Sonntag, 27. April 2014

Predigt am 27. April 2014 (Sonntag Quasimodogeniti)

Hebet eure Augen auf in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen? Er führt das Heer der Sterne vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: „Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber”? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Jesaja 40, 26-31

Liebe Schwestern und Brüder,
ein bekanntes Wort des großen Philosophen Immanuel Kant ist mir sofort eingefallen, als ich dieses Bibelwort gelesen habe. Kant schreibt: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir (KpV, AA 161).
Der bestirnte Himmel über mir. – Ihr kennt das: wenn ihr nachts nicht schlafen könnt und rausgeht auf die Terrasse, und über euch ist der Sternhimmel. Unzählige Lichtpünktchen. Je länger ihr schaut, um so mehr entdeckt ihr: sehr helle und ganz schwache, manche leuchten ganz weiß, andere ein bisschen rötlich. Ihr entdeckt das eine oder andere bekannte Sternbild. Und vielleicht kommt euch der Gedanke an die Entfernungen im großen Weltraum: Wie viele Jahre oder Jahrhunderte ist das Licht der Sterne unterwegs zu uns? Zur Zeit zieht der rote Planet Mars hoch über den Sternhimmel, geht am Abend im Osten auf und am Morgen im Westen unter. Der Stern ein wenig östlich von ihm ist Spica im Sternbild Jungfrau. Das Licht, das wir jetzt von ihm sehen, hat er zu Lebzeiten des Philosophen Immanuel Kant so ca. 1752 ausgesendet. Kant freilich wusste das noch nicht mit der Lichtgeschwindigkeit und den großen Entfernungen. Aber er hatte schon die Vorstellung, das Weltall müsste irgendwie unendlich sein. Was er nicht wusste, war zum Beispiel, dass hunderte Milliarden von Sternen eine einzige Galaxie, unsere Milchstraße, bilden und dass es von solchen Galaxien selber wieder einige Milliarden gibt. Da werden Bewunderung und Ehrfurcht angesichts des bestirnten Himmels über mir nur immer noch größer.
Schon immer und schon zu biblischen Zeiten haben die Menschen hinaufgeblickt in den Sternenhimmel. Sie hatten noch keine Ahnung von intergalaktischen Entfernungen und Dimensionen, aber Bewunderung und Ehrfurcht kam auch sie schon an: Unzählige Sterne zogen Nacht für Nacht über den Himmel, immer in der gleichen Ordnung, keiner fehlte jemals, alle waren da. Dazwischen zogen einige Wanderer ihre Bahn; allmählich wechselten sie ihren Ort am Himmel, verschwanden manchmal ganz und tauchten nach einiger Zeit am anderen Himmelsende wieder auf. Und dann waren da die beiden großen Himmelslichter: der Mond, der Ort und Gestalt im Vier-Wochen-Rhythmus wechselte, weshalb man diesen Zeitraum auch Mond nannte, Monat, und die Sonne, die am Tag Mond und Sterne verblassen ließ. All diese wunderbaren Himmelslichter, die in ewiger Ordnung kamen und gingen, die so verlässlich waren, dass man nach ihnen die Zeit messen konnte, das mussten Götter sein: unwandelbar, ewig, verlässlich und gut! So dachte man damals im vorderen Orient. Wenn man diese Götter verstand, ihre Wege am Himmel, dann konnte man alles verstehen, dann konnte man die Vergangenheit deuten und die Zukunft vorhersagen. So entstand die Astrologie; und noch heute tun manche so, als wären Sonne, Mond und Sterne Götter und als könnte man aus ihrem Gang das Schicksal der Menschen ablesen.
Das kleine Volk Israel glaubte an einen anderen Gott; und sie dachten manchmal, ihr Gott wäre viel kleiner als die Sonne-Mond-und-Sterne-Götter der Babylonier. Ihr Gott hatte sie zwar aus der Sklaverei befreit, sie durch die Wüste geführt und ihnen ein Stück Land zwischen Mittelmeer und Jordan-Fluss gegeben, er hatte ihnen in Kämpfen und Konflikten beigestanden und durch Propheten und Priester zu ihnen geredet. Er war nicht so weit weg wie die Sterne; aber war er wirklich mächtiger als sie? Das war ihnen eine sehr ernste Frage, nachdem die Babylonier ihr kleines Königreich erobert hatten, das Haus ihres Gottes zerstört und seine Priester samt den Gebildetsten und Einflussreichsten des Volkes nach Babylon deportiert hatten. Wenn sie zum Himmel hinaufschauten, dann sahen sie Schamasch und Sin, Marduk und Ischtar, die mächtigen Götter Babylons. Jahwe, ihren Gott, sahen sie nicht; er streifte vielleicht in der Ferne durch die Ruinen Jerusalems oder hatte sich zurückgezogen ins Sinai-Gebirge, von wo er einst gekommen war.
