Sonntag, 30. November 2014

Predigt am 30. November 2014 (1. Sonntag im Advent)

Als sie nahe an Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus und sprach zu ihnen: „Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt, und gleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir! Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: ,Der Herr bedarf ihrer.‘ Sogleich wird er sie euch überlassen.“ Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: ,Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.‘
Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf. Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Die Menge aber, die ihm voranging und nachfolgte, schrie: „Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“
Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und fragte: „Wer ist der?“ Die Menge aber sprach: „Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa.“
Matthäus 21, 1-11


Reiten ist äußerst beliebt. Meine Tochter reitet seit vielen Jahren. Und hat ein eigenes Pferd. Ein Pferd, keinen Esel.
Wisst ihr wie viele Pferde es in Deutschland gibt? … -> 1,2 Millionen. Die Zahl der Pferde hat sich in den letzten 40 Jahren vervierfacht. Vor allem, weil so gerne geritten wird. In Spanien gibt es ca. 725.000 (wir leben ja in Spanien – da habe ich die Zahl auch mal recherchiert).
Und wisst ihr wie viele Esel es in Deutschland gibt? … -> 7.000. (Oder vielleicht doch ein paar Millionen?) In Spanien: 75.000. – Also mehr Esel in Spanien als in Deutschland. Aber natürlich immer noch viel weniger als Pferde.
Esel sind eine kleine benachteiligte Minderheit – im Vergleich zu ihren großen Verwandten.
Esel wurden jahrhunderte-, was sage ich, jahrtausendelang als Arbeitstiere gehalten. Sie zogen Wagen, sie trugen Säcke und Waren. Bei unseren Bergwanderungen in Rumänien vor 30 Jahren haben wir manchmal Eselskarawanen gesehen, die auf den schmalen Gebirgspfaden Lebensmittel zu den Bergütten brachten. Mit anderen Transportmitteln kam man dort nicht hin.
Esel sein war nie einfach. Die Arbeit war hart. Heute weiß man: meistens zu hart für die Konstitution eines Esels. Und gegenüber einem stolzen Ross sah der Esel immer grau und ärmlich aus.
Die Zeiten der Esel sind vorbei. Die Zahlen sprechen für sich. Pferde braucht man als Reittiere. Esel braucht man eigentlich gar nicht. Als Arbeitstiere werden sie nicht mehr benötigt und für den Reitsport sind sie ungeeignet.

Reiten war schon immer beliebt. Wenn wir als Kinder mit der Straßenbahn nach Dresden fuhren kamen wir in der Neustadt am Goldenen Reiter vorbei. Ein vergoldetes Reiterstandbild des sächsischen Königs August des Starken. Auch heute noch ein massiges und imposantes Standbild. Könige, Fürsten und andere Herrscher ließen sich immer gerne hoch zu Ross darstellen.
Wahrscheinlich gab es in der ganzen Weltgeschichte nur einen, der sich als König verehren ließ und dabei auf einem Esel ritt. Wir haben gerade von ihm gehört.

Lasst uns von ihm singen:
1. Nun jauchzet all ihr Frommen, zu dieser Gnadenzeit, weil unser Heil ist kommen, der Herr der Herrlichkeit, zwar ohne stolze Pracht, doch mächtig zu verheeren und gänzlich zu zerstören des Teufels Reich und Macht.
2. Er kommt zu uns geritten auf einem Eselein und stellt sich in die Mitten für uns zum Opfer ein. Er bringt kein zeitlich Gut, er will allein erwerben durch seinen Tod und Sterben, was ewig währen tut.

Die Geschichte Jesu ist eine richtige Eselsgeschichte. Schon bevor er geboren wurde, zogen Maria und Josef mit einem Esel von Nazareth nach Bethlehem. Zur Volkszählung. Ihr kennt die Weihnachtsgeschichte. Und die Bilder mit dem Esel. – Nur, dass davon nichts in der Bibel steht. Wir stellen uns das halt so vor.
Und als Jesus geboren war, da blickte er so ziemlich als erstes einem Esel ins Gesicht. Der soll da zusammen mit einem Ochsen im Stall von Bethlehem gestanden haben. – Freilich: auch darüber steht in Wahrheit kein Wort in der Bibel.
Oder doch? – Beim Propheten Jesaja (Jesaja 1,3) heißt es: Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt’s nicht und mein Volk versteht’s nicht. – Das war natürlich ursprünglich ganz anders gemeint: Als Gleichnis für das Volk Israel – 800 Jahre zuvor. Die Christen meinten dann bei der Geburt im Stall, habe sich dieses Wort erfüllt, und so müssten da Ochse und Esel an der Krippe gestanden haben. – Und so ist es nun bis auf den heutigen Tag bei allen unseren Weihnachtskrippen: Ein Ochse und ein Esel sind immer dabei.
Und ich finde das auch gut so. Sie stehen da zeichenhaft für uns Menschen. Wir sind auch manchmal ziemliche Ochsen oder Esel. Aber wenn wir Weihnachten an der Krippe unseres Herrn stehen, dann sind wir da in guter Gesellschaft. Alles ist gut. Denn Jesus ist gerade auch für Ochsen und Esel wie wir gekommen.

