Samstag, 31. August 2013

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Sonnabend, dem 31. August 2013


Guten Morgen, liebe Hörer,

heute möchte ich Ihnen eine besonders drastische Gleichnisgeschichte von Jesus (Lukas 16, 1-9) nahebringen:

Ein reicher Mann hatte einen Verwalter über seine Güter; der wurde angeschwärzt, dass er das Eigentum seines Chefs vergeuden würde. Daraufhin entließ ihn sein Chef. Da es damals keine Abfindungen und auch keine Arbeitslosen- oder Rentenversicherung gab, stand dieser Mann plötzlich vor dem Nichts. Sich mit einfachen Arbeiten die Hände schmutzig machen oder betteln gehen wollte er nicht. Und so machte er sich ans Werk und inszenierte einen riesigen Betrug. Er rief die Schuldner seines Herrn und änderte ihre Schuldscheine. Statt hundert Fässer Öl, stand da nur noch etwas von fünfzig Fässern. Statt hundert Sack Weizen stand da nur noch achtzig. Und so weiter. Was man ihm zuerst nur vorgeworfen hatte, das machte er jetzt wirklich: das Eigentum seines Chefs verschleudern. Dafür standen die Schuldner seines Herrn jetzt auch in seiner Schuld. Er hatte etwas für sie getan; nun konnte er erwarten, dass sie auch etwas für ihn taten. Und weil sie ja an dem Betrug beteiligt waren, hatte er sie in der Hand. Sie mussten ihn jetzt mit versorgen. Und er hatte ausgesorgt.

Eine böse Geschichte. Und die Pointe ist eigentlich ungeheuerlich, denn Jesus lobt diesen untreuen Verwalter und stellt ihn seinen Leuten als Vorbild hin.

Wieso das? Er sagt, die Kinder dieser Welt seien klüger als die Kinder des Lichts. Und ich glaube, da ist was dran. Viele Christen, die ich kenne, ich eingeschlossen, sind oft genug lieb und treu, naiv und gutgläubig und können mit der Gerissenheit der anderen gar nicht mithalten. – Das finde ich schon bedenkenswert: Christen müssen nicht doof sein!

Aber wenn wir nicht doof sind, dann verstehen wir auch, dass Jesus uns mit dieser haarsträubenden Geschichte nicht sagen will, dass wir das Vermögen unseres Chefs veruntreuen und andere bestechen sollen. Er will uns sagen, dass wir, wie dieser Verwalter an unsere Zukunft denken sollen. Haben wir vorgesorgt für morgen? Haben wir auch vorgesorgt für die Zeit, wenn wir aus diesem Leben entlassen werden?

Haben Sie eigentlich schon mal darüber nachgedacht?

Freitag, 30. August 2013

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Freitag, dem 30. August 2013


Guten Morgen, liebe Hörer,

gestern habe ich die kleine Beispielgeschichte von Jesus erzählt: von dem Landwirt, der einfach seine Ernte heranwachsen lässt, ohne etwas zu tun. Er muss einfach nur warten und es wachsen lassen.

Jesus hat diesem Gleichnis noch eine kleine Ergänzung hinzugefügt (Matthäus 13, 24-30). Da kommen die Knechte dieses Mannes aufgeregt vom Feld und berichten: Es wächst lauter Unkraut zwischen dem guten Weizen. So viel, so schlimm, dass sie vermuten, dass da einer bewusst Unkraut ausgesät hat, um Schaden anzurichten. Jetzt, sagen die Knechte, ist es mit dem Warten und Wachsenlassen aber vorbei. Sollen wir etwas unternehmen und das Unkraut ausjäten? – Aber ihr Herr sagt: Nein. Ihr könntet ja etwas von dem guten Weizen mit ausreißen. Lasst lieber beides miteinander wachsen. Bei der Ernte kann das Unkraut besser von dem guten Weizen getrennt und verbrannt werden.

Das Warten kann so richtig schwer werden, wenn auch Schlechtes wächst und man nichts dagegen tun kann. Wenn Unkraut wächst und die Ernte gefährdet.