Aber es war doch ganz anders. Jahwe-Gott, der HERR, begann wieder zu reden – selbst im fernen Babylon. Propheten wollten ihn gehört und gesehen haben. Und einer von ihnen sagte seinen Landsleuten diese Worte: Schaut ruhig hinauf zum Himmel! Was seht ihr da? Sind das wirklich Götter? Bestimmen die über euer Schicksal? Ja, sie bewegen sich in wunderbarer Ordnung und größter Verlässlichkeit. Aber meint ihr, sie könnten noch mehr als leuchten und jede Nacht über den Himmel ziehen? Wenn sie wirklich Götter wären, müssten sie dann nicht frei sein, machen, was sie wollen, sich über die Ordnung hinwegsetzen? - Nein, Sonne, Mond und Sterne sind Lampen und Zeitmesser am Himmel. Und der sie dorthin getan hat, der sie ihre geordneten Bahnen ziehen lässt, der aufpasst, dass keins aus der Reihe tanzt, der die Ordnung der Welt geschaffen hat und erhält, der ist in Wahrheit Gott, und dieser wahre Gott ist unser Gott, denn es gibt nur einen.
Der Blick in den bestirnten Himmel über euch, der sollte euch zur Bewunderung und Ehrfurcht des Schöpfers hinführen. Der sollte euch staunen lassen, wie er alles so herrlich regieret. Er sollte euch befreien von der Furcht vor falschen Göttern und Schicksalsmächten. Nicht der Gang der Gestirne bestimmt über unser Leben, sondern der lebendige Gott.
Ich bin immer wieder überrascht, dass so was wie Sternzeichen und Horoskope für manche von euch überhaupt eine Rolle spielen können: wo wir doch heute noch viel genauer und viel besser wissen, was es mit Sternen und Sternbildern, Sonne und Planeten auf sich hat, wo wir wissen, dass ihr Stand am Himmel allein damit zu tun hat, wo wir mit unserer Erde uns gerade befinden auf unserer Reise um die Sonnne. Da steht der Mars nicht im Sternbild Jungfrau, sondern wir sehen unseren Nachbarplaneten vor dem Hintergrund von ein paar Sternen, die ganz unterschiedlich weit entfernt von uns die menschliche Fantasie zu einem Bild angeregt haben. Ja, und was soll das mit unserem Schicksal zu tun haben? – Genau: nichts.
Immanuel Kant, der große Philosoph, spricht nicht nur von der Bewunderung und Ehrfurcht angesichts des bestirnten Himmels über uns, sondern auch angesichts des moralischen Gesetzes in uns. Das hat nun wirklich mit unserem Schicksal zu tun; anders als die Sterne. Auch wenn der Ausdruck alt und überholt erscheint, und viele meinen, so was wie ein moralisches Gesetz gäbe es gar nicht. Gemeint ist damit, dass der Mensch wissen kann, was gut ist und böse, was er tun soll und was nicht. Wenn wir tun, was nicht gut ist, was uns und anderen schadet, ja, dann wirkt sich das auch negativ auf unser Schicksal, auf unser ganzes Leben aus. Die Handlungen von Menschen bestimmen über den Lauf der Welt und den Gang der Geschichte, nicht die Bahnen der Gestirne.
Während der Prophet im alten Babylon die Israeliten daran erinnerte, wer in Wahrheit Gott ist, haben die Priester Israels in dieser Zeit das überlieferte Gesetz Gottes schriftlich zusammengefasst; das meiste davon steht heute so in den Mosebüchern unserer Bibel. Dahinter steht die Überzeugung: Sonne, Mond und Sterne richten sich nach Gottes Willen, weil sie nicht anders können. Wir Menschen sollen uns auch nach Gottes Willen richten; aber wir können auch anders, wir sind frei. Genau darum aber ist es gut, Gottes Willen zu kennen, sein moralisches Gesetz. Darum haben sie es aufgeschrieben; der Kern davon sind die Zehn Gebote. Und der Kern der Zehn Gebote, sagt Jesus, ist: Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Oder mit anderen Worten: Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch (Mt 7,12).
Immanuel Kant hat intensiv darüber nachgedacht, was es mit dem moralischen Gesetz in uns auf sich hat, und er ist zu der Einsicht gekommen, dass es im Prinzip dasselbe ist, was Jesus gelehrt hat, auch wenn Kant es noch ein bisschen differenzierter formuliert. Es geht darum, dass wir so leben und handeln, dass wir wollen können, dass jeder in unserer Lage auch so leben und handeln würde. Und der Glaube an Gott, so meint Kant, gibt uns Motivation und Kraft dazu.
Und da sind wir wieder bei dem Wort des Propheten aus Babylon: Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat - mit anderen Worten: der Sonne und Mond und Sternen, der dem ganzen Weltall seine Ordnung gibt – der gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Diese Kraft sprechen wir immer auch unseren Konfirmanden zu, wenn wir sagen, der Segen Gottes möge ihnen Schutz und Schirm vor allem Bösen, Stärke und Hilfe zu allem Guten gebe. Gott sagt uns nicht nur, was wir nach seinem Willen tun und lassen sollen; er gibt uns auch die Kraft dazu.
So könnte das sein, wenn ihr nachts nicht schlafen könnt und hinaus geht auf die Terrasse und hinaufschaut in den Sternenhimmel über euch: dass eure Gedanken hinaufgezogen werden zu Gott, der das große Weltall geschaffen und geordnet hat, und dass aus diesem Staunen ein Gebet wird: Großer Gott, ordne doch auch mein Leben, hilf mir, morgen zu tun, was du von mir erwartest, und wenn ich müde bin, dann gib mir deine Kraft. Amen.