Lasst uns ein paar Strophen von einem Weihnachtslied singen, wo Rind und Esel mit drin vorkommen...
9. Ach Herr, du Schöpfer aller Ding, wie bist du worden so gering, dass du da liegst auf dürrem Gras, davon ein Rind und Esel aß.
10. Und wär die Welt vielmal so weit, von Edelstein und Gold bereit', so wär sie doch dir viel zu klein, zu sein ein enges Wiegelein.
11. Der Sammet und die Seiden dein, das ist grob Heu und Windelein, darauf du König groß und reich herprangst, als wär's das Himmelreich.
12. Das hat also gefallen dir, die Wahrheit anzuzeigen mir, wie aller Welt Macht, Ehr und Gut vor dir nichts gilt, nichts hilft noch tut.

Ja, da haben wir den Bogen zur Geschichte vom Eselsritt nach Jerusalem: Das ganze Leben Jesu sieht alles andere als königlich aus. Es beginnt in der Krippe und endet am Kreuz. Für die einen ist es eine richtige Eselsgeschichte, für die anderen Gottes Geschichte.

Für viele ist die Geschichte Jesu eine richtige Eselsgeschichte.
Bald nachdem Jesus auf dem Esel in Jerusalem eingeritten war, haben die meisten, die ihm da noch zugejubelt hatten, schon geglaubt, dass das Ganze doch eine große Eselei war. Jesus war ein Esel. Weil er provozierte. Er begab sich in die Höhle des Löwen – Jerusalem, wo die Mächtigen saßen, die mächtigen Hohenpriester und die mächtigen Römer. Und da kam er an und sagte mit dem Eselsritt: „Hallo, ich bin der verheißene König, der Messias. Ich habe nur nichts, womit ich das beweisen kann, und keine Bataillone, mit denen ich das durchsetzen kann.“ Das konnte nicht gut gehen. Und es ging ja auch nicht gut. Keine Woche verging, und der König war tot.
Wer auf einem Esel reitend König sein will, ist ein Esel. Wer sich für seinen Glauben kreuzigen lässt, ist ein Esel. So haben viele gedacht.
Unter den Trümmern Roms hat man ein Spottbild gefunden, in die Wand geritzt: Ein Kreuz, daran ein Mann mit Eselskopf, davor ein anderer Mensch, und darunter in ungelenken Buchstaben: „Alexamenos betet seinen Gott an.“ Ein Spottbild aus dem 2. Jahrhundert. So hat jemand den christlichen Glauben wahrgenommen: Ein Gott, der sich kreuzigen lässt – das kann nur ein Esel sein. Und einer, der diesen Gott anbetet – naja...
So oder so ähnlich reden sie heute noch – oder wieder – über Jesus und den christlichen Glauben: Ein Esel, wer sich aufs Kreuz legen lässt. Ein Esel, wer an so einen Gott glaubt.

Wir anderen sagen, was wir auch gesungen haben:
Genau so hat es Gott gefallen: Er zeigt, dass all die Goldenen Reiter, all die Reichen, Schönen und Mächtigen nichts weiter sind als arme Esel, die sich vor dem wahren König in der Krippe und am Kreuz beugen müssen.
Der bekannteste König der Weltgeschichte, der einzig wahre König ist am Ende der, der auf dem Esel geritten kam. Alle anderen sind untergegangen, mehr oder weniger vergessen. Ihre Königreiche sind zerfallen, ihre Imperien untergegangen.
Ihm dienen Millionen und Milliarden von Menschen. Bis heute. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Darum mag man uns für weltfremde Esel halten. Aber da sind wir in guter Gesellschaft.

1. Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir, ja er kommt, der Friedefürst. Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem!
2. Hosianna, Davids Sohn, sei gesegnet deinem Volk! Gründe nun dein ewig Reich, Hosianna in der Höh! Hosianna, Davids Sohn, sei gesegnet deinem Volk!

3. Hosianna, Davids Sohn, sei gegrüßet, König mild! Ewig steht dein Friedens­thron, du des ewgen Vaters Kind! Hosianna, Davids Sohn, sei gegrüßet, König mild!

Sonntag, 23. November 2014

Predigt am 23. November 2014 (Ewigkeitssonntag)



Eins aber sei euch nicht verborgen, ihr Lieben, dass ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag. Der Herr verzögert nicht die Verheißung, wie es einige für eine Verzögerung halten; sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann Buße finde. Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb; dann werden die Himmel zergehen mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden ihr Urteil finden. Wenn nun das alles so zergehen wird, wie müsst ihr dann dastehen in heiligem Wandel und frommem Wesen, die ihr das Kommen des Tages Gottes erwartet und erstrebt, an dem die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze schmelzen werwden. Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.
2. Petrus 3, 8-13



Blick von unserem Balkon am Morgen des Ewigkeitssonntags: der Conde und der Himmel.

