Sonntag, 28. September 2014

Predigt am 28. September 2014 (15. Sonntag nach Trinitatis)

Es war zu der Zeit, da Gott der HERR Erde und Himmel machte. Und alle Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen; denn Gott der HERR hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; aber ein Nebel stieg auf von der Erde und feuchtete alles Land.
Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.
Und Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Gott der HERR ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.
Und es ging ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilte sich von da in vier Hauptarme. Der erste heißt Pischon, der fließt um das ganze Land Hawila, und dort findet man Gold; und das Gold des Landes ist kostbar. Auch findet man da Bedolachharz und den Edelstein Schoham. Der zweite Strom heißt Gihon, der fließt um das ganze Land Kusch. Der dritte Strom heißt Tigris, der fließt östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der Euphrat.
Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.
1. Mose 2, 4b-15


Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört der Garten, gleich neben dem Haus, in dem wir wohnten: mit Rasenfläche und Blumenrabatten, mit Gemüsebeeten und Komposthaufen, mit einer Wassertonne und mit einem Sandkasten zum Spielen und Bauen für den kleinen Roland.
Da draußen im Garten konnte ich mich frei bewegen, auch ohne dass Mutti oder Vati in unmittelbarer Nähe waren.
Umzäunt und geschützt, so dass ich nicht davonlaufen konnte, nicht auf der Straße unter die Räder kam und auch kein böser Mensch mich wegfangen konnte.
Klein-Roland mit der Kindergießkanne beim Blumengießen – da gibt’s noch alte Fotos.
Ganz ungefährlich war es trotzdem nicht im Garten. Ich sage nur: Wassertonne. – Klar, dass ich da mal reingefallen bin!
Aber wirklich allein gelassen war ich zum Glück ja nie: Die Eltern oder die Großmutter waren immer in Rufweite.
Der Garten war ein schöner Ort: Ich begann die  Welt zu entdecken und war doch behütet.
*
Später gehörte zu meinen unbeliebtesten Schulfächern der Schulgartenunterricht.
Da musste man gerade Beete anlegen, Radieschen oder Möhren säen, Unkraut jäten, sich die Finger dreckig machen. Die Stunden waren endlos, und am Ende bekam ich doch nur eine Drei, weil die Abstände zwischen den Pflänzchen zu ungleichmäßig waren oder das Beet zu schief, oder einfach nur weil ich weniger geschafft hatte als andere.
Spaß machte das nicht.
Auch um die Arbeit im Garten meiner Eltern habe ich mich nicht gerissen. Aber es musste eben sein: Unkrautziehen, Gießen, Erdbeeren, Johannisbeeren, Kirschen oder Pflaumen pflücken und im Herbst umgraben.
Ein Garten erfordert Arbeit, sonst verwildert er: Bebauen und Bewahren.
*
Vor ein paar Jahren haben K. und B., beide in unserem Alter, sich einen Garten gekauft: mit einer bewohnbaren Hütte drauf, Rasenflächen, Obst- und Ziergehölzen, ein paar Beeten. Schön fürs Wochenende. Da kann man am Tag was tun und am Abend Bratwürste grillen und Bier trinken.
Es war eine Fehlinvestition.