Sonntag, 20. April 2014

Predigt am 20. April 2014 (Ostersonntag)


Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen.
Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind.
Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden. Ein jeder aber in seiner Ordnung: als Erstling Christus; danach, wenn er kommen wird, die, die Christus angehören; danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergeben wird, nachdem er alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt vernichtet hat. Denn er muss herrschen, bis Gott ihm »alle Feinde unter seine Füße legt« (Psalm 110,1). Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. Denn »alles hat er unter seine Füße getan« (Psalm 8,7). Wenn es aber heißt, alles sei ihm unterworfen, so ist offenbar, dass der ausgenommen ist, der ihm alles unterworfen hat. Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott sei alles in allem.
1. Korinther 15, 19-28



Liebe Schwestern und Brüder,

ihr kennt das: Gestern noch standen wir vor dem Abgrund; heute sind wir einen Schritt weiter. – Das ist ein Wanderwitz. Vor 50 Jahren Walter Ulbricht in den Mund gelegt; vor zwei Jahren passte er nach Griechenland und heute vielleicht in die Ukraine.

Genau so ist das mit dem Tod. Wir stehen davor, und irgendwann sind wir einen Schritt weiter: drin – im Abgrund, im Grab, im Nichts.

Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, dann haben wir nichts mehr zu hoffen, wenn wir einen Schritt weiter sind.

Ostern heißt: Wir reden über das Leben. Aber Ostern heißt auch: Wir können nicht über das Leben reden, ohne über den Tod zu reden. Alles andere wäre, als liefen wir auf den Abgrund zu, während wir wie Hanns Guck-in-die-Luft in die Wolken schauen. Die Wolken sind schön, der Himmel ist blau; aber der Abgrund bleibt schwarz, und wir gehen auf ihn zu, auch wenn wir nicht hinsehen.

Ostern ist vor allem für die, die den Abgrund gesehen haben, schon hineingeschaut haben und zu Tode erschrocken sind.

Denn dieser Abgrund ist das Nichts. Das absolute Nichts.

Ich denke an so viele Menschen, die in diesen letzten Tagen und Wochen vor dem Nichts gestanden haben, in den Abgrund des Todes geschaut haben.

Ein Bruder, eine Tochter, ein Freundin, ein Gatte sind in ein Flugzeug gestiegen, und ein paar Stunden später war es weg. Einfach verschwunden. Mit all den Menschen darin. Nicht mal sterbliche Überreste konnte man finden. Wie im Nichts aufgelöst.

Menschen am Berg, im Himalaya, die davon leben, anderen den spektakulären Aufstieg zu ermöglichen, werden von einer riesigen Lawine verschüttet. Schnee, ganz viel Schnee – erst weiß, dann schwarz, dann nichts. Ihre Familien warten vergeblich, dass sie heimkehren werden.

Menschen im Busbahnhof einer afrikanischen Großstadt. Zwei Bomben explodieren. Hunderte Tote und Verletzte. Panik, Entsetzen, Hilflosigkeit. Leichen, Blut, Körperteile. Menschen töten ohne Sinn, fühlen sich von ihrem Gott berufen, der am Ende nur ein Gott der Toten ist, Gott des Nichts, ein nichtiger Gott.

Und die vielen Toten in der Ukraine vor Wochen. Sinnlose Opfer oder Helden? Die Menschen auf dem Maidan haben in den Abgrund geschaut, und unter der Oberfläche des zurückkehrenden Alltags ist ein Abgrund von Angst. So lese ich es fast jeden Tag aus den Nachrichten unserer Kiewer Freunde. Wird es Krieg geben? Und wie viele Tote noch?

Warum schauen wir nicht hin, in den Abgrund? Warum fürchten wir ihn? – Weil wir das Nichts fürchten. Die metaphysiche Negation, die absolute Verneinung.

Der Tod, das ist doch nichts, sagen manche bagatellisierend. So lange ich da bin, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, bin ich nicht mehr da. – So klingt aufgeklärte Todesverachtung.

Wenn es nur so einfach wäre! Dann wäre das ja alles nichts – mit dem Abgrund des Todes. Die Welt eine Bühne, auf der immer neue Generationen auftreten und abtreten, geboren werden und sterben, sich auch gegenseitig von der Bühne befördern, und das alles ohne Publikum und ohne Regisseur. Absurdes Theater.

Können wir so leben? Wollen wir so sterben? – Ohne Hoffnung auf ein Leben jenseits dieser Bühne, auf der wir ohne Sinn und Verstand unsere Rolle improvisieren? – Oder wären wir dann nicht die elendesten unter allen Menschen? Rechts und links sterben sie, und wir lachen und lieben und spielen und feiern, bis wir selber tot von der Bühne fallen und die neben uns nur kurz stutzen und weiter feiern und spielen und lieben und lachen.

Ich kann so nicht leben. Ich will so nicht sterben. Ich fürchte das Nichts, weil es absurd ist, unmöglich, unvorstellbar.

Stell dir doch mal eine Minute Nichts vor. Gar nichts. Nicht nur kein Licht; nicht nur keine Materie; auch keinen leeren Raum; auch keine Zeit, in der nichts passiert; sondern gar einfach gar nichts! … Ich kann das nicht. Es ist unmöglich, das Nichts zu denken. Irgendetwas muss doch sein. Nicht nichts. Nichts geht nicht.

Unsere Todesfurcht ist das Erschrecken, die Angst vor dem absoluten Nichts. Wenn ich nicht mehr bin, ist nichts mehr, gar nichts. Das ist das Grauen des Todes.