1. Die güldne Sonne / voll Freud und Wonne / bringt unsern Grenzen / mit ihrem Glänzen / ein herzerquickendes liebliches Licht. / Mein Haupt und Glieder, / die lagen darnieder; / aber nun steh ich, / bin munter und fröhlich, / schaue den Himmel mit meinem Gesicht. (EG 449)


Jeden Morgen stehe ich an der Balkonbrüstung. Schaue in den Morgen. Genieße das Morgenlicht. Den Blick auf den Conde, den Blick auf den Atlantik, La Gomera. Den Blick in den Himmel. Manchmal klar und licht und blau. Manchmal wolkenbedeckt, manchmal ganz dunstig, so dass man die Insel da drüben gar nicht mehr sieht. Aber fast immer: Herzerquickendes liebliches Licht.
Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus deinen lieben Sohn, dass du mich diese Nacht vor allem Schaden und Gefahr behütet hast…
Ich stehe da, munter und fröhlich, und spreche Luthers Morgensegen. Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.
Aufstehen ist wie Auferstehen. Oder umgekehrt: Auferstehen ist wie Aufstehen. Davon singt Paul Gerhardts Morgenlied.


Jeden Morgen sitze ich dort auf dem Balkon am Frühstückstisch, und bei Kaffee und Toast lese ich die Nachrichten und Kommentare, die mir das Internet zusammenstellt. Lebenszeichen von Freunden auf Facebook. Und die Meldungen und Kommentare zum Weltgeschehen.
Weltgeschehen – das heißt fast täglich: Menschen sterben. Prominente - weil sie alt genug sind zum Sterben. Kranke – weil es keine Möglichkeiten gibt, sie zu heilen. Christen, im Irak oder in Nigeria – weil sie Christen sind. Juden, in Jerusalem oder anderswo – weil sie Juden sind. Ukrainer oder Russen – weil sie für ihr Vaterland kämpfen – kämpfen wollen, oder müssen.
Weltgeschehen – das heißt immer: Menschen sterben. Und so lange Menschen sterben, sind Menschen unglücklich. Weil sie sich sorgen um die, die sterben müssen und deren Sterben sie nicht verhindern können. (Manchmal hinauszögern, ein wenig, immerhin.) Weil sie die vermissen, die gestorben sind. Weil sie sich ängsten darum, dass sie selber sterben müssen. Weltgeschehen – das ist im Grunde genommen der Kampf um so viel Leben wie möglich, und am Ende müssen doch alle sterben.
Ich sitze auf dem Balkon und werde auch ein bisschen unglücklich, weil so viel gestorben wird. Schon wieder. Immer noch. Weit weg. Und doch nahe. Unausweichlich.
Ich habe das Gefühl: Ich müsste aufstehen. Etwas tun gegen das viele Sterben. Und kann es doch nicht. Meine Möglichkeiten sind begrenzt. Dem Tod ist nicht beizukommen. So lange weiter Weltgeschehen geschieht.
Und so bleibe ich sitzen. Warte ab. Warte, was dieser Tag bringen mag. Warte, was die Zukunft bringen mag. Warte auf eine neue Welt ohne das tödliche Weltgeschehen.
Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.


2. Mein Auge schauet, / was Gott gebauet / zu seinen Ehren / und uns zu lehren, / wie sein Vermögen sei mächtig und groß, / und wo die Frommen / dann sollen hinkommen, / wann sie mit Frieden / von hinnen geschieden / aus dieser Erden vergänglichem Schoß.


Wenn ich in den Himmel sehe, dann sehe ich luftiges Blau, wolkiges Weiß, regnerisches Grau. Ich sehe alle Schattierungen von Gelb, Orange, Rot und Violett, wenn die Sonne die Wolken bescheint. Licht, Luft, Wasser – daraus ist mein Himmel gemacht.
Paul Gerhardt, der Liederdichter hat den Himmel mit anderen Augen angesehen: als Zelt, als Kuppel, als massives Gebilde über der Erde. „Feste“ hatte Luther das biblische Wort übersetzt; „Firmament“ sagen wir manchmal noch – da steckt auch das Wort „fest“ drin. Darum: Mein Auge schauet, was Gott gebauet: das Himmelsgebäude.
Und in diesem Gebäude, irgendwo oberhalb der sichtbaren Kuppel, da müsste dann der Ort sein, wo die Frommen, dann sollen hinkommen, wann sie mit Frieden von hinnen geschieden.
Ja, früher war es noch einfach sich das vorzustellen, dass wir in den Himmel kommen. Für uns hat sich dieser Himmel in blauen Dunst aufgelöst. Und darum ist es uns so schwerer zu glauben, dass unsere Verstorbenen dorthin kommen, in den Himmel.
Und doch haben wir dieses Wort nicht aufgegeben: den Himmel – Gottes Himmel. Über allen sichtbaren Himmeln. Und über allen gefühlten Himmeln. Selbst noch über dem siebenten.
Wenn ich in den Himmel sehe, dann ahne ich etwas von dem, der Himmel und Erde, Wolken, Luft und Winde, Sonne, Mond und Galaxien gemacht hat. Und dessen Himmel noch weit über allen Himmeln ist, die wir uns vorstellen können, der ewig über allem Weltgeschehen ist und wo nicht gestorben wird.