Die ersten zwei Jahre haben sie oft Würste gegrillt und Bier getrunken; B. hat manchmal den Rasen gemäht; aber dann ist der Garten mehr und mehr verwildert. Sie hatten keine Lust oder zu wenig Energie, um ihren Garten wirklich zu pflegen und schön zu erhalten. Jetzt ist er von Unkraut überwuchert. Und auch zum Grillen und Biertrinken gehen sie nicht mehr dorthin.
Schade um den schönen Garten!
*
Zu den frühesten Erinnerungen der Menschheit gehört ein Garten: der Garten Eden.
Wonnegarten kann man das übersetzen.
Das Paradies.
Von Gott gepflanzt, von Gott beschützt, von Gott bewässert.
Draußen war die Wüste: Das karge Nichts aus Stein und Sand.
Aber wir kannten sie noch nicht, denn als wir die Augen aufschlugen, fanden wir uns in einem Garten, wo alles da war, was wir zum Leben brauchten.
Draußen war der Dschungel: Die grüne Hölle, wo es wild wucherte und das Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens galt.
Aber davon wussten wir noch nichts, denn wir fanden uns in einer heilen Welt: dem Garten der Wonne, und wussten noch nichts von Gut und Böse.
Nur von unzähligen verlockenden Früchten, die darauf warteten, von uns gepflückt zu werden; jede versprach einen neuen Geschmack.
Und vor uns lag eine unendliche Zeit, sie zu entdecken, sie zu genießen.
Alles war leicht, alles war ein Spiel...
Mit der Zeit lernten wir, dass ein Garten Pflege braucht.
Wenn wir nichts taten, verwilderten die ersten Ecken.
Wo wir nicht begossen, da vertrockneten Pflanzen. Wo wir nicht mähten und jäteten, da überwucherten Gräser und Kräuter alles andere. Wo wir nicht ernteten, da verfaulten die Früchte auf oder unter den Bäumen. Die Wüste und der Dschungel drangen ein in unseren Garten.
Aber wir lernten auch, was wir tun konnten: Bebauen und Bewahren - unseren Lebensraum kultivieren, damit die zerstörerischen Kräfte der Natur nicht die Oberhand gewönnen.
*
Inzwischen sind wir herausgewachsen aus dem Kindesalter.
Wir leben nicht mehr im Paradies.
Unsere Welt ist groß und weit geworden.
Wir haben die Wüste kennengelernt und den Dschungel.
Wir haben Gutes entdeckt und Böses.
Da draußen.
Und auch da drinnen (aufs Herz zeigen).
Die Gefahren sind real.
Das Leben ist lebensgefährlich, und der Gott, der uns einst behütete, meistens außer Rufweite.
Das Paradies ist nur noch eine Ahnung von ganz, ganz ferne her.
Manchmal wünschen wir uns, es möge wieder so sein.
Dann kaufen wir uns vielleicht einen Garten (oder irgendwas anderes) und versuchen es uns schön zu machen, und es gelingt uns doch nicht.
Manchmal sagen wir uns auch:
So schön kann es ja gar nicht gewesen sein.
Das Paradies ist nur die Projetion einer Heimat, in der noch niemand gewesen ist.
Manchmal aber stellen wir erstaunt fest, dass sich unser Leben gerade so anfühlt wie im Paradies.
Manchmal, in einem glücklichen Augenblick.
Wenn unser Bebauen und Bewahren Früchte trägt, und wir brauchen sie nur noch zu ernten.
Wenn wir merken, dass wir nicht allein sind, und es ist gut so.
Und wenn Gott da ist, auch hier, jenseits von Eden.
*
Nein, wir leben nicht mehr im Paradies.
Aber etwas vom Paradies ist noch da in unserem Leben.
Oder wieder da.