Auch die Jünger Jesu, seine Schwestern und Brüder, sie hatten in den Abgrund geschaut. Als Jesus starb. Er war für sie Gott gewesen. Und Gott konnte nicht sterben. Bis zu diesem Freitag, als er am Kreuz hing, sein Haupt neigte und starb. Da war nichts mehr. Gar nichts. Kein Gott, keine Hoffnung, kein Sinn, kein Leben.

Und dann am Sonntagmorgen war es noch schlimmer. Das Grab, wo sie ihn hineingelegt hatten, war leer. Nicht mal mehr eine Leiche war da. Als hätte es ihn nie gegeben. Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen – das kann ich mir gut vorstellen: das Grauen vor dem Nichts.

Sie haben es nicht gleich begriffen, konnten es nicht begreifen: Das leere Grab war nicht das Nichts, sondern es war Gottes Zeichen, dass das Nichts vernichtet war, dass der Tod tot war. Wo das Leben siegt, gibt es keine Leichen. Der Blick ins leere Grab war gar nicht der Blick in den Abgrund des Todes, sondern der Blick in den Himmel. Drum sahen sie ja auch einen Engel und hörten die Worte: Jesus ist auferstanden.

Das war und ist so wenig zu begreifen, wie der Tod zu begreifen ist. Und darum geht die Ostergeschichte auch weiter: Jesus selbst, der Getötete, tritt ihnen als der Lebendige in den Weg. Er sagt ihnen: Es musste so sein. Es konnte gar nicht anders sein. Mit dem Tod, das ist nichts. Der Tod ist ein Nichts. Er ist vernichtet. Ich lebe, und ihr sollt auch leben.


Wir, wir stehen immer noch vor den Abgründen des Todes. Wir tun nicht so, als wären sie nicht da, schauen nicht wie Hanns Guck-in-die-Luft einfach in den Himmel und stürzen dann doch ins Bodenlose. Wir sehen die Abgründe sehr genau. Aber wir stehen da mit Jesus. Und wir wissen, wenn wir einen Schritt weiter sind, wenn wir in den Abgrund stürzen, dann stürzen wir mit ihm. Wir fallen nicht ins Nichts, denn Nichts gibt es nicht. Der Tod ist tot. Das Nichts ist vernichtet. Alles ist Leben, alles ist in Gott, und Gott ist alles in allem. Dann, am Ende. Im Abgrund seiner Liebe.

Donnerstag, 17. April 2014

Predigt am 17. April 2014 (Gründonnerstag, Tischabendmahl)

In Gott hat alles nicht nur seinen Ursprung, sondern auch sein Ziel, und er will viele als seine Söhne und Töchter an seiner Herrlichkeit teilhaben lassen. Aber um diesen Plan zu verwirklichen, war es notwendig, den Wegbereiter ihrer Rettung durch Leiden ´und Sterben` vollkommen zu machen. Er, der sie heiligt, und sie, die von ihm geheiligt werden, haben nämlich alle denselben Vater. Aus diesem Grund schämt sich Jesus auch nicht, sie als seine Geschwister zu bezeichnen, etwa wenn er sagt: »Ich will meinen Brüdern verkünden, wie groß du bist, o Gott, mitten in der Gemeinde will ich dir Loblieder singen.« An einer anderen Stelle sagt er: »Nichts soll mich davon abbringen, auf Gott zu vertrauen!« und fährt dann fort: »Hier bin ich, und das sind die Kinder, die Gott mir gegeben hat.« Weil nun aber alle diese Kinder Geschöpfe aus Fleisch und Blut sind, ist auch er ein Mensch von Fleisch und Blut geworden. So konnte er durch den Tod den entmachten, der mit Hilfe des Todes seine Macht ausübt, nämlich den Teufel, und konnte die, deren ganzes Leben von der Angst vor dem Tod beherrscht war, aus ihrer Sklaverei befreien. Im Übrigen wissen wir ja, dass es nicht die Engel sind, denen er zu Hilfe kommt, sondern die Nachkommen Abrahams. Ihnen, seinen Brüdern und Schwestern, musste er in jeder Hinsicht gleich werden. Deshalb kann er jetzt als ein barmherziger und treuer Hoherpriester vor Gott für sie eintreten – ein Hoherpriester, durch den die Sünden des Volkes gesühnt werden. Und weil er selbst gelitten hat und Versuchungen ausgesetzt war, kann er denen helfen, die ebenfalls Versuchungen ausgesetzt sind.
Hebräer 2, 10-18 (NGÜ)