7. Menschliches Wesen, / was ist’s gewesen? / In einer Stunde / geht es zugrunde, / sobald das Lüftlein des Todes drein bläst. / Alles in allen / muss brechen und fallen, / Himmel und Erden / die müssen das werden, / was sie vor ihrer Erschaffung gewest.


Weltgeschen: Menschen sterben. Der Todeshauch weht.
Alles wird ein Ende haben. Wann auch immer. Wie auch immer. Die Apokalypse.
Alle Szenarien sind schon durchgespielt. Auf der Leinwand zumindest. Atomkrieg. Klimakollaps. Killer-Viren. Asteroideneinschlag. Alien-Invasion.
Alle Szenarien sind schon durchgespielt. Auch schon auf den Seiten der Heiligen Schrift:
Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb; dann werden die Himmel zergehen mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden ihr Urteil finden.
Die Apokalpyse. Da ist das Weltgeschehen am Ende. Die Weltgeschichte endet im Weltgerichte.
Es wird nicht mehr gestorben. Weil alle tot sind.


8. Alles vergehet, / Gott aber stehet / ohn alles Wanken; / seine Gedanken, / sein Wort und Wille hat ewigen Grund. / Sein Heil und Gnaden, / die nehmen nicht Schaden, / heilen im Herzen / die tödlichen Schmerzen, / halten uns zeitlich und ewig gesund.


Das Ende der Geschichte: Alles vergehet. Der Tod hat das letzte Wort.
Nein, hat er nicht. Nur das vorletzte. Wenn alles vergeht, dann auch der Tod, auch das Sterben. Der Tod ist tot.
Und der lebendige Gott steht. Besteht. Übersteht das Ende der Geschichte. Denn er steht über der Geschichte. Ewig. Ohne alles Wanken.
Und wir mit ihm. Wenn der Tod tot ist, dann lebt alles, was gestorben ist. Mit Gott, aus Gott, in Gott. Zeitlich und ewig.


Liebe Schwestern und Brüder,
jeden Morgen stehe ich an der Balkonbrüstung. Schaue in den Morgen. Genieße das Morgenlicht. Den Blick in den Himmel.
Manchmal denke ich: Wenn dieser Himmel mit seinem luftigen Blau und wolkigen Weiß schon so wunderbar ist – wie mag dann erst Gottes Himmel sein!
Wenn die Berge und das Meer und die Insel da drüben so wunderschön sind im Licht eines ganz normalen Morgens – wie mag dann erst der Morgen sein, wenn ich aus dem Tod aufstehe.
Auferstehen ist wie aufstehen. Ich lebe. Und der Tod ist tot.
Ich sitze auf dem Balkon und fühle mich ein bisschen glücklich. Weil ich darauf hoffe und warte, dass das so sein wird: Der Tod ist tot, und es wird nicht mehr gestorben wird.
Wir warten auf eine neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.
Oder mit den Worten von Paul Gerhardt:
12. Kreuz und Elende, / das nimmt ein Ende; / nach Meeresbrausen / und Windessausen / leuchtet der Sonnen gewünschtes Gesicht. / Freude die Fülle / und selige Stille / wird mich erwarten / im himmlischen Garten; / dahin sind meine Gedanken gericht’.

Sonntag, 16. November 2014

Predigt am 16. November 2014 (Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres)

