Fachleute, nicht die Stellvertreter.
Dieser Glaube ist Jesus-Glaube. Christus-Glaube. Christlicher Glaube. – Nicht kirchlicher Glaube – denn die Kirchenleute können nicht helfen. Nicht Glaube an sich selbst – denn sich selbst kann er schon lange nicht mehr helfen.
Was kann ich selbst? Was können wir Kirchenleute? – Menschen zu Jesus hinbringen. Für Menschen zu Jesus bitten. Menschen in die Beziehung zu Jesus einweisen, und dann selber zurücktreten.
Es ist dein Glaube. Es ist deine Jesus-Christus-Begegnung. Es ist deine Hilfe, dein Heil – bei ihm: Ich glaube, hilf meinem Unglauben! – Sag Ich, und er sagt Du!

Dieser Mann, von dem ich Glauben lerne, lernt selber Glauben von Jesus. Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt, sagt Jesus. Sagt der, dem alle Dinge möglich sind, weil er glaubt.
Der bittende, betende Mensch wendet sich an Jesus, weil er an Jesus glaubt. Kleingläubig, ungläubig glaubt.
Jesus glaubt, wie wir glauben sollten, könnten, wenn wir nicht so kleingläubig wären. Jesus ist mit seinem Glauben ganz bei Gott. Sein Glaube ist der Glaube, der will, was Gott will: Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe! – Glaube, der am Ende nichts mehr für sich, aber alles für Gott will. Idealer Glaube.
Sollten wir nicht nur an Jesus glauben? Sollten wir auch wie Jesus glauben?
Vor diesem Ideal des Glaubens kann ich nur rufen: Hilfe! Das kann ich nicht. Ich glaube, ich glaube irgendwie – klein, mehr oder weniger tastend, suchend, betend, hilfsbedürftig. Aber vor deinem Glauben ist mein Glaube nichts als Unglaube. Hilf meinem Unglauben! Dass mir mein Glaube nicht vergeht angesichts deines Glaubens!
Ich merke: Ich kann nicht glauben wie Jesus. Ich kann nur glauben an Jesus. An seinen Glauben glauben. Mich mit meiner Hilflosigkeit an seine Hilfe halten.
Ich glaube, hilf meinem Unglauben!
Ja, ich klammere mich mit meinem kleinen, ungläubigen Glauben an den Glauben Jesu. Ich kann zu meinen Zweifeln, zu meiner Unfähigkeit, zu meiner Hilflosigkeit stehen, weil Jesus mit seinem großen Glauben zu mir steht. Weil er mich nicht stehen lässt, wenn ich ihn bitte: Herr, erbarme dich! Ich glaube, dass du meinem Unglauben hilfst.

Montag, 10. Oktober 2011

Predigt am 10. Oktober 2011 (16. Sonntag nach Trinitatis)

Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. ES ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen. Denn der HERR verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner Güte.
Klagelieder 3, 22-26. 31-32