Liebe Schwestern und Brüder,
so rede ich euch fast immer an, zu Beginn jeder Predigt. Das ist nicht selbstverständlich; viele sagen einfach „Liebe Gemeinde“. Das ist nicht falsch, aber es ist distanzierter: Hier der Pfarrer – dort die Gemeinde, als ob er gar nicht dazugehören würde.
Und ich rede euch auch – zumindest in der Predigt – mit Du und Ihr an. Das ist auch nicht selbstverständlich; viele sagen lieber Sie. Das klingt höflicher – gerade denen gegenüber, mit denen man sonst nicht per Du ist – aber es klingt eben auch distanzierter. Wir haben Respekt voreinander. Wir sind zum Gottesdienst zusammengekommen, aber wir werden danach wieder unsere eigenen Wege gehen: der Herr Pfarrer und das geschätzte Gemeindeglied.
Ich muss euch sagen: Ich bin froh und dankbar, dass es bei uns nicht so ist. Ich bin froh und dankbar, dass ich auch außerhalb des Gottesdienstes die meisten mit Du anreden darf. Denn dieses Du drückt genau das aus: Wir sind Schwestern und Brüder.
Wir sind Schwestern und Brüder, weil wir Gottes Kinder sind. Alle miteinander.
Damit ist noch lange kein Idealbild gezeichnet. Wo Familie ist, wo Schwester und Brüder sind, da geht es nicht immer nur harmonisch zu. Vielleicht sogar gerade nicht. Denn nirgendwo gibt es so viel Streit und Unfrieden wie unter Geschwistern. Seine Freunde kann man sich aussuchen, seine Brüder nicht, haben wir früher gesagt – in der DDR, wo immer vom großen Bruder Sowjetunion die Rede war. Und wahrscheinlich geht es heute den Ukrainern ähnlich mit ihren russischen Brüdern.
Nein, keiner hat gesagt, dass es unter Schwestern und Brüdern immer nur friedlich zugeht. Aber dennoch gehören sie zusammen, sind Familie und im Ernstfall aufeinander angewiesen.
Freundschaft muss man sich verdienen. Bruder und Schwester hat man, ohne etwas dafür getan zu haben.
Freundschaft kann man beenden – zur Not. Bruder und Schwester wird man niemals los.
Und darum ist es so wichtig, dass Brüder und Schwestern auch wie Brüder und Schwestern zusammen leben. Dass, was schlecht ist, wieder gut wird zwischen Brüdern und Schwestern. Dass wir uns umeinander bemühen. Dass wir einander nicht aufgeben. Und den anderen nicht abschreiben. Dass wir aufeinanderzugehen. Und dass wir Du sagen.
Hin und wieder treffen sich Geschwister: zu Familienfesten; da sitzen sie gemeinsam am Tisch. Und feiern, und essen, und trinken, und reden, und lachen, und schweigen – je nachdem.
Am Passahfest sitzen jüdische Familien gemeinsam am Tisch. Weil sie Schwestern und Brüder sind: Abrahams Kinder, Jakobs Kinder, Nachkommen jener zwölf Brüder, die einst nach Ägypten zogen und deren Kindeskinder wie durch ein Wundern, nein: durch ein Wunder, heimgekehrt sind in das Land, das Gott ihnen versprochen hatte. So sitzen sie zusammen – als Schwestern und Brüder. Jahr für Jahr, bis heute.
So saßen sie auch zusammen an jenem ersten Gründonnerstag: Jesus und seine Jünger, Jesus und seine Freunde, Jesus und seine Brüder. Sie feierten und aßen und tranken und redeten und schwiegen, nur dass sie kaum lachten bei diesem Abendmahl. Schon gar nicht mehr, als Jesus von Verrat sprach und von Blutvergießen. Ja, das alles gibt es – auch unter Brüdern und Schwestern.
Und doch sind sie jetzt zusammen, so eng verbunden wie nie zuvor. Verbunden durch ihren Bruder Jesus, der sie zusammengeführt hat, der das Brot mit ihnen teilt und den Kelch, der sein Leben mit ihnen teilt und sein Sterben.
So sitzen auch wir zusammen an jedem Gründonnerstag hier am Tisch. Wir feiern und essen und trinken und schweigen und reden und lachen. Wir erinnern uns an den, der damals Brot und Wein geteilt hat, sein Leben und sein Sterben. Wir lassen ihn zu Wort kommen in unserer Runde. Wir teilen Brot und Wein in seinem Namen. Wir teilen sein Sterben und sein Leben. Und wir sagen Du: Für Dich gegeben: sein Leib, sein Blut. – Damit wir zusammenbleiben, die wir zusammengehören, und neu zueinander finden: Schwestern und Brüder, seine Schwestern und Brüder, und Gottes Kinder.

Sonntag, 13. April 2014

Predigt am 13. April 2014 (Palmsonntag)

Weil wir eine große Wolke von Glaubenszeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.
Hebräer 12, 1-3