Der Körper, in dem wir hier auf der Erde leben, gleicht einem Zelt, das eines Tages abgebrochen wird. Doch wir wissen: Wenn das geschieht, wartet auf uns ein Bauwerk, das nicht von Menschenhand errichtet ist, sondern von Gott, ein ewiges Haus im Himmel. In unserem irdischen Zelt seufzen wir, weil wir uns nach der Wohnung sehnen, die aus dem Himmel stammt, und am liebsten würden wir den neuen Körper wie ein Gewand direkt über den alten anziehen. Denn nur dann, wenn wir den neuen Körper angezogen haben, werden wir nicht unbekleidet dastehen. Ja, solange wir noch in unserem irdischen Zelt wohnen, wo so vieles uns bedrückt, seufzen wir voll Sehnsucht, denn wir möchten den jetzigen Körper am liebsten gar nicht erst ablegen müssen, sondern den zukünftigen unmittelbar darüber anziehen. Auf diese Weise würde das, was sterblich ist, sozusagen vom Leben verschlungen. Gott selbst hat uns auf dieses neue Leben vorbereitet, indem er uns seinen Geist als Unterpfand und Anzahlung gegeben hat.
Deshalb kann nichts und niemand uns unsere Zuversicht nehmen. Wir wissen zwar: Solange dieser Körper noch unser Zuhause ist, sind wir fern vom Herrn, denn unser Leben hier auf der Erde ist ein Leben des Glaubens und nicht des Schauens. Und doch sind wir voll Zuversicht, und unser größter Wunsch ist, das Zuhause unseres irdischen Körpers verlassen zu dürfen und für immer daheim zu sein. Daher haben wir auch nur ein Ziel: so zu leben, dass er Freude an uns hat – ganz gleich, ob wir schon bei ihm zu Hause oder noch hier in der Fremde sind. Denn wir alle müssen einmal vor dem Richterstuhl von Christus erscheinen, wo alles offengelegt wird, und dann wird jeder den Lohn für das erhalten, was er während seines Lebens in diesem Körper getan hat, ob es nun gut war oder böse.
2. Korinther 5, 1-10 (NGÜ)