Liebe Schwestern und Brüder,
es gibt Tage, die brennen sich für Jahre, Jahrzehnte, manchmal sogar für Jahrhunderte in das Gedächtnis der Menschen ein.
Der 11. September 2001 ist so ein Tag – für Amerikaner und für die Welt; wir haben vor vier Wochen erst daran erinnert: Innerhalb weniger als einer Stunde sterben fast dreitausend Menschen. Einzelne kommen nur ganz knapp davon, andere ganz knapp nicht. Eheleute, Eltern, Kinder müssen stunden-, tage-, wochenlang bangen bis zu der Gewissheit, dass auch ihr Angehöriger unter den Toten ist. Und der Schmerz bleibt und ist an so einem Gedenktag wieder wie neu.
Der 13. Februar 1945 ist für die Menschen aus Dresden so ein Tag. Die Erinnerung an die Bombennacht, den Höllenlärm, die Todesangst und die Gebete im Luftschutzkeller, das Entsetzen über den glutroten Himmel, den man noch von Chemnitz und Leipzig aus sehen konnte und auch hier dann die Angst, die Ungewissheit über das Schicksal von Angehörigen und Bekannten, die in der Stadt gelebt haben – das ist uns von der Generation unserer Eltern und Großeltern mitgegeben worden. Es stand uns jahrelang vor Augen, wenn wir an der Ruine der Frauenkirche vorbeikamen.
Der 6. August 1945 ist so ein Tag – für die Menschen in Japan: Da wurde die erste Atombombe über Hiroshima gezündet, die mit einem Schlag fast 80.000 Tote forderte. Vom Stadtzentrum und den Menschen darin war danach so gut wie nichts mehr übrig. Vorstellbar ist das Entsetzen dieses Tages eigentlich nicht.
Es war auch ein Tag im August, es war das Jahr 587 v. Chr., das man damals natürlich noch nicht so zählte: Da fiel das Heer der Babylonier in die Stadt Jerusalem ein. Wir wissen nicht, wie viele Menschen damals starben. Aber wir wissen von brennenden Häusern und Straßen. Wir wissen davon, dass Menschen verschleppt wurden. Wir ahnen Mord, Plünderung und Vergewaltigung. Und wir wissen von dem Entsetzen der Menschen, die erleben müssen, wie auch Gottes Tempel, das Haus des Herrn zerstört und geplündert wird, die kostbaren Kultgeräte zerstört oder geraubt. Die Bundeslade mit den Gesetzestafeln einfach mitgenommen aus dem Allerheiligsten, das doch eigentlich kein Jude betreten durfte, geschweige denn ein Ungläubiger, ein Heide.
Wo war Gott an diesem Tag? Ausgegangen aus seinem Haus? Weggegangen aus seiner Stadt? Hatte er sein Volk, seine Menschen verlassen?
Wo war Gott an all den anderen Tagen des Unheils, als Städte zerstört, Menschen getötet und gequält wurden? – Es sind ja nur ganz wenige, willkürlich herausgegriffen, die ich genannt habe.
All die vielen unbekannten Tage, an denen Menschen vernichtet, vergewaltigt, deportiert, in Gaskammern gesteckt wurden, all die habe ich ja gar nicht genannt, kann sie auch gar nicht nennen, weil es so viele sind.
Ja, vergeht denn überhaupt ein Tag, ohne dass Menschen durch die Grausamkeit anderer Menschen zu Tode kommen, in Leid und Elend gestürzt werden?
Wie kann man da von der Güte des Herrn reden? Seine Barmherzigkeit rühmen, seine Treue preisen und seine Hoffnung auf ihn setzen?
Ich muss diese Fragen stellen. Ich muss diesen Kontrast deutlich machen. Weil der Glaube sich irgendwann vor diese Fragen gestellt sieht. Weil mancher Leute Glaube an diesen Fragen zerbricht. Das sinnlose Leiden in der Welt gibt eben keinen Sinn. Und mit Gottes Liebe, Güte und Barmherzigkeit passt es nicht zusammen.
Ich muss diese Fragen auch deshalb stellen, weil unser Bibeltext sie stellt. Wir sind in den Klageliedern. Und da ist nicht einfach nur so von Gottes Güte, Barmherzigkeit und Treue die Rede. Da ist zuerst und vor allem all das andere ausgesprochen. Da ist Klage und Zweifel, Anklage und Verzweiflung. Und dann, dann erst ist auch so etwas wie Trost – aber nicht Vertröstung.
Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war. – Mit diesen Worten beginnen die Klagelieder. Rudolf Mauersberger hat diese Worte und weitere in einer ergreifenden Motette vertont – im Gedanken und Gedenken der zerstörten Stadt Dresden, wo er Kreuzkantor war.
Ich bin der Mann, der Elend sehen muss durch die Rute des Grimmes Gottes – so beginnt das dritte Klagelied, aus dem der Predigttext genommen ist. Da spricht einer von sich selbst; davon, was das Grauen und Elend, das er erlebt hat, mit ihm persönlich anstellt. Er hat den Eindruck, Gott hat sich gegen ihn verschworen. Alles Elend der Welt ist über ihn gekommen. Gott führt ihn in die Finsternis. Gott hat ihn eingemauert. Gott hat ihn in ein auswegloses Labyrinth gestellt. Gott hat ihn angefallen wie ein Raubtier, ein Löwe oder Bär und ihn zerfleischt. Gott hat aus dem Hinterhalt Pfeile in seine Nieren geschossen. Gott hat ihn auf Kieselsteine beißen lassen.