Immer wieder haben Menschen – im Grunde genommen mit den besten Absichten – andere für Unkraut erklärt und mit Gewalt bekämpft: die Volksfeinde und Klassenfeinde, die rassisch und sozial Minderwertigen, die Ketzer und die Ungläubigen. Auch die Kirche hat das getan – trotz dieses Gleichnisses Jesu. Statt es Gott und dem jüngsten Gericht zu überlassen, die Guten von den Bösen zu scheiden, wollte man vorher schon selber das Himmelreich auf Erden schaffen, wo nur noch das Gute wächst und alle schädlichen Einflüsse ausgerottet sind. Aber das funktioniert nicht. Wer das Böse ausrotten will, steht in der großen Gefahr, darüber selber böse zu werden.

Zu den großen Herausforderungen des Lebens gehört es, dass wir es aushalten müssen, dass zwischen vielem Guten auch viel Schlechtes wächst, dass manchmal sogar der Teufel seine Hand im Spiel hat. Das Schlimmste aber ist nicht das böse Unkraut, das er aussäht; das Schlimmste ist, wenn es ihm gelingt uns selber böse zu machen.

Ich möchte es mit Geduld ertragen, dass in dieser Welt auch Unkraut wächst. Und ich kann es mit Geduld ertragen, weil ich weiß, dass am Ende das Gute zählt, das gewachsen ist.

Donnerstag, 29. August 2013

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Donnerstag, dem 29. August 2013


Guten Morgen, liebe Hörer,

in den Bildern und Gleichnissen Jesu, die ich die vergangenen Tage erzählt hatte, ging es vor allem darum, was wir tun sollen. Es war die Rede von Menschen, die aktiv werden für das Reich Gottes: ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen, mit ihren Pfunden wuchern, verborgene Schätze gewinnen. Aber unser Tun, unsere Aktivitäten –  das ist nur die eine Seite.

Jesus erzählt umgekehrt auch Gleichnisse, wo er das Nichts-Tun lobt, das passive Warten.

Zum Beispiel erinnert er daran, wie es in der Landwirtschaft ist 
(Markus 4, 26-29)
: Nachdem der Landwirt die Saat ausgebracht hat, muss er einfach warten, dass die Feldfrucht heranreift. Der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen. Wenn die Frucht reif ist, kommt die Ernte. So beschreibt es Jesus. – In der Natur gibt es Wachstumsprozesse, die der Mensch nur wenig beeinflussen kann. Er muss einfach nur warten. Es wächst von allein.

Manchem fällt das Warten schwer. Er wird ungeduldig. Aber seine Ungeduld bringt nichts. Wenn er an den kleinen Halmen ziehen würde, damit sie schneller wachsen, würde er sie schlimmstenfalls ausreißen. Wenn er zu viel gießen und düngen würde, könnte er das Pflänzchen sogar umbringen. Schon mancher hat seine Topfpflanzen totgegossen.

Ich denke an andere Wachstumsprozesse. Eltern tun oft sehr viel für ihr heranwachsendes Kind: Frühförderung, Sport, Ballett und Hausaufgabenhilfe... Für unbeaufsichtigtes Spielen und Toben bleibt heute, wie man hört, nur wenig Raum und Zeit. Ich frage mich manchmal: Werden da Kinder so ähnlich er-zogen, wie man an der kleinen Pflanze zieht, um sie zum Wachsen zu bringen? Oder gießt man sie tot mit all dem, was man für sie tut? Sollte man sie nicht lieber einfach aus sich selber heraus wachsen lassen?

Jesus spricht eigentlich vom Reich Gottes. Und, ja, in der Kirche ist die Ungeduld auch groß. Endlos werden neue Konzepte und Aktivitäten entworfen und ausprobiert, damit die Kirche wieder wächst. Dass wir Wachstum nicht schaffen können und dass es vielleicht auch ausreichen würde, einfach das ganz Normale zu tun und es einfach wachsen zu lassen, glaubt kaum noch jemand. Vielleicht fehlt uns da sogar das Gottvertrauen?

In einem guten, alten Kirchenlied heißt es: Segne unser Tun und Lassen. Lassen wir es doch einfach wachsen!

Mittwoch, 28. August 2013

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Mittwoch, dem 28. August 2013


Guten Morgen, liebe Hörer,

da hat doch einer tatsächlich diesen kleinen Schatz, den ihm sein Herr anvertraut hat, in der Erde vergraben. So war es in der Gleichnisgeschichte Jesu, die ich gestern erzählt habe. Da ist der Schatz sicher, hat er sich gedacht. Sicherer, als wenn ich damit spekuliere. Aber er hat falsch gedacht. Geld, mit dem man nicht handelt, ist totes Kapital, nutzlos. Gott will das nicht.