Sommer 1987. Rumänien. Es ist kalt. Es regnet. Und wir haben nur ein Zelt. Ein winziges Zwei-Mann-Zelt. (Zwei-Personen-Zelt müsste es wahrscheinlich heute heißen; ich war ja auch nicht mit einem Mann unterwegs, sondern mit meiner Freundin.) Zwei Isomatten, zwei große Rucksäcke und zwei Menschen müssen darin Platz finden, in diesem Zelt. Und es ist kalt. Es regnet. An den Nähten sickert Wasser ein. Jede Berührung der Zeltwand ist nass. Nur in den Schlafsäcken drin ist es noch einigermaßen warm und trocken. Wir kuscheln uns aneinander. Nur nicht zu sehr bewegen – damit es nicht tropft und die Nässe nicht eindringt bis unter die Haut.
Scheußlich! Aber wir haben es so gewollt. Abenteuerurlaub mit einer Behelfsbehausung.
Und herrlich! Es ist kalt, und es regnet, und wir haben ein Dach über dem Kopf. Wie dünn und unvollkommen auch immer.
Vier Wochen später sitze ich wieder in meiner Studentenbude. Naumburg. Altstadt. 1987. Wenn sie so eine „Wohnung“ an einen Studenten vermieteten, dann nur deshalb, weil kein normaler Mensch mehr dort einzog; auch nicht für 13 Mark Miete. Durch die Fensterritzen pfiff der Wind. Der Putz fiel von den feuchten Wänden. Trotz billiger Braunkohle im Dauerbrandofen hatte ich immer kalte Füße. Und warmes Wasser zum Waschen musste ich mir mit dem Tauchsieder machen; an eine Dusche oder Badewanne war nicht zu denken. (Wissen unsere Kinder eigentlich noch, was ein Tauchsieder ist?)
Scheußlich! Wenn man sich das heute so überlegt.
Und herrlich! Die erste eigene Bude. Nächte mit viel Rotwein, Zigarettenqualm und heißen Diskussionen über Gott und die Welt. Und keiner, den das stört.
Viele Jahre sind vergangen. Wir machen schon lange keinen Urlaub mehr im Zelt. Mit dem Wohnwagen haben wir es noch manchmal versucht. Meistens bevorzugen wir dann doch ein Hotel oder Ferienhaus. Trocken, warm, sicher, teuer.
Und umgezogen sind wir auch oft genug. Immer größer, bequemer und komfortabler sind unsere Wohnungen geworden. Nur kalte Füße habe ich selbst hier auf Teneriffa noch.
*
Liebe Schwestern und Brüder,
für diesen Gottesdienst am Ende des Kirchenjahres habe ich im Gesangbuch die Lieder durchgeblättert zum Thema „Sterben und Ewiges Leben“. Und ich war überrascht, wie wenig es da gibt, was wir mit unserem Lebensgefühl von heute noch gut singen können.
Ich wollt, dass ich daheime wär
und aller Welte Trost entbehr.
Ich mein, daheim im Himmelreich,
da ich Gott schaue ewiglich.
(EG 517)
Wer von uns verspürt denn noch diese Sehnsucht nach dem Himmelreich?
Freu dich sehr, o meine Seele,
und vergiss all Not und Qual,
weil dich nun Christus, der Herre,
ruft aus diesem Jammertal…
(EG 524)
Wer von uns sieht diese unsere Welt denn noch als Jammertal an?
Und dann bin ich auf das Lied gestoßen: Ich bin ein Gast auf Erden.
Ich konnte mich irgendwie nicht entschließen, es als Predigtlied (EG 529) auszuwählen, obwohl es gut passt:
So will ich zwar nun treiben
mein Leben durch die Welt,
doch denk ich nicht zu bleiben
in diesem fremden Zelt.
Ich wandre meine Straße,
die zu der Heimat führt,
da mich ohn alle Maße
mein Vater trösten wird.
Mein Leben in der Welt – ein Zelturlaub. Und danach dann erschöpft und glücklich endlich zu Hause.
Wo ich bisher gesessen,
ist nicht mein rechtes Haus.
Wenn mein Ziel ausgemessen,
so tret ich dann hinaus;
und was ich hier gebrauchet,
das leg ich alles ab,
und wenn ich ausgehauchet.
so scharrt man mich ins Grab.
Mein Lebenshaus – nur eine provisorische Bruchbude. Am Ende muss ich ausziehen. Sie wird abgerissen. Und mir bleibt – nichts.
Ich konnte mich irgendwie nicht entschließen, das als Predigtlied zu singen: … so scharrt man mich ins Grab.
*
Wir wollen das nicht. Und darum singen wir so was auch nicht gerne.
Wir wollen das nicht. Wir hängen an dem, was wir haben. Besser ein wackliges Zelt als gar kein trockenes Plätzchen in dieser Welt. Besser eine runtergekommene Bruchbude als gar kein Dach über dem Kopf.
Wir wollen das nicht. Wir wollen unsere Zelte nicht abbrechen. Wir wollen unsere Häuser nicht verlassen. Wir wollen nicht ins Grab gescharrt werden.
Nein, wir tun alles, um unsere irdische Behausung lange und gut zu erhalten. Die Gesundheit ist für uns geradezu zum höchsten Gut geworden: Hauptsache gesund!
Realistisch ist das nicht. Ein Zelt hält nun mal nicht ewig.
*
Der Apostel Paulus wusste, wovon er schreibt: er war von Beruf Zeltmacher. Er nähte Zelte und Markisen zum Schutz vor Sonne und Regen. Er nähte Militärzelte für die Soldaten im Felde. Und so gut die Zelte auch waren, die er herstellte – er wusste, dass sie nur wenige Jahre halten würden.
Der Apostel Paulus wusste, wovon er schreibt: er war gesundheitlich nicht auf der Höhe. Und er mutete sich allerhand zu auf den weiten Reisen, wo es tagelang über Stock und Stein ging, über Berge und durch Flüsse und wo hinter jeder Wegbiegung Räuber lauern konnten. Er mutete sich gefährliche Schiffsreisen zu. Er mutete sich die fremden Menschen in den Städten zu, die ihm im besten Falle skeptisch begegneten, ihn manches Mal aber anzeigten, verhaften oder auspeitschen ließen oder gleich mit Steinen bewarfen. Er wusste, dass sein Körper das bei seiner schwachen Konstitution nur wenige Jahre durchhalten würde.
Aber er wusste eben auch, dass ein Zelt kein Wohngebäude für immer ist. Und dass der Leib des Menschen nicht für die Ewigkeit bestimmt ist.
*
Wir wissen das auch. Nur es gefällt uns nicht. Weil wir uns nicht vorstellen können, wie ein besseres Gebäude als dieses unser irdisches Lebenshaus aussehen könnte.
Wir wissen, was wir haben. Wir kennen die Häuser, in denen wir zu Hause sind. Wir sind heimisch in dieser Welt. Wir hängen an ihr. Oft genug ist sie kalt und ungemütlich. Ja, grausam und entsetzlich. Wir bekommen kalte Füße und finden es scheußlich! Und dann ist sie doch wieder warm und wunderbar. Wir kuscheln uns aneinander, ohne uns zu sehr zu bewegen, damit die Kälte nicht unter unsere Decke kriecht. Wir trinken Rotwein und diskutieren über Gott und die Welt. Und finden es herrlich.
Das haben wir. Und das werden wir zurücklassen. Das, was scheußlich ist. Das, was herrlich ist.
*
Der Apostel Paulus kannte einen, der wusste zu reden von den Wohnungen im Hause seines Vaters. Einen, dessen irdische Behausung schon abgerissen worden war. Ziemlich brutal sogar. Paulus wusste: Er ist schon dort, wo wir einmal sein sollen, wenn wir hier unsere Zelte abbrechen müssen. Er ist schon dort und hat alles vorbereitet: dort, in der himmlischen Wohnanlage Gottes.
Wir können uns das noch nicht vorstellen. Aber eines ist uns schon versprochen: Mit den Scheußlichkeiten dieser Welt wird es ein Ende haben. Und mit den Herrlichkeiten des Himmels wird es kein Ende haben.
*
Ich konnte mich nicht entschließen, das als Predigtlied zu singen. Wegen dem Verscharren im Grab. Aber es geht ja weiter:
Du aber meine Freude,
du meines Lebens Licht,
du ziehst mich, wenn ich scheide,
hin vor dein Angesicht
ins Haus der ewgen Wonne,
da ich stets freudenvoll
gleich wie die helle Sonne
mit andern leuchten soll.