Liebe Schwestern und Brüder,
lasst den Kopf nicht hängen, sagt unser Predigtwort.
Lasst den Mut nicht sinken.
Lasst uns ablegen, was uns nach unten zieht.
Lasst uns aufsehen zu Jesus.
Denn Jesus lässt uns aufsehen.
Jesus erregt Aufsehen.
Aufsehen erregte sein Einzug in Jerusalem – wir haben es gehört (Evangelium Johannes 12. 12-19): Sie standen auf, liefen ihm entgegen, jubelten ihm zu, dem König von Israel. Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!
Aufgesehen haben sie zu ihm, ihn bewundert, ihm alles zugetraut.
Aufsehenerregendes wurde von ihm berichtet: Hungernde hatte er gesättigt. Kranke hatte er geheilt. Einen Toten hatte er zum Leben erweckt.
Aufsehenerregendes wurde von ihm erwartet: Befreiung von der Besatzungsmacht. Gerechtigkeit für die Armen. Speise für die Hungernden. Heilung für die Kranken. Und ewigen Frieden.
Aufsehenerregendes wurde von ihm befürchtet: Eine gewaltsame Revolution mit Toten und Verletzten und mit der Folge, dass die Römer die Schrauben weiter anziehen und das letzte bisschen Glaubensfreiheit beseitigen würden.
Aufsehen erregte es, als er im Tempel aufräumte: Mein Haus soll ein Bethaus sein.Aufsehen erregten seine Reden und Diskussionen mit den theologischen Koryphäen seiner Zeit und seine Worte über die Zerstörung des Tempels und das Ende der Welt: Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.
Aufsehen erregte es, als er dann am Freitagmorgen durch die Straßen der Stadt geführt wurde: mit dem Kreuzesbalken auf dem Rücken und der Dornenkrone auf dem Kopf: O Haupt, voll Blut und Wunden. Von Mund zu Mund eilte die Nachricht: Man hatte kurzen Prozess mit ihm gemacht, und nun wird er gekreuzigt werden. Manche, wenige glaubten und hofften noch auf ein Aufsehen erregendes Wunder, auf ein Eingreifen Gottes, auf Engel vom Himmel oder was auch immer. – Es geschah nichts.
Jesus hing am Kreuz, konnte nicht mehr aufsehen, hatte allen Mut verloren, ließ den Kopf hängen, neigte sein Haupt und verschied.
Und sie sahen zu ihm auf:
Ein paar von den Frauen, die ihn verehrt hatten, seine Mutter, einer seiner Jünger. Und es zerriss ihnen das Herz.
Ein paar von den Ratsmitgliedern, der Priesterschaft, den Theologen, die sich über ihn geärgert hatten. Sie freuten sich, dass sie Recht behalten hatten:
Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen.
Nur die Verbrecher, die neben ihm gekreuzigt wurden, die sahen nicht zu ihm auf, sondern sahen ihn auf ihrer Augenhöhe, verspotteten ihn, weil der Heilige und Gerechte am Ende nicht besser dran war als sie. Sie hatten Recht behalten: Es lohnte sich nicht, gut, anständig und gottesfürchtig zu leben.
Einer aber, der Chef des Hinrichtungskommandos, sah auf zu ihm und sah etwas, was alle anderen nicht sahen:
Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen! – Da muss man erst mal drauf kommen bei einem, der brutal hingerichtet wird.
Aber später sind immer mehr drauf gekommen, haben zu ihm aufgesehen und angefangen zu glauben: Dieser Mensch ist Gottes Sohn.
Wenige Tage oder Wochen später steht eine Gruppe von Männern und Frauen auf einem Berg und sieht auf zum Himmel. Eben noch war der Gekreuzigte bei ihnen gewesen, ganz lebendig, und jetzt ist er nicht mehr mit Augen zu sehen, nicht mehr mit Händen zu greifen, irgendwo da oben, wo Gottes Thron ist. Er hat seinen Weg vollendet. Und dann sagt jemand: Was steht ihr da und seht zum Himmel? Er wird wiederkommen vom Himmel. Bis dahin ist eure Aufgabe auf der Erde.
Und damit beginnt die Aufsehen erregende Geschichte der christlichen Kirche, die Geschichte derer, die Jesus glauben, die zu ihm aufsehen als ihrem Herrn, die den Kopf nicht hängen lassen, den Mut nicht sinken lassen und ablegen, was sie nach unten ziehen will.
Zu dieser Geschichte gehören Menschen, die das Aufsehen und Aufstehen neu gelernt haben.
Da saß einer am Tempeltor und bettelte. Er konnte nicht aufstehen, er war behindert, lahm. Mit hängendem Kopf saß er da. Manche warfen ihm eine Münze hin, und er murmelte sein Dankeschön, ohne aufzusehen. Bis zwei von denen, die zu Jesus aufsehen, ihn sahen und stehenblieben und sagten:
Sieh auf zu uns! Und erwartungsvoll sah er auf und sah Petrus und Johannes und hörte ihre Worte: Silber und Gold habe ich nicht; aber was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth stehe auf und geh umher. Und da stand er auf und konnte gehen und stehen und laufen und springen und Gott loben. – Das erregte Aufsehen. Und viele begannen, an Jesus zu glauben.
Zur Geschichte der Jesus-Nachfolger gehören solche Menschen, zu denen wir aufsehen, weil sie uns als Heilige erscheinen. Menschen wie Petrus und Johannes. Aber Heilige sind sie nur deshalb, weil sie selber aufsehen zu Jesus, dem Gekreuzigten und Erhöhten, dem Anfänger und Vollender des Glaubens.
Stephanus hieß ein weiterer von ihnen, der erste, der sein Leben für Jesus gab. Er hat offenbar Aufsehen erregend gelebt und geredet als überzeugter Christ und musste dafür sterben. Von ihm heißt es: Er sah auf zum Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur Rechten Gottes. – Er konnte aufsehen, konnte auch erhobenen Hauptes in den Tod gehen, weil der, zu dem er aufsah, sein Haupt gesenkt hatte am Kreuz.
Stephanus und Petrus und Johannes gehören zu der großen Wolke der Glaubenszeugen, die uns vorausgegangen und Jesus nachgefolgt sind. Sie ist unendlich viel größer, diese Wolke. Manche haben ihren Glauben durch den Tod bezeugt; in diesen Tagen Anfang April muss ich immer an Dietrich Bonhoeffer denken, der am 9. April 1945 hingerichtet, gehängt wurde: einer, zu dem wir aufsehen. Bis heute müssen Menschen ihr Leben lassen für ihren Glauben; ich bewundere ihren Glaubensmut. Andere können und konnten ihren Glauben unbeschwert und ohne Angst leben. Auch sie gehören zur Wolke der Glaubenszeugen.
Und auch wir gehören dazu: zu den Glaubenszeugen, zu denen, die aufschauen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens.
Zu denen, die aufschauen zum Kreuz und danken, dass er sein Haupt voll Blut und Wunden für uns geneigt hat. Zu denen, die aufschauen zum Himmel, von wo aus er uns entgegenkommt und wohin wir ihm entgegengehen. Und zu denen, die Aufsehen erregen, weil sie mit Jesus leben. Ja, das sollten wir auch sein – als Christen, als Kirchen: Aufsehen erregend. Um andere aufzuregen und anzuregen, mit uns zu ihm aufzusehen.
Lasst uns aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens!