Und nun, stellen Sie sich vor, ein anderer stößt zufällig auf diesen Schatz. Jesus erzählt, wie einer, wahrscheinlich bei der Feldarbeit auf eine Schatzkiste stößt (Matthäus 13, 44). – Was kann er tun? – Er kann sie nicht einfach mitnehmen, das würde auffallen. Also kauft er das Feld, wo der Schatz liegt. Da keiner außer ihm von dem Schatz weiß, kann er das Feld günstig kaufen und hat das Mehrfache seines Wertes dazugewonnen – durch den Schatz im Acker.

Genau so ist es mit dem Reich Gottes, sagt Jesus.

Merkwürdig. So ganz ehrlich und legal ist das nicht, was da geschieht. Ein ehrlicher Finder hätte den Besitzer des Feldes darauf aufmerksam gemacht und sich mit einer kleinen Belohnung für den Fund zufriedengegeben. Aber er trickst und betrügt ein bisschen und kommt so an den ganzen Schatz. Schon gestern bei der Geschichte von den anvertrauten Talenten kamen ja die am besten weg, die die größten Spekulationsgewinne gemacht haben. – Hält Jesus es gar mit den Betrügern und Spekulanten, den Finanzhaien und Heuschrecken? – Vielleicht …

Eigentlich aber sind das ja Gleichnisse: So oder so ähnlich ist es mit dem Reich Gottes, sagt Jesus. Im Reich Gottes geht es nicht um Geld und irdische Schätze, sondern es geht um den größten Schatz, der wertvoller ist als alles, was man auf Erden gewinnen kann. Es geht um die Seligkeit, um die ewige Gemeinschaft mit Gott. Wenn ihr schon für ein irdischen Gewinn bereit seid, alles einzusetzen, zu spekulieren und sogar den Weg der Legalität zu verlassen, wie viel mehr solltet ihr bereit sein, einzusetzen für den himmlischen Gewinn, für das ewige Leben?

Und was ist für Sie wirklich wertvoll? Wofür würden Sie alles geben?

Dienstag, 27. August 2013

Zündfunke (Rundfunkandacht) am Dienstag, dem 27. August 2013


Guten Morgen, lieber Hörer,

gestern habe ich an das sprichwörtliche Licht erinnert, das man doch bitte nicht unter den Scheffel stellen soll. Geradezu die Steigerung zum Licht-unter-den-Scheffel stellen, ist es, seine Talente zu vergraben.

Jesus erzählt die Geschichte (Matthäus 25, 14-30) von einem Mann, der für eine Zeit längerer Abwesenheit sein Geldvermögen an seine Angestellten übergibt. Einer erhält von ihm 5.000 Goldstücke, ein zweiter 2.000 Goldstücke und der dritte 1.000 Goldstücke. Als er nach langer Zeit zurückkommt, fragt er seine Angestellten, was aus seinem Geldvermögen geworden ist. Der erste übergibt ihm stolze 10.000 Goldstücke. Er hat das anvertraute Vermögen seines Chefs verdoppelt. Der zweite präsentiert 4.000 Goldstücke. Auch er hat das, was ihm anvertraut war, verdoppelt. Und der dritte? Er ergeht sich in Vorwürfen gegen das gierige Finanzgebaren seines Chefs und bringt zugleich zum Ausdruck, dass er Angst hatte, Risiken einzugehen. So hat er das Geld gut versteckt – vergraben, sagt Jesus – und gibt dem Chef nun die 1.000 Goldstücke zurück, die er bekommen hatte. Der Chef ist ziemlich zornig auf diesen dritten Angestellten. Er hätte das Geld doch wenigstens zur Bank bringen können, um noch Zinsen zu kassieren, sagt er und nimmt ihm die 1.000 Goldstücke ab und gibt sie dem, der 10.000 erwirtschaftet hat, zur Belohnung.

In der Sprache der Bibel heißen die jeweils tausend Goldstücke Talente. In einer anderen Fassung der Geschichte ist auch von Pfunden die Rede. Daher kommt der Ausdruck: mit seinen Pfunden wuchern. So wie es die ersten beiden Angestellten in der Geschichte getan haben und wie es der Chef erwartet. Umgekehrt kann man aber auch wie der dritte seine Talente vergraben.

Was Jesus damit sagen will, ist eigentlich klar: Gott hat jedem Menschen Gaben gegeben, unterschiedlich viel, aber jedem etwas. Und jeder kann mit diesen Gaben, mit seinen Talenten etwas anfangen, mehr daraus machen. Keiner muss sie in der Erde verstecken.