Sonntag, 9. November 2014

Predigt am 9. November 2014 (Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres)

Von den Zeiten und Stunden ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen werden: „Es ist Friede, es hat keine Gefahr“ –, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entfliehen. Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. Denn die schlafen, die schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil. Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. Darum ermahnt euch untereinander, und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.
1. Thessalonicher 5, 1-11


9. November. Eine schlaflose Nacht. SA-Leute und NSDAP-Anhänger zogen zu den Synagogen und jüdischen Geschäften, schlugen Scheiben ein, plünderten die Läden, zündeten die Gotteshäuser an.
Eine schlaflose Nacht für die, denen die Geschäfte gehörten, für die, die sich in den Synagogen zu versammeln pflegten, oder vielleicht auch nur noch ganz selten dahingingen. Sie standen dabei, Angst und Entsetzen in ihren Gesichtern: Was sie hatten und was sie waren, ging vor ihren Augen in Flammen auf. Was sollte das noch werden?
Eine schlaflose Nacht für die Nachbarn, die den Lärm hörten, die Flammen sahen, und die grölende Menge. Einige liefen runter auf die Straße, machten mit. Endlich konnten sie es dem jüdischen Pack zeigen. Andere kriegten es mit der Angst zu tun: Angst um ihre Nachbarn und Freunde, Angst um ihr Deutschland: Was sollte das noch werden? Und viele, vielleicht die meisten, fühlten sich einfach nur gestört von dem Lärm da draußen. Sie machten die Fensterläden zu und versuchten weiter zu schlafen.
Eine schlaflose Nacht für den Polizeioberleutnant Wilhelm Krützfeld, den Leiter des Polizeireviers am Hackeschen Markt, Berlin. An der großen Synagoge in der Oranienburger Straße hatten sich SA-Männer versammelt und schon Feuer gelegt. Mit ein paar Männern aus seinem Revier war er schnell zur Stelle  und trat den SA-Leuten entgegen. Die vorgehaltene Pistole in der einen Hand, in der anderen eine Bescheinigung, dass das Gebäude unter Denkmalschutz stehe. Einer seiner Leute hatte inzwischen schon die Feuerwehr gerufen. So blieb an dieser Stelle der Schaden gering.
Wilhelm Krützfeld konnte den Naziterror nicht aufhalten, natürlich nicht. Aber er hatte gezeigt, dass man ihm entgegentreten konnte. Dass man den Mächten der Finsternis nicht einfach wehrlos ausgeliefert war. Er wurde weder verhaftet noch entlassen.
*
Der Apostel Paulus schreibt: Ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.
*
9. November. Eine schlaflose Nacht. In den Abendstunden meldeten Rundfunk und Fernsehen, die DDR würde sämtliche Reisebeschränkungen nach Westdeutschland und Westberlin aufheben. Die Mauer sei damit offen. Und die Menschen in Berlin wollten herausbekommen, ob das stimmt, gingen oder fuhren zu den Grenzübergängen und trafen – auf geschlossene Tore. Bis dann zunächst doch einzelne durchgelassen wurden und dann irgendwann die Tore ganz aufgingen und die Menschen aus Ost- nach Westberlin strömten. Über die Grenze, die über 28 Jahre lang für sie hermetisch dicht gewesen war, wo über 100 Menschen beim Versuch, in den Westen zu gelangen, ums Leben gekommen waren, die meisten erschossen. Zu Fuß, mit Fahrrädern und mit Autos strömten sie in dieser Nacht in den anderen Teil der Stadt, der für die allermeisten immer in Sichtweite nahe gewesen war und doch unerreichbar fern. Und jetzt waren sie da. Menschen lagen sich in den Armen, weinten, tanzten, feierten. Die ganze Nacht.
Andere hatten diese Nacht verschlafen und rieben sich am Morgen verwundert die Augen, als sie das Radio anmachten oder das Fernsehen, oder Nachbarn, Kollegen und Freunde trafen. Ich gehöre auch zu denen: Ich hatte am Abend wohl die Nachrichten von der Schabowski-Pressekonferenz gehört. Aber da hieß es, dass DDR-Bürger jetzt Visa beantragen und direkt in den Westen ausreisen konnten. Danach hätte man zum Volkspolizeikreisamt gehen sollen und hätte irgendwann ein Reisevisum bekommen. Schön. Das war ein Fortschritt. – Aber dass in dieser Nacht schon 20.000 Ostberliner in Westberlin gewesen und am Morgen erschöpft aber glücklich nach Hause zurückgekehrt waren, davon hatte ich keine Ahnung. Diese schlaflose Nacht habe ich verschlafen.
*
So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. Denn die schlafen, schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken.
*