Der Lebensstrom, der von Eden ausgeht, fließt ja weiter in unsere alte, weite Welt hinein, teilt sich in Ströme und Bäche, fließt durch unsere Wüsten und Dschungel, erhält uns am Leben und erzählt uns von der Quelle, aus der alles Gute fließt, und von dem Ort, wo wir einmal zu Hause waren und es irgendwann wieder sein werden: bei Gott.

Sonntag, 21. September 2014

Predigt am 21. September 2014 (14. Sonntag nach Trinitatis)

Wir ermahnen euch, liebe Schwestern und Brüder: Weist die Unordentlichen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen, seid geduldig gegen jedermann. Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach untereinander und gegen jedermann.
Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch. Den Geist dämpft nicht. Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles, und das Gute behaltet. Meidet das Böse in jeder Gestalt.
Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus. Treu ist er, der euch ruft; er wird’s auch tun.
1. Thessalonicher 5, 14-24


„Bin ich jetzt drin, oder was?“ – Da gab es mal so einen Werbespot; 15 Jahre ist das her. Da ging’s darum, wie leicht und schnell man ins Internet kommt. Und dann sitzt Boris Becker glücklich vor seinem Computerbildschirm, auf dem groß AOL steht. – Und weiter?
Damals hatten noch nicht sehr viele Leute einen Plan, was sie da drin sollten, im Internet. Ok, sie sind dann mal reingegangen, haben sich dies und das angeguckt, E-Mails abgeholt und verschickt, vielleicht mal ein paar Informationen gesucht, und dann sind sie wieder rausgegangen. Einkaufen im Internet? – Nee. Online-Banking – zu unsicher. Chatten? – Was is’n das?
Das Internet – das war ein fremder Ort, in den man sich mal für ein paar Minuten oder vielleicht auch mal eine Stunde begab – über Modem oder ISDN, und dann war man wieder draußen, im normalen Leben.
Für viele, zum Beispiel für meine Eltern, ist das heute noch so.
Für meine Kinder ist das eher komisch. Und für mich inzwischen auch. Das Internet ist kein Ort, den ich mal für kurze Zeit betrete. Das Internet ist einfach da. Da muss ich nicht erst hineingehen. Mein Computer muss sich schon lange nicht mehr einwählen ins Netz. Und ich brauche auch gar keinen Computer mehr, um drin zu sein. Das Internet ist in meiner Hosentasche. Es macht Pling, wenn ein Freund was über Facebook teilt. Es macht Pling, wenn jemand mir eine Nachricht schickt. Ich kann es fragen, wenn wir uns in einem Gespräch nicht einig sind, wie alt Roland Kaiser ist, oder Margot Käßmann (beides schon vorgekommen). Ich kann nachschauen, wo wir gerade sind oder wie wir an ein bestimmtes Ziel kommen. Es sagt mir, was das für ein Flieger ist, der da gerade über Las Galletas einschwebt – weil mich das halt interessiert. Es zeigt mir die neuesten Nachrichten und die Meinungen von Leuten, die mir wichtig sind; dafür brauche ich kein Radio, kein Fernsehen und keine Zeitung mehr. Oder anders: Radio, Fernsehen oder Zeitung habe ich auch im Internet.
Das Internet ist keine andere Wirklichkeit neben der normalen, sondern es ist ein Teil unserer Wirklichkeit. Ob wir wollen oder nicht: Wir sind drin.
„Ich bin nicht im Internet“, sagte mir jetzt jemand. Ich widersprach: Wenn du ein Bankkonto hast, eine Kreditkarte, eine Versicherung, oder wenn du schon mal geflogen bist, dann bist du auch im Internet. Was denkst du, wo die Daten über dich aufbewahrt werden?
Früher ist man reingegangen ins Internet – und wieder raus. Heute bist du drin, immer.
*
Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch. – So schreibt es der Apostel.
Früher habe ich mich gefragt, wie das gehen soll: allezeit – ohne Unterlass – in allen Dingen. Ich kann mich doch nicht immer freuen, nicht ununterbrochen beten, nicht für alles dankbar sein!
Dann habe ich gemerkt: Es ist wie mit dem Internet. Da bin ich allezeit drin, da habe ich unablässig Kontakt zur Welt, da bin ich in allen Dingen und mit allen Dingen verbunden.
In Gott bin ich auch allezeit. Unablässig in Kontakt mit ihm. In allen Dingen ihm verbunden.
Ich muss nicht erst reingehen zu Gott: In die Kirche. Oder in die Bibel. Oder zum Pfarrer.
Ich bin schon drin. Allezeit, unablässig, in allen Dingen.
*
Darum kann ich das sein: Allezeit fröhlich. – Was um mich herum geschieht, was mich erreicht und bewegt, ist nicht immer fröhlich, kann nicht immer fröhlich sein. – Aber Gott ist da, allezeit, ganz nahe. Und das macht mich froh: Freude, die von innen kommt, haben wir ganz am Anfang gesungen. In dir ist Freude in allem Leide, singen wir ein andermal wieder. Gottes Gegenwart macht mich froh; ich schalte sie nicht ab.
Darum kann ich das tun: Beten ohne Unterlass. – Es ist nicht nur das bewusste Gebet. Sondern auch das automatische Statusupdate zu Gott hin. Gott sieht mich und weiß, wo ich bin: Du kennst meine Gedanken von ferne. – Und ich weiß jeden Augenblick: Gott ist da, und kann sich bei mir melden. Ich schalte ihn nicht ab.
Darum kann ich so leben: Dankbar in allen Dingen. – Wo ich auch immer drin bin gerade, in welche Dinge ich verwickelt bin oder verstrickt: Ich bin immer auch in Gott. Ich bin immer Teil einer größeren Wirklichkeit – der allergrößten Wirklichkeit, die es gibt. Und darum bin ich gewiss, dass am Ende immer alles irgendwie gut wird. Und das macht mich dankbar. Nicht dankbar für das, was nicht gut ist. Aber dankbar dafür, dass es gut wird, weil es in Gott ist. Und ich auch. Ich bleibe in ihm.
*
Ich muss nicht immer erst an Gott denken. Gott denkt schon zuvor an mich. Und wenn ich dann an ihn denke, weil ich ihn brauche, ist er schon da.
Und wenn er mir etwas sagen will, dann macht er Pling – auf seine Weise. Und wenn ich drauf geachtet habe, dann schaue ich nach, was er von mir will.
Da ist diese Begegnung: ein Mensch, der mich offenbar braucht. Und ich habe ihn wahrgenommen, habe mich nicht verschlossen oder zurückgezogen. Habe mein Ohr geöffnet, ein gutes Wort gefunden, eine gute Tat getan. Irgendwie hat es Pling gemacht. Gottes Nachricht ist angekommen.