Wenn Gott uns etwas anvertraut, Gaben, Talente, Glück, Schönheit, Reichtum, dann sollten wir etwas daraus machen, etwas, was Gott gefällt.

Montag, 26. August 2013

Zündfunke (Rundufunkandacht) am Montag, dem 26. August 2013


Guten Morgen, liebe Hörer,

Man sagt, er war ein Dichter. Seine Worte hatten Stil.
Wer ihn hörte, schwieg betroffen, und ein Sturm war plötzlich still.
Seine Bilder und Vergleiche waren schwierig zu verstehn,
doch die Leute saßen stundenlang, ihn zu hören und zu sehen.*

So geht eine Liedstrophe, in der natürlich von niemand anderem als von Jesus die Rede ist. Nach allem, was uns die Evangelien überliefern, muss Jesus ein faszinierender Redner gewesen sein, der es verstanden hat, mit einfachen Bildern und Geschichten die Menschen in seinen Bann zu ziehen. Wir kennen seine großen Reden wie die Bergpredigt. Und wir kennen seine kleinen, aber oft ganz tiefsinnigen und hintergründigen Gleichnisse. Einige davon möchte ich in dieser Woche vorstellen beziehungsweise in Erinnerung rufen.

Ein ganz einfaches Gleichniswort Jesu zu Beginn, das kennen wir alle, weil es sprichwörtlich geworden ist: Man zündet nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind (Matthäus 5, 15). – Ganz kurz, ganz einfach, ganz klar.

Was für das Licht selbstverständlich ist – es soll allen leuchten –, das ist im übertragenen Sinne nicht immer selbstverständlich.

Da hat eine Chorsängerin eine glockenklare Stimme und sie wird gebeten, das Solo zu singen. Aber sie sagt: „Das ist doch nichts. Ich kann das nicht so gut.“ – Sie stellt ihr Licht unter den Scheffel.

Eine andere malt in ihrer Freizeit wunderbare Bilder. Ihre Freunde sagen: „Das ist großartig. Mach doch eine kleine Ausstellung.“ Aber sie findet: „Das ist nicht so toll. Ich muss mich doch nicht so wichtig machen.“

Solche und ähnliche Sätze habe ich schon oft gehört: „Ich bin nicht so toll. Ich bin nicht so wichtig. Andere können das besser …“ – Es sind Sätze falscher Bescheidenheit. Da stellt jemand sein Licht unter den Scheffel.

Jesus sagt: Bitte keine falsche Bescheidenheit! Zeig, was du kannst und wer du bist! Es ist geradezu Gottes Auftrag für jeden von uns, dass wir unser Licht leuchten lassen. Was bei euch Gutes ist, das soll man auch sehen. So wird die ganze Welt besser und heller. Ihr seid das Licht der Welt, sagt Jesus.



* Man sagt er war ein Gammler, dt. Text Andreas Malessa

Sonntag, 18. August 2013

Predigt am 18. August 2013 (12. Sonntag nach Trinitatis)

Jesus und seine Jünger kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre. Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: „Siehst du etwas?“ Und er sah auf und sprach: „Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen.“ Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, sodass er alles scharf sehen konnte. Und er schickte ihn heim und sprach: „Geh nicht hinein in das Dorf!“
Markus 8, 22-26