So war es damals: Die einen haben in dieser Nacht geschlafen, die anderen waren betrunken. Weil sie die ganze Nacht an der Mauer und auf dem Kudamm gefeiert haben. Besoffen vor Glück. Es war ja nicht nur diese Nacht. Es waren Tage und Wochen wie im Rausch. Als sich mit einem Mal alles veränderte, was jahrzehntelang feststand.
Und so ähnlich, nur mit umgekehrten Vorzeichen war es auch 51 Jahre früher gewesen: Die einen fühlten sich allenfalls in ihrem Schlaf gestört, als die Scheiben splitterten und die SA-Horden grölten. Fühlten sich vielleicht auch schon lange genervt von der großspurigen Propaganda und der politischen Gleichschaltung. Aber am liebsten schauten sie weg, machten die Fensterläden zu und schliefen weiter – den Schlaf der Selbstgerechten. Und die anderen waren berauscht von der Gewalt, von dem Gefühl der Macht: Endlich konnten sie es denen zeigen – denen, die sie für alles Unheil der Welt verantwortlich machten.
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Wenn die einen schlafen und die andern betrunken sind, dann weiß keiner, was wirklich los ist. Es fehlt der klare, wache Blick.
1989 haben im Rausch der Veränderung viele geglaubt, nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung wäre alles einfach gut. Und andere haben jahrzehntelang darüber geklagt, dass sich an ihrem Leben, so wie sie es sich eingerichtet hatten, plötzlich etwas änderte.
Wer schläft, verschläft die Veränderungen, die guten und die schlimmen. Und er wacht auf und findet sich nicht mehr zurecht.
So ist die Geschichte vom 9. November 1989 und dem was davor und danach war verfilmt worden: Eine verschläft – bewusstlos im Krankenbett – die Wende, die Revolution. Und um ihr schwaches Herz zu schonen, soll ihr die alte Wirklichkeit vorgespielt werden, was zu ziemlich absurden Situationen führt. So viel hat sich innerhalb weniger Wochen verändert. Goodbye Lenin heißt der Film.
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Die den 9. November 1938 verschlafen haben, sind oft erst Jahre später aufgewacht. Vielleicht in den schlaflosen Nächten, als die Bomben fielen. Vielleicht auch erst im Mai 1945, als der Krieg vorbei war. Erwachen wie aus einem Alptraum. Und wie lange hat es gedauert, bis sie verstanden hatten, was geschehen war, was sie getan hatten im Rausch der Nazi-Nacht, oder was an ihnen vorbeigegangen war, weil sie verbissen die Augen geschlossen hatten.
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So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.
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Eine Meldung vom 4. November 2014:
Jugendliche haben einen US-amerikanischen Touristen im Kölner Hauptbahnhof ausgeraubt und als "Jüdischen Bastard" beschimpft. Der 37-Jährige habe Samstagabend die Jugendlichen nach dem Weg zu seinem Gleis gefragt, teilte die Kölner Polizei am Dienstag mit. Die Angesprochenen hätten den Mann direkt angegriffen. "Sie stießen ihn zu Boden und durchsuchten seine Kleidung", führte die Polizei aus. Dabei hätten die Jugendlichen den Davidstern an seiner Kette entdeckt und ihn beschimpft. Die Täter flohen laut Polizei mit dem Portemonnaie und den Reiseunterlagen des Touristen. Die Flüchtigen hätten rasierte Köpfe und schwarz-weiß-rote T-Shirts, Jeans sowie Sweatshirts getragen.
In diesem Jahr sind außergewöhnlich viele Juden Opfer von antisemitischen Überfällen geworden.
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So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.
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Liebe Schwestern und Brüder,
es gibt Zeiten und Stunden, die kommen über uns wie ein Dieb in der Nacht. Böse Tage.
Es gibt Zeiten und Stunden, die überfallen uns wie die Wehen eine schwangere Frau. Gute Tage.
Es gibt Zeiten und Stunden, nach denen nichts ist,  wie es vorher war.
Und es gibt Zeiten, Wochen und Monate, in denen sich Veränderungen ankündigen. So wie in den Wochen einer Schwangerschaft.
Lasst uns wachen und nüchtern sein, dass wir bereit sind für die guten Tage und für die bösen Tage. Dass wir erkennen, was geschieht, und verstehen, was es bedeutet. Und dass uns klar ist: Es kommen Tage, nach denen alles anders sein wird als noch am Tag zuvor.
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Wir, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil.
Glaube, Hoffnung, Liebe.
Glaube: Das ist Gottvertrauen von Tag zu Tag.
Hoffnung: Das ist die Gewissheit: Was auch geschehen mag – am Ende wird alles gut.
Liebe: Das ist die herzliche Verbundenheit in guten und in bösen Tagen.
Glaube, Hoffnung, Liebe diese drei. Sie wappnen uns für alles, was kommen mag – für gute und für böse Tage.
Und für den Tag, an dem wir IHM gegenüberstehen werden, – für den Tag des Herrn.