Sonntag, 6. April 2014

Predigt am 6. April 2014 (Sonntag Judika)

Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?
Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht, weil man täglich zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott?
Daran will ich denken und ausschütten mein Herz bei mir selbst: wie ich einherzog in großer Schar, mit ihnen zu wallen zum Hause Gottes mit Frohlocken und Danken in der Schar derer, die da feiern.
Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.

Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir, darum gedenke ich an dich aus dem Land am Jordan und Hermon, vom Berge Misar.
Deine Fluten rauschen daher, und eine Tiefe ruft die andere; alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich.
Am Tage sendet der HERR seine Güte, und des Nachts singe ich ihm und bete zu dem Gott meines Lebens.
Ich sage zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich dränget?
Es ist wie Mord in meinen Gebeinen, wenn mich meine Feinde schmähen und täglich zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott?
Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.

Gott, schaffe mir Recht und führe meine Sache wider das unheilige Volk und errette mich von den falschen und bösen Leuten!
Denn du bist der Gott meiner Stärke: Warum hast du mich verstoßen? Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich dränget?
Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten und bringen zu deinem heiligen Berg und zu deiner Wohnung,
dass ich hineingehe zum Altar Gottes, zu dem Gott, der meine Freude und Wonne ist und dir, Gott, auf der Harfe danke, mein Gott.
Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.
Psalm 42 und 43