… I once was lost, but now I’m found,
was blind, but now I see.
Wieder fällt mir gleich eine Liedzeile ein: Ich war einst verloren, aber jetzt bin ich gefunden, war blind, aber jetzt sehe ich. – Amazing Grace – Erstaunliche Gnade!
Auch diese kleine Geschichte, liebe Schwestern und Brüder, von der Heilung eines Blinden ist eine Geschichte von der erstaunlichen Gnade.
Für mich eine Geschichte, die mir besonders nahe geht, mich berührt. Und die mir doch auch ein bisschen fern und fremd ist.
Nahe ist mir diese Geschichte, weil das Schicksal der Blindheit für mich, wahrscheinlich für viele von uns, nicht fern und fremd ist. Wir kennen Menschen, die blind sind oder deren Sehvermögen eingeschränkt oder bedroht ist.
Ich denke an eine alte Tante von mir, die ich neulich in Deutschland getroffen habe und die durch ihre zunehmende Erblindung immer mehr eingeschränkt ist. „Nein, ich fahre nicht mehr weg“, sagt sie, „ich kann ja nicht mal mehr die Speisekarte lesen.“ Ihr Mann, der ihr hätte helfen können, ist schon vor ein paar Jahren gestorben. Ihre Freundinnen und Nachbarinnen aus dem Betreuten Wohnen werden auch nicht jünger. Bleiben Verwandte, die mal was mit ihr unternehmen.
Ich denke an ihre jüngere Schwester, meine Mutter, die schon seit ihrer Jugend auf einem Auge blind ist. Was, wenn ihr anderes Auge auch schwach wird? Wo sie doch das Sehen, das genaue Hinsehen zu ihrem Hobby gemacht hat in den Jahren ihres Ruhestands: Sie malt. Wie wäre das, wenn sie das Malen aufgeben müsste?
Wenn das Augenlicht schwindet, wird unsere Welt kleiner und enger. Wir können immer weniger tun. Wir bekommen immer weniger mit. Wir sind auf unsere anderen Sinne angewiesen. Radiohören statt Fernsehen. Stimmen erkennen statt Gesichter. Tastend und suchend den Weg finden, statt forschen Schrittes vorangehen. – Erblinden, wenn man einmal gesehen hat, das ist ein Stück Abschiednehmen von der Welt.
Ich denke an Andreas, der vor einem Jahr mit hier auf der Insel war und der im so genannten besten Alter sein Augenlicht verloren hat. Er hat sich möglichst wenig einschränken lassen, hat auch bewusst diese Reise gemacht, wo ein anderer sagen würde: „Ich sehe doch sowieso nichts.“ – Er hat gesehen: Mit den Ohren hat er den Wind gehört, der in den Palmen anders klingt als in den Linden seiner Heimat. Er hat die Brandung des Ozeans gehört, die anders klingt als die Wellen der Ostsee. Er hat die Beschreibungen und Erzählungen seiner Begleiterin und seiner Gastgeber gehört, die ihm eine Vorstellung vermittelt haben von dem, was er nicht sehen konnte. Mit seinen Händen hat er getastet: Wie ist die Struktur der Wände und der Schnitzornamente der Türen an kanarischen Häusern? Welche Form hat eine Skulptur, die da steht? Mit seinem Körper hat er das Wasser gespürt und auch die Gewalt der Wellen, wenn ihn jemand im Wasser begleitet und gehalten hat. Und er hat sogar mit seinen Augen gesehen: Als am Abend der Vollmond am Himmel stand, da hat er mit unserer Hilfe diese helle Lichtquelle am Himmel gefunden und gesehen. Und vielleicht, sicher hatte er das klare Bild des Mondes innerlich vor Augen: rund und schön. – Vielleicht ist so eine Reise nach Teneriffa für Andreas auch ein bisschen Abschiednehmen. Vielleicht wird es bald nicht mehr möglich sein so. – Aber vielleicht war es für ihn auch so was wie Amazing Grace – erstaunliche Gnade. – Ein Blinder, der neu und anders sehen lernt. Weil er es will; weil er Menschen hat, die ihm dabei helfen; und weil er Gottvertrauen hat.
Und da bin ich dann auch bei der Geschichte von der Blindenheilung Jesu. Dieser Blinde hat, was Andreas auch hat: Menschen, die ihm helfen, neu sehen zu lernen. Er ist nicht der einsame blinde Bettler, sondern der, der andere an seiner Seite hat, die ihm helfen und die ihn jetzt zu Jesus hinbringen. Er hat ein Zuhause, wohin er wieder zurückkehren kann. Und er hat Gottvertrauen: Er lässt sich helfen, er traut Jesus zu, ihm helfen zu können. Das sind gute Voraussetzungen. Wo es dagegen kein Vertrauen und keine Hoffnung mehr gibt und wo keine Menschen sind, die einen begleiten, da kann es nicht besser, sondern nur noch schlechter werden.
Ja, und dann ist da die Begegnung mit Jesus. Persönlich. Seine Freunde und Helfer bringen ihn zu Jesus hin, und dann bleiben sie zurück. Jesus nimmt ihn bei der Hand und führt ihn hinaus vor das Dorf.
Bis dahin, bis zu Jesus konnten seine Mitmenschen ihn bringen, ihm helfen. Dann sind sie mit ihren Möglichkeiten am Ende. Dann müssen sie ihn loslassen. – Ja, so ist das mit unserer Hilfe. Wir können nur bis zu einem gewissen Punkt etwas machen, und dann müssen wir loslassen. Dann kann es geschehen, dass die erstaunliche Gnade Gottes zum Zuge kommt. Oder auch nicht. Wir haben es nicht in der Hand.
