Sonntag, 2. November 2014

Predigt am 2. November 2014 (20. Sonntag nach Trinitatis)

Es ist offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen.
Solches Vertrauen haben wir durch Christus zu Gott. Nicht dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott, der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.
Wenn aber schon das Amt, das den Tod bringt und das mit Buchstaben in Stein gehauen war, Herrlichkeit hatte, so dass die Israeliten das Angesicht des Mose nicht ansehen konnten wegen der Herrlichkeit auf seinem Angesicht, die doch aufhörte, wie sollte nicht viel mehr das Amt, das den Geist gibt, Herrlichkeit haben? Denn wenn das Amt, das zur Verdammnis führt, Herrlichkeit hatte, wie viel mehr hat das Amt, das zur Gerechtigkeit führt, überschwängliche Herrlichkeit.
2. Korinther 3, 3-9



Liebe Schwestern und Brüder,
Mose war zu Gott auf den Berg gestiegen, Gott war zu ihm herniedergekommen, und Mose hatte ihn gebeten, doch in seiner großen Gnade und Barmherzigkeit, mit dem Volk Israel mitzugehen – trotz allem, was gewesen war; trotz allem, was noch sein würde. Und Gott hatte es versprochen: Ja, er wolle mitgehen mit ihnen. Und er wolle darüber einen Bund schließen mit ihnen, einen Vertrag – und sie sollten Wunder erleben und des HERRN Werk sehen. – Davon habe ich letzte Woche gesprochen.
Aber wie ging die Geschichte weiter? – So ging sie weiter:
Mose blieb 40 Tage auf dem Berg bei Gott, und als er wieder hinunterstieg, da hatte er einen Brief dabei – von Gott. In Stein gemeißelt. Einen Brief von Gott an sein Volk. An seine Menschen:
Ich bin der HERR, dein Gott. Ich habe dich befreit aus der Sklaverei in Ägypten. Du sollst in Freiheit leben. Du sollst nicht wieder Sklave werden. Weder der Sklave anderer Götter, noch der Sklave anderer Menschen, noch der Sklave deiner eigenen Begierden. Du sollst wissen, was gut ist und was der HERR von dir fordert.“
Wie herrlich, wie wunderbar! Gott hatte einen Brief geschrieben. Gott versprach Freiheit. Und er sagte seinen Menschen, dass Freiheit ganz einfach ist: Auf Gott achten und die Mitmenschen so behandeln, wie man selber behandelt werden möchten. Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist! So einfach ist Freiheit.
Wie herrlich, wie wunderbar! Mose strahlte. So sehr, dass die Israeliten gar nicht hinschauen konnten. Gottes himmlischer Glanz war auf ihn übergegangen. Denn: Briefträger Gottes sein – das war doch eine herrliche, wunderbare, glänzende Aufgabe!
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Gott hatte einen Brief geschrieben. Darin stand, was gut ist für den Menschen, und was nicht: Du sollst… und viel öfter noch: Du sollst nicht.
Ein herrlicher Brief, die Botschaft von der Freiheit der Kinder Gottes? Wirklich?
Oder doch vielmehr ein strenges Regelwerk, ein Vertragstext, ein Gesetz? – Gott diktiert die Bedingungen, unter denen er es uns gut gehen lässt. Und wenn wir seine Regeln nicht einhalten? – Dann droht Strafe. So ist das bei Verträgen und Gesetzen.
Gesetzesbuchstaben, in Stein gemeißelt. Stein, der sich nicht erweichen lässt. Buchstaben, die vorschreiben: Du sollst! und viel öfter noch: Du sollst nicht! Die drohen: Ungestraft kommt keiner davon. Und die Angst und Furcht verbreiten.
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Und sie haben Angst und Furcht verbreitet.
Zum Beispiel bei Martin Luther. Der nahm Gottes Brief an die Menschen sehr genau.
In der Zwischenzeit war er angewachsen zu einer kleinen Bibliothek, dieser Brief. Die Steintafeln, die Mose vom Berg mitgebracht hatte, waren nur der Anfang gewesen. Immer wieder hatten Menschen etwas gehört, was Gott ihnen gesagt hatte, und sie hatten es aufgeschrieben: Nicht mehr auf Stein, aber auf Tontafeln; dann auf bearbeitete Tierhäute, Pergament; später auf Papyrus, das aus dem Mark der Papyruspflanze hergestellt wurde; zuletzt auf Papier. Immer mehr Buchstaben und Sätze, Geschichten und Gedichte, Weisheiten und Weissagungen, und immer wieder: Gebote und Gesetze. Das waren die heiligen Bücher: Ta Biblia. Im Griechischen ist das Mehrzahl. Später hat man sie in ein großes dickes Buch gebunden: Die Bibel. Einzahl.
Martin Luther saß tage- und nächtelang vor der aufgeschlagenen Bibel. Er war Doktor der Heiligen Schrift geworden, Bibelwissenschaftler, Theologieprofessor. Nicht aus Neugier und historischem Interesse, auch nicht aus Bewunderung und Begeisterung für das herrliche Wort Gottes, sondern aus Angst und Furcht:
Was hatte Gott wirklich gesagt? Was verlangte er wirklich? – Du sollst – Du sollst nicht… – Und was konnte ein Mensch tun, um Gottes Zorn und Strafe zu entgehen? – Das wollte, das musste er ganz genau wissen. Denn er fürchtete sich entsetzlich vor dem allmächtigen, allwissenden und gerechten Gott.
Je mehr er suchte und studierte, um so verzweifelter wurde er. Er entdeckte, dass Gott nicht nur so etwas Einfaches verlangte wie Nicht töten oder Nicht stehlen. Nein, Gott verlangte auch, dass wir nicht mal jemandem etwas Böses wünschen sollen oder auch nur Verlangen haben sollen nach dem, was er hat: Du sollst nicht begehren. Und noch schwerer: Gott verlangte nicht nur, dass wir keine anderen Götter verehren sollen – das ist ja nicht so schwer –, sondern dass wir Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit allen Kräften lieben sollen. Lieben! – Diesen Gott, der ihm Zorn und Strafe androhte, den sollte er lieben! – Das konnte er nicht. Liebe lässt sich doch nicht befehlen! Aber so stand es da: Die Buchstaben ließen keinen Zweifel. Sie ließen ihn verzweifeln. Sie waren sein Tod.
Und dann – es muss ganz plötzlich und unerwartet gekommen sein; es muss der Heilige Geist gewesen sein: Da begannen die Buchstaben vor seinen Augen lebendig zu werden, zu tanzen, zu springen. Sie sprangen ihm in die Augen und ins Herz.
Der Gerechte wird aus Glauben leben, stand da, im Brief an die Römer (1,17). Der Gerechte, der Gerechte... – Und wenn ich nicht gerecht bin? – Dann werde ich auch nicht leben. So hatte er es bisher verstanden. – Aber auf einmal brachte der Geist die Buchstaben zum Tanzen, und er las: Aus Glauben..., aus Glauben leben! Gerecht aus Glauben: Das ist das Leben! Nicht die Gerechtigkeit führt zum Glauben, sondern der Glaube führt zur Gerechtigkeit! Auf den Glauben kommt es an. Nicht auf die gerechten Werke, nicht auf die guten Taten, nicht auf die Erfüllung des Du sollst und Du sollst nicht!
Er blätterte weiter, und mit einem Mal ergab alles Sinn. Kein Mensch wird durch die Werke des Gesetzes gerecht, stand da (Römer 3,20). Die Gerechtigkeit Gottes kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben, las er (Römer 3,22). Und noch mal ganz deutlich: So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, durch den Glauben (Römer 3,28). Ja, allein durch den Glauben.
Von diesem Augenblick an waren Angst und Furcht weggeblasen. Wovor sich noch fürchten, wenn wir einfach glauben können, Gott vertrauen können, ohne uns erst an Gesetze und Vertragsklauseln zu halten? – Die Buchstaben tanzten. Der Geist blies die Angst weg.
Ich stelle mir vor, wie Luther aufsprang, das Fenster aufriss, die frische Abendluft in sich einsog und erleichtert wieder aus seinen Lungen strömen ließ. Und wie er dann niederfiel und seinem Gott auf Knien dankte.
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Dann ging er wieder an sein Pult und blätterte zurück in seiner Bibel: Wie war das noch mal damals mit Mose und den Gesetzestafeln?
Gott war vom Himmel herniedergekommen und hatte versprochen mit den Israeliten mitzugehen. Er hatte ihnen Gebote gegeben, obwohl er ganz genau wusste, dass sie die nie im Leben würden einhalten können.
Und sie hatten die Wahl: Wollten sie die Gebote als Spielregeln verstehen für das Leben in der Freiheit, oder wollten sie sie als Gesetz verstehen, das unbedingt zu erfüllen ist?
Meistens haben sie sie als Gesetz verstanden, und der Buchstabe des Gesetzes machte ihnen Angst und brachte ihnen den Tod.
So war es ihm, Martin Luther, auch ergangen.
Manchmal aber wurde einer vom Geist angeweht. Für den wurden die Buchstaben lebendig und begannen zu tanzen. Sie tanzten den Tanz der Freiheit, der Liebe und des Gottvertrauens, aus dem alles andere kommt. Das Wort Gottes war kein Gesetz mehr, toter Buchstabe, in Stein gemeißelt. Das Wort Gottes war frohe Botschaft, Evangelium: Ich habe dich befreit. Aus der Sklaverei in Ägypten. Aus der Sklaverei der Sünde und des Todes. Aus der Sklaverei des Gesetzes.
Manchmal wurde einer vom Geist angeweht und er entdeckte die herrliche Freiheit der Kinder Gottes: Paulus, Luther, Jesus sowieso.
*
Ja, Heiliger Geist, komm auch zu uns, mach uns das Wort lebendig, dass wir aus Glauben leben in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes!

Amen.

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