Diese Worte müssen wir eigentlich mithören, mitdenken, mitfühlen, wenn wir dann die anderen Worte hören: Die Güte des Herrn …, seine Barmherzigkeit …, seine Treue …
Gott, wie dieser Mensch ihn erlebt, Gott, wie viele, allzu viele ihn erleben, ist nicht der liebe Gott. Gott kann auch böse sein, hart, grausam, unerbittlich.
Und dann fragt man ihn, fragt man hoffentlich noch ihn: Warum? Weshalb? Wozu?
Manchmal findet man tastend Ansätze zu Antworten. Die Propheten Israels und der Sänger der Klagelieder, sie haben solche Ansätze von Antworten gefunden: Sie sprechen von Schuld und Sünde, von der Gottvergessenheit ihres Volkes. Sie sprechen von der Torheit und Gottlosigkeit ihrer Regierenden. Und sie sprechen von Gottes Zorn.
Gott, so wie die Bibel von ihm spricht, ist nicht der liebe Gott, sondern der heilige Gott, der gerechte Gott, auch der zornige und strafende Gott.
Für uns ist das noch schwerer zu fassen als für die Menschen damals, weil wir uns so daran gewöhnt haben, dass Gott der liebe ist, dass Gott die Liebe ist. Die Kehrseite: Wir reden von Gott wie von unserem Haustier: Der ist ganz lieb. Der tut nichts. – Der domestizierte Gott.
Nur taugt der domestizierte Gott nicht für böse Tage. Wir halten das ganze Elend unserer Welt, die Leidenden und Gemordeten fern von Gott. Gott, der liebe Gott, kann damit ja nichts zu tun haben. Er tut so was doch nicht. Gott ist dafür da, dass mein Leben gelingt, dass ich Glück und gute Tage genießen kann und dass er mich im Unglück, wenn es denn schon kommt, ein bisschen tröstet. So weit, so gut. Aber dass Gott auch Menschen ins Elend stößt, oder dass er zumindest das Elend und die Katastrophen zulässt, diese Vorstellung halten wir von unserem lieben Kuschelgott fern.
Der Mensch, der all seine Not und Verzweiflung, Gott vorwirft, der Mensch, der weiß, dass er es auch im Schlimmsten und Bösesten mit Gott zu tun hat, der ist es dann am Ende doch auch, der sich von Gott trotzdem, gerade und immer noch das Beste erwartet: Güte, Barmherzigkeit, Treue.
Wie geht das? – Es geht, und es geht nur aus einem ganz tiefen und fundamentalen Gottvertrauen heraus. Das ist die Gewissheit, dass Gottes Wille für uns eigentlich immer gut ist, dass Gottes Tun für uns eigentlich immer der beste ist, dass Leid und Elend, Tod und Verderben zwar sehr wohl real sind, aber bei Gott doch nur die Oberfläche, unter der Leben und Liebe sind.
Ja, manchmal sehen wir Menschen nicht unter die Oberfläche. Wir können es nicht. Wir sind zu oberflächlich. Wir sehen das Verderben, wir sehen den Tod, wir spüren den Schmerz. Wir erfahren Gottes Zorn, den wir nicht wahr haben wollen und nicht verstehen – schon gar nicht wenn er uns trifft. Aber wir dringen nicht durch in die Tiefe, sehen nicht in Gottes Herz, wo doch immer noch seine Güte, seine Barmherzigkeit, seine Treue wohnt.
Der Sänger der Klagelieder, er ist durchgedrungen bis ins Herz Gottes. Am Tiefpunkt der Anklage und Verzweiflung geschieht der Umschwung:
Ich sprach: Mein Ruhm und meine Hoffnung auf den HERRN sind dahin, so heißt es. Und dann spricht er doch eine Bitte aus: Gedenke doch, wie ich so elend und verlassen, mit Wermut und Bitterkeit getränkt bin! Und aus dieser entspringt Bitte so etwas wie glaubende Zuversicht: Du wirst ja daran gedenken, denn meine Seele sagt's mir. Dies nehme ich zu Herzen, darum hoffe ich noch. – Und dann folgen die Worte unseres Predigttextes: Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende …
Es ist ein Sich-Hindurch-Beten zum Herzen Gottes. Durch all das Elend, durch all das Leid, durch alle Verletzungen hindurch. Aus der Ausweglosigkeit findet er den einzigen Ausweg zu dem, von dem er doch meinte, er hätte ihm erst den Weg verstellt. Und vielleicht ist es ja auch das: Dass Gott uns zu sich zwingt …
Im Grunde, im Grunde ist das auch der einzige Weg, den wir gehen können: Den Weg von Gott zu Gott. Den Weg von der Klage und Verzweiflung an Gott zum Vertrauen auf die Güte und Barmherzigkeit in Gott. Den Weg vom fremden zum bekannten Gott. Den Weg vom zornigen zum liebenden Gott.
Denn das ist er am Ende doch: nicht der liebe Gott, aber der liebende Gott. Am Ende offenbart er sich als der, der er im Innersten ist. Am Ende steht uns seine Tür, steht uns sein Herz offen.