Es ist für mich ein tröstliches Bild. Wir können viel tun. Wir können Menschen begleiten. Wir können mit Menschen reden und beten. Wir können ihnen zeigen und erklären, was wir sehen und glauben. Aber wir können ihnen nicht selber die Augen öffnen, können sie nicht heilen, können sie nicht zum Glauben bringen. Das muss ein anderer tun. Und darum bringen wir Menschen zu Jesus und überlassen sie ihm.
Am Ende entlässt Jesus den Blinden geheilt nach Hause. Er hat seinen Platz im Leben. Aber er wird ihn neu sehen und sein Leben von jetzt an völlig neu gestalten. Jesus schenkt ihm Licht und Klarheit, und er kann ein neues Leben beginnen: Amazing Grace – erstaunliche Gnade!
So ist mir diese Geschichte nahe.
Und nun zu dem, was mir fern und fremd ist: Das, wie Jesus hier handelt. Ich finde es toll, wenn Jesus durch Worte oder durch seine Gegenwart heilt: Dein Glaube hat dir geholfen! Ich finde es befremdlich, wenn Jesus obskure Methoden antiker Heilpraktiker anwendet: Speichel auf die Augen. Körperflüssigkeiten als Medizin. Wie eklig! Muss das sein?
Wenn ich drüber nachdenke, könnte ich es auch anders verstehen. Jesus wendet schließlich ein Mittel an, das damals durchaus zum Behandlungsstandard gehörte. Gerade daran haben sich manche gestört, dass Jesus hier nichts anderes tut, als andere Heiler seiner Zeit auch. Aber vielleicht ist es gerade das: Die Hilfe durch Jesus schließt die Hilfe durch die Möglichkeiten menschlicher Medizin nicht aus. Wir würden es heute nicht mit Speichel versuchen, aber mit Salben, Tropfen oder Laser. Und Jesus würde sagen: „Mach das mal und dann kommt mein spezieller Segen noch dazu. Ich berühre dich. Ich lege dir die Hand auf.“
Mein Hausarzt in Deutschland war – bzw. ist – ein gläubiger Christ. Manchmal, nachdem wir das Befinden und die Behandlung durchgesprochen hatten, haben wir zusammen gebetet. Und ich weiß, dass er das mit manchen anderen Patienten auch so gemacht hat. So soll es sein: die Möglichkeiten der Hilfe, die Gott uns Menschen mit unserer wissenschaftlichen Naturerkenntnis und medizinischen Erfahrung an die Hand gegeben hat, die sollen zum Zuge kommen. Und die persönliche, heilsame Berührung Jesu ebenso. Wenn es uns dann wieder gut geht – dann ist es Gottes erstaunliche Gnade – amazing grace – so oder so.
Noch etwas befremdet mich, oder verwundert mich zumindest: der zweistufige Heilungsprozess. Nach der Speicheltherapie und der Handauflegung fragt Jesus den Mann: Siehst du etwas? Und er antwortet mit diesem merkwürdigen Satz: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen. Und erst nach einer zweiten Handlauflegung kann er klar und deutlich sehen. Hätte Jesus nicht, wie sonst auch, in einem Zuge richtig heilen können? Wahrscheinlich hätte er. Aber habe ich, haben wir ihm das vorzuschreiben? – Lassen wir Jesus, lassen wir Gott wirklich die Freiheit, so zu handeln wie er es für richtig hält?
Was wäre, wenn es dabei geblieben wäre, dass der Blinde zwar sehen, aber eben doch nur unscharf sehen konnte? Immerhin: Bäume die sich bewegen, sind dann doch als Menschen zu identifizieren. Besser als gar nichts.
Jesus hält es diesmal für richtig, sich nicht mit wenig, mit dem halb vollen Glas, zufrieden zu geben. Er gibt vollkommene Heilung, klare Sicht. – Er muss das nicht. Aber er kann.
Noch ein markanter Satz steht da: Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, dass er alles scharf sehen konnte. – Vielleicht ein Satz, der die Geschichte bewusst auf eine andere Ebene hebt: Ein Mensch wird zurechtgebracht. Er bekommt wieder klare Sicht.
Und da denke ich an all die Blindheit, die nicht mit dem Verlust des Augenlichts einhergeht, sondern mit dem Verlust der Übersicht, des Durchblicks in einer verworrenen Welt und einer verworrenen Zeit. Es ist so vieles, das wir nicht klar sehen und nicht wirklich verstehen: Es sieht aus wie Bäume, aber wir sehen den Wald nicht. Es sieht aus wie Menschen, aber wir sehen nicht, was in ihnen vorgeht. Es sieht aus, wie etwas Gutes, aber es ist böse. Es sieht aus, wie etwas Böses, aber es dient zum Guten. Es sieht aus, wie ein Muster, aber es hat keinen Sinn.
Wie großartig, wenn jemand wieder klare Sicht gewinnt! Wenn einer zurechtgebracht wird und wieder klar sehen kann! Auch und gerade das ist erstaunliche Gnade, wie Jesus sie schenkt: Amazing Grace:
Ich war einst verloren, aber jetzt bin ich gefunden, war blind, aber jetzt sehe ich.
Wunderbar, wenn das geschieht!