Da sind meine Freunde und Glaubensgeschwister. Und immerzu macht es Pling. Bei Facebook, Whatsapp, Twitter oder Skype. Und wir sind nicht nur durchs Internet verbunden, sondern durch Gottes Geist. Wir sind drin. In Christus. Und auch im Glauben miteinander verbunden. Pling.
*
Die Bibel hat einen Spezialausdruck für dieses Drin-Sein. Er steht in unserem Abschnitt und heißt: heilig.
Wer bei Gott drin ist, der ist heilig.
Gott ist heilig.
Und alles, was in Verbindung steht mit ihm, das ist heilig.
Und jeder, der mit ihm in Verbindung steht, der ist heilig.
Jeder, der sich nicht ausgeloggt hat aus der Verbindung mit Gott.
Heilig wird man nicht erst, wenn man sich viel Mühe gibt, sondern heilig ist man, wenn man bei Gott drin ist. Das bist du normalerweise schon seit deiner Taufe.
Digital Natives nennen wir die Generation, die eine Welt ohne Internet nicht mehr kennt. Unsere Kinder sind Eingeborene des Internets. Für sie ist Drinsein oder Draußensein kein Thema mehr.
Wir sind Spiritual Natives, Eingeborene des Reiches Gottes. Wir sind getauft, und Drinsein oder Draußensein, das sollte für uns gar kein Thema mehr sein.
Wir sind Heilige qua Neugeburt in der Taufe.
Und dass wir Heilige bleiben und immer noch heiliger werden, dass wir allezeit in der Verbundenheit mit Gott leben, darum kümmert er sich in erster Linie selber; jedenfalls betet der Apostel darum:
Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus.
*
Wenn wir bewusst reingehen – in die Kirche, in die Bibel, zum Pfarrer – dann werden wir eigentlich nur immer wieder neu daran erinnert, dass wir schon drin sind.
An uns ist es nur noch, hin und wieder den Status unserer Verbindung zu Gott zu überprüfen, die Nachrichten zu checken, den Ort zu bestimmen, wo wir gerade sind und uns Vorschläge machen zu lassen, wo wir hingehen sollten, mit wem wir uns befreunden sollten oder was wir uns anschauen sollten. Pling.
Den Geist dämpft nicht. – Das heißt dann: Schaltet die Verbindung zu Gott nicht ab. Bleibt drin!