Liebe Schwestern und Brüder,
wenn ein Mensch den Mund aufmacht und redet, dann spricht er entweder mit anderen Menschen, oder er spricht mit Gott, oder er spricht mit sich selbst. (Ok, manchmal spricht er auch mit seinem Haustier oder mit Gegenständen, beschimpft vielleicht sein Auto, wenn es nicht anspringt, aber besonders klug ist das nicht. Hauptsächlich spricht er mit anderen Menschen, mit Gott oder mit sich selbst.)
Mit anderen Menschen zu reden, ist der Normalfall. Wir reden ständig mit anderen, und wenn wir mal ein oder zwei Tage mit niemandem geredet haben, dann haben wir das Gefühl, wir verblöden und vereinsamen.
Mit Gott zu reden, ist eher nicht der Normalfall; und es wird, so scheint mir, auch immer seltener getan. Vielen fehlt eigentlich nichts, wenn sie zwei oder drei Tage nicht mit Gott geredet haben. Und wenn wir schon mit Gott reden, dann meistens nicht öffentlich; öffentlich zu beten, wäre uns eher peinlich, außer im Gottesdienst.
Auch mit sich selber spricht der Mensch eher heimlich, nicht in der Öffentlichkeit. Dabei sind Selbstgespräche viel verbreiteter, als wir meinen oder zugeben. Es denkt sich nämlich besser, wenn wir unsere Gedanken in Worte formulieren und sie aussprechen. Manchmal treffen wir Menschen auf der Straße, die vor sich hin brabbeln, vertieft im Selbstgespräch – naja, denken wir… Aber manchmal erwischen wir uns dabei, dass wir selber laut mit uns sprechen. Und wenn ein anderer  uns dabei erwischt, dann ist uns das einfach peinlich – naja…
Dass der Mensch mit seinesgleichen und darüber hinaus mit Gott und mit sich selbst spricht, hat ganz grundlegend mit dem Wesen des Menschen zu tun: weil er ein Wesen ist, das in Beziehung steht zu seinen Mitmenschen, das in Beziehung steht zu Gott und das in Beziehung steht zu sich selbst. Und diese Beziehung drückt sich in Sprache aus. Ich bin nicht mein Mitmensch, also muss ich mich sprechend mit ihm auseinandersetzen und verständigen. Ich bin nicht Gott, also muss ich mein Verhältnis zu Gott in Worten ausdrücken. Und nun müsste es logischerweise weitergehen: Ich bin nicht ich selbst, darum rede ich auch mit mir selbst.
Das klingt verrückt. Im wahrsten Sinne des Wortes: Wer nicht er selber ist, wer nicht ganz bei sich ist, der ist verrückt. Und Verrückte führen Selbstgespräche. Ja, sage ich, wir sind verrückt. Wir sind mit uns selber so wenig identisch, in uns sind so viele Stimmen, Gedanken, Gefühle, Eindrücke, dass wir uns zu ihnen verhalten müssen. Ich bin nicht einfach Ich, sondern ich bin das, was ich von mir weiß, wie ich mich fühle, wie ich denke und handle, und ich kann mir das bewusst machen. Ich kann mir sagen: Du bist toll, so wie du bist! Oder: Du bist doch ein Rindvieh! Ich kann mich über mich selber ärgern oder mich selber aufmuntern, meinem Herzen einen Stoß geben usw. Dieses Wissen von mir selber nennt man auch Gewissen. – So sind wir Menschen: verrückte Wesen, die sich über sich selber Gedanken machen. – Und weil wir so verrückt sind, ist das dann gar nicht so verrückt, Selbstgespräche zu führen. Gespräche helfen, dass wir einander besser verstehen. Gebete helfen, dass wir Gott besser verstehen. Selbstgespräche helfen, dass wir uns selbst besser verstehen. Am Ende bewahren sie uns damit vielleicht sogar vor dem Verrücktwerden.
In den biblischen Psalmen, und so auch in diesem Doppelpsalm 42/43, den wir gehört haben, führt ein Mensch ein Selbstgespräch, d.h. er spricht mit seiner Seele. Er sagt sich selbst, er sagt seiner Seele: Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist. – Dreimal: Es ist der Refain, dieses Liedes, dieses Psalms. Harre, meine Seele, ist daraus noch im vorletzten Jahrhundert als geistliches Lied geworden.
Da spricht einer mit sich selbst, weil er bald verrückt wird. Er spricht seiner leidenden Seele gut zu. Er erinnert seine Seele an Gott. Er erinnert sie an das, was sie mit Gott schon Gutes erfahren hat. So wie auch in einem anderen bekannten Psalm: Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat (Psalm 103,2). Und er erinnert sie daran, dass sie von Gott Gutes zu erwarten hat, grundsätzlich. Eigentlich weiß sie es doch: Keiner wird zuschanden, der auf Gott harrt (Psalm 25,3). Es wird die Zeit kommen, wo statt Verzweiflung und Klage wieder Lob und Dank dran sein wird. Erinnerung an die Zukunft – an Gottes Zukunft: Alles wird gut.
Aber dieser Psalm ist mehr als ein Selbstgespräch, er ist doch vor allem ein Gespräch mit Gott. Gebet zu Gott und Gespräch mit der Seele – beides geht ineinander über. Und das ist gut so. – Manche meinen, Beten wäre nur eine Art Selbstgespräch. Wenn das so wäre, wären wir arm dran. Dann würden wir uns selber etwas vormachen, bestenfalls uns etwas suggerieren uns einreden, uns sagen: Wird schon wieder. – Das muss nicht schlecht sein, aber Beten ist mehr. Es ist genau genommen die Umkehrung des Selbstgesprächs. Ich sage nicht nur zu meiner Seele: Denk mal an Gott, sondern ich sage zu Gott: Denk mal an meine Seele.
Wie ein Hirsch nach frischem Wasser schreit, so schreit meine Seele zu dir, Gott. Sieh an, wie es mir in meinem Innersten geht: Da bin ich kurz vorm Verdursten. Ich mag ja äußerlich stark sein und gefasst wirken. Dir, Gott, sage ich, wie es wirklich in mir aussieht.
Und ich lasse Gott hineinblicken in meine Seele, zeige ihm meine Angst und meine Einsamkeit. Sage ihm meine größte Not, nämlich dass ich so wenig sehe und höre von Gott. Deinen Gott kannst du vergessen, sagen die Leute. Dein Gott hat dich vergessen, sagen die Leute. Aber das darf doch nicht wahr sein. Gott kann mich nicht vergessen haben. Und ich möchte Gott unter keinen Umständen vergessen. Denn Gott nahe zu sein, ist mein Glück. Und jetzt, wo Gott fern ist, wo Angst und die Einsamkeit am Größten sind, da möchte ich Gott zum Reden bringen, meine Seele getröstet wissen, und wieder Menschen um mich, mit denen ich mein Glück teilen kann.
Denn am Ende brauchen wir nicht nur das Gespräch mit Gott und das Gespräch mit der eigenen Seele, sondern auch das Gespräch mit den anderen Menschen. Und am besten ist es, wenn wir andere Menschen haben, mit denen wir dann auch über Gott und die Seele reden können. Der Psalmdichter erinnert sich an die Gemeinschaft der Menschen auf dem Weg zum Gotteshaus. Das war gut, damals, sagt er sich, sagt er Gott, sagt er uns.
Und genau so möge es wieder sein, wünscht er sich, bittet er Gott, schildert er uns: dass ich hineingehe zum Altar Gottes, zu dem Gott, der meine Freude und Wonne ist, und dir, Gott auf der Harfe danke, mein Gott. – Da sind sie beieinander: Der Mensch und sein Mitmensch, der Mensch und seine Seele, der Mensch und Gott. Da sind sie beieinander in der Gottesdienstgemeinde. Im Singen und Beten, im Loben und Danken. Und im heiligen Schweigen.
Gewiss, liebe Schwestern und Brüder, das ist ein Ideal. Aber manchmal kommen wir ihm nahe: manchmal kommt Gott uns nahe und wir selbst uns nahe und wir einander nahe. Und dann kommt vielleicht sogar der Augenblick, wo wir so eins, so beieinander sind, dass es keine Worte mehr braucht.
Heute feiern wir wieder Heiliges Abendmahl. Da könnte es so sein: dass wir eins werden mit Gott, mit uns selbst, mit unserem Nächsten. Da muss unsere Seele nicht mehr schreien und wir glauben und erfahren es gemeinsam, dass Gott unseres Angesichts Hilfe und unsere Gott ist.