Sonntag, 11. August 2013

Predigt am 11. August 2013 (11. Sonntag nach Trinitatis)

Ich singe dir ein Liebeslied,
dir, mein Retter, dir, mein Jesus.
Du hast so viel für mich getan,
mein Erlöser, kostbarer Jesus
Mein Herz ist froh, denn du nennst mich ganz dein.
Es gibt keinen Ort, wo ich lieber wär
als in deinem liebenden Arm,
in deinem liebenden Arm.
Halte mich fest, ganz nah bei dir,
in deinem Arm.

Liebe Schwestern und Brüder,
mit diesen Worten singt und klingt ein frommes Lied aus heutigen Tagen. Und ich bin befremdet, nein sogar peinlich berührt: Das Vokabular popmusikalischer Liebeslyrik angewendet auf Jesus: Halt mich fest in deinem liebenden Arm.
In Love With Jesus heißt eine Reihe von Liederbüchern mit so genannten Lobpreisliedern. – In Jesus verliebt? – Kann man das so übersetzen? – Mir geht das zu weit.
Immerhin, das Phänomen ist älter. Schon vor Jahrhunderten haben fromme Seelen von ihrem Bräutigam Jesus geschwärmt, wollten ihn an ihr Herz drücken und sich in seiner Seitenwunde verlieren … – Aber auch diese barocken Ausdrucksformen von Jesus-Frömmigkeit befremden uns heute eher. Viele dieser Strophen sind  aus den Gesangbüchern verschwunden, und was noch übrig geblieben ist, singen wir eher nicht.
Verliebt in Jesus? Mich in seine liebenden Arme fallen lassen. – Nein danke!
Sicher, mir ist Jesus ganz wichtig. Ich achte ihn. Ich vertraue ihm. Er ist mein Freund; das kann ich sagen. Und ich weiß auch, wie viel er für mich getan hat. Aber: Jesus, ich liebe dich! – das würde mir nur schwer über die Lippen kommen.
Hört eine Liebesgeschichte mit Jesus aus dem Lukasevangelium im 7. Kapitel …

Einer der Pharisäer bat Jesus, bei ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch. Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als sie vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl. Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: ‚Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin.‘ Jesus antwortete und sprach zu ihm: „Simon, ich habe dir etwas zu sagen.“ Er aber sprach: „Meister, sag es!“ „Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Das sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er’s beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben?“ Simon antwortete und sprach: „Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat.“ Er aber sprach zu ihm: „Du hast recht geurteilt.“ Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: „Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt, wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Und er sprach zu ihr: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Da fingen sie an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: „Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt?“ er aber sprach zu der Frau: „Dein Glaube hat dir geholfen, geh hin in Frieden!“

In love with Jesus – Verliebt in Jesus ist offensichtlich diese Frau, von der uns Lukas erzählt. Sie nähert sich ihm in Tränen aufgelöst, aufgelöst ist auch ihr Haar, küsst seine Füße und reibt sie mit Salböl ein: Eine erotische Fußmassage für Jesus, um das Mindeste zu sagen. Oder hingebungsvolle Gesten der Liebe. Ob sie vielleicht verwirrt ist, geistig gestört, die Nähe zu ihrem Jesus Christ Superstar sucht?
Auf jeden Fall ist die Szene befremdlich und peinlich. Ich bin da eigentlich ganz bei dem Gastgeber Simon, der meint: Das geht gar nicht!
Zumal Simon weiß: Diese Frau ist eine Sünderin. – Was das heißt? – Genau das, was dir gleich dabei einfällt: Sie ist eine Prostituierte, eine Hure. Wahrscheinlich die Dorfnutte. Und was sie da tut, ist wohl nur das, worauf sie sich am besten versteht: Anmache eines neuen Freiers. – Jesus müsste das doch wissen und durchschauen – als Prophet, der er angeblich ist!
Jesus durchschaut alles, aber vor allem durchschaut er Simon und weiß, was ihm gerade durch den Kopf geht. Er antwortet nämlich laut und vernehmlich auf Simons unausgesprochene Gedanken.
Jesus erzählt dem Simon eine kleine Beispielgeschichte. Von erlassenen Schulden und von Liebe und Dankbarkeit. Klar: Wem viele Schulden erlassen sind, der sollte seinem Gläubiger auch dankbarer sein als der andere, dem nur ein bisschen was erlassen worden ist. Er sollte ihn mehr lieben, sagt Jesus.
Da scheint wirklich etwas dran zu sein. Das habe ich schon vor vielen Jahrzehnten beobachtet: Diejenigen, die am meisten für Jesus brennen, die am meisten ergriffen sind vom Evangelium, die am überzeugtesten und am überzeugendsten Christen sind, die am ehesten von sich sagen würden, dass sie Jesus lieben, das sind oftmals diejenigen, die zuvor die größten Sünder gewesen sind und ein völlig gottloses Leben geführt haben. Ich schäme mich dann immer ein bisschen, dass ich nicht so bin wie sie, sondern immer etwas vorsichtiger und mit hunderten Dingen beschäftigt, die mir außer Jesus auch noch wichtig sind. Ich fühle mich wie der, dem zwar auch fünfzig Silberstücke an Schulden erlassen worden sind, aber nicht fünfhundert oder fünftausend wie bei so einem richtig üblen gottlosen Verbrecher. Und vielleicht hängt es ja auch genau damit zusammen, dass mich solche überschwänglichen Liebesausbrüche für Jesus eher befremden und peinlich berühren. Ja, ich bin da schon bei dem Pharisäer Simon …
Und der ist mit dem kleinen Gleichnis ja auch gemeint. Klarer Fall! Zu wenig geliebt! Aber die Frau mit ihrer überschwänglichen Öl-und-Tränen-Aktion steht groß da: So viel Liebe für Jesus! Und ich habe ihn nicht mal auf die Wange geküsst!
Jesus ist mehr als ein Prophet. Er durchschaut nicht nur alles, stellt die Dinge mit seinen Worten nicht nur in ein anderes Licht. Er verändert alles, er schafft eine neue Wirklichkeit.
Denn es mag ja zunächst tatsächlich so gewesen sein, wie es den Anschein hatte: Da macht sich eine auf unschickliche Art an Jesus heran. Vielleicht von Berufs wegen. Vielleicht weil sie hingerissen ist von diesem Mann: In Love With Jesus – verliebt in Jesus, und sie weiß es nicht anders auszudrücken, als sie es halt gelernt hat. – Und erst die Worte Jesu verändern diese peinliche Situation, machen etwas ganz Anderes daraus. Das Zweideutige wird eindeutig: Es ist Liebe und nicht nur Erotik, es geht um Vergebung und nicht um Verführung.
Man könnte meinen, Jesus trickst hier. Die zweideutigen Zärtlichkeiten deutet er um zu einem Ausdruck der Dankbarkeit. – Dankbarkeit wofür? – Für das Dir sind deine Sünden vergeben, das Jesus erst danach ausspricht? – Und die Dankbarkeit deutet er um in Liebe. Wem ich dankbar bin – muss ich den denn auch lieben? – Und am Ende deutet er diese Liebe um in Glauben: Dein Glaube hat dir geholfen. – Aus einer zweideutigen erotischen Geste macht Jesus einen Glaubensakt, einen Gottesdienst.
Simon und seine Tischgäste bleiben einigermaßen ratlos zurück: „Darf der denn das, Sünden vergeben?“ Und ich bin wieder ganz bei Simon und seinen ratlosen Gästen: Darf der denn das, die Wirklichkeit so zurechtbiegen, dass aus diesem Akt der erotischen Annäherung an Jesus ein Akt des Glaubens, der Vergebung und der Dankbarkeit