Sonntag, 14. September 2014

Predigt am 14. September 2014 (13. Sonntag nach Trinitatis)

Apostelgeschichte 6, 1-7

Wir werden immer größer,
jeden Tag ein Stück,
wir werden immer größer,
das ist ein Glück!
Große bleiben gleich groß
oder schrumpeln ein.
Wir werden immer größer,
ganz von allein.
Ein Kinderlied vom Größerwerden, vom Wachsen:
Wachsen macht Spaß, größer werden ist ein Glück!
Kinder erleben es oft so:
Ich werde größer.
Ich werde selbstständiger.
Ich kann immer mehr.
Wachsen ist cool.
*
Manchmal tut Wachsen aber auch weh.
A., 14 Jahre alt, tun immer wieder die Knie weh:
Wachstumsschmerzen. Sagt er.
L., 16, genau dasselbe.
Bis vor wenigen Wochen wusste ich noch gar nicht, dass es so was wirklich gibt:
Wachstumsschmerzen.
Da geht offenbar etwas sehr schnell im Körper.
So schnell, dass nicht mehr alles mitkommt.
Da reibt und knirscht was.
Vielleicht muss sich auch die Körperchemie umstellen und kann es nicht so schnell.
Es entstehen Spannungen und Ungleichgewichte, und das verursacht Schmerzen.
Gott sei Dank, ist das nichts Ernstes!
Gott sei Dank, geht das vorbei!
Wir werden immer größer.
Manchmal tut das weh.
Aber meistens ist es ein Glück.
*
Hört Worte aus der Apostelgeschichte im 6. Kapitel:
In jenen Tagen, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Klagen unter den griechisch sprechenden Juden gegen die hebräisch sprechenden: bei der täglichen Versorgung würden ihre Witwen übersehen. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: „Es ist nicht recht, dass wir uns um den Tischdienst kümmern und dabei das Wort Gottes vernachlässigen…“

Wachstumsschmerzen in der jungen christlichen Gemeinde in Jerusalem.
Da sangen sie eben noch miteinander: Wir werden immer größer.
Und waren ein Herz und eine Seele,
und teilten miteinander, was sie hatten,
und keiner hatte Mangel (Apg 4,32).
Aber auf einmal tut es weh.
Es reib und knirscht:
Spannungen und Ungleichgewichte im wachsenden Leib Christi.
Wir kommen zu kurz.
Unsere Leute, unsere Witwen, die Ärmsten und Schwächsten, die werden übersehen.
Das ist ungerecht.
Das ist unchristlich.
Ja, von Ausländerfeindlichkeit und Arroganz der Alteingesessenen ist die Rede.
Der griechische Teil der Gemeinde rebelliert.
Und die Gemeindeleitung?
Fühlt sich überfordert:
Wir können uns nicht noch um die Sozialarbeit kümmern, sagen die Apostel.
Wir sind für die geistlichen Dinge zuständig.
Die einen sagen: Wir werden übersehen.
Die anderen sagen: Wir haben die Übersicht verloren.
*
Ich beneide die Apostel nicht um diese Probleme.
Aber dann denke ich: Ich sollte sie wohl beneiden.
Nach ihren Problemen sollte ich mich sehnen.
Denn es sind Wachstumsprobleme.
Sie zeigen an, dass es voran geht.
Was gestern noch funktioniert hat, funktioniert heute nicht mehr.
Nicht, weil es schlecht ist, sondern weil es nicht mehr gut genug ist.
Nicht gut genug für das, was in der Zwischenzeit herangewachsen ist.
Und weiter wachsen will. Ja, sollte ich mir das wirklich wünschen: Eine Gemeinde, die klagt und murrt? – Wenn das Klagen Zeichen von Wachstum ist, dann wohl schon.
*
Wachsen, das bedeutet nicht nur größer werden – quantitatives Wachstum.
Wachsen heißt vor allem auch reifer werden – qualitatives Wachstum.
Die Wachstumsschmerzen von Jugendlichen, nicht nur die körperlichen, sondern auch all die anderen Spannungen, Ungleichgewichte und Konflikte zwischen Zwölf und Zwanzig, haben vor allem damit zu tun, dass sie zu Erwachsenen reifen.
*
Die junge christliche Gemeinde ist an ihren Konflikten, Ungleichgewichten und Konflikten gereift. Sie ist nicht beim Klagen stehen geblieben, damals.

Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: „Es ist nicht recht, dass wir uns um den Tischdienst kümmern und dabei das Wort Gottes vernachlässigen. Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um in eurer Mitte nach sieben Männern , die einen guten Ruf haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir für diesen Dienst beauftragen wollen. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.“ Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut.

Wenn die einen übersehen werden und die anderen die Übersicht verloren haben, dann ist es Zeit für eine neue Sicht.
Die Apostel sagen: Seht euch um!
Ihr vielen seid umsichtiger als wir wenigen!
Seht euch um nach Leuten mit Umsicht und Übersicht, mit heiligem Geist und mit Weisheit.
Wir erleben die Geburtsstunde der Demokratie in der Kirche.
Nicht das Apostel- oder Bischofskollegium entscheidet, sondern die Gemeindeversammlung.
Gerade auch in Personalfragen.
Wir erleben die Differenzierung von Diensten und Verantwortlichkeiten in der Gemeinde:
der Dienst des Wortes und der Dienst der tätigen Liebe,
die geistliche Verantwortung und die sozialdiakonische Verantwortung.
Und beides heißt: Diakonia. Dienst.
Beides hat mit Glaube und Liebe zu tun.
Der Dienst am Glauben soll in Liebe geschehen.
Der Dienst der Liebe soll im Glauben geschehen.
Und alles soll im heiligen Geist und mit Weisheit geschehen.
*
Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut. Und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, einen Proselyten aus Antiochia. Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten die Hände auf sie.

Gemeindewahl.
Und weitere Konflikte sind vorgezeichnet.
Denn die Wahl ist eine schallende Ohrfeige für die Gemeindeleitung, die Apostel:
Ausnahmslos alle, die da gewählt werden, gehören dem griechischen Gemeindeteil an; denen also, die sich beklagt hatten.
Nun stehen sie sich gegenüber: hebräische Apostel, griechische Diakone.
Kann das gut gehen?
Die Apostel akzeptieren die Wahl und tun, was ihres Amtes ist:
Führen die Gewählten mit Gebet und Handauflegung in ihren Dienst ein.
Und akzeptieren es, dass nun auch andere was zu sagen haben.
Können es vielleicht sogar als Gewinn ansehen, dass andere eine andere Sicht einbringen.
Und sind dankbar, dass ihnen Verantwortung abgenommen ist.
Dem Wachsen der Gemeinde tut es gut:
Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem.

Wir werden immer größer, können sie wieder singen.
Größer an Zahlen.
Und reifer im Geist.
Die Schmerzen sind überwunden – vorerst,
und sie wachsen weiter.
Wachsen gemeinsam.
Wachsen zusammen.
*
Nicht alle Schmerzen sind Wachstumsschmerzen.
Viel häufiger sind Schmerzen, die dem Verschleiß, dem Älterwerden, dem Zusammenschrumpfen geschuldet sind.
Und wenn wir gerade keine Schmerzen spüren, dann kann das heißen, entweder dass wir erwachsen und gesund sind – oder aber schon tot.
*

Wir werden immer größer.
Wachsen, größer werden ist ein Glück.
Ich glaube, dass wir, so lange wir leben, wachsen sollen: reifer werden.
Auch und gerade in Schmerzen und Konflikten.
Als Kirche und Gemeinde.
Als Menschen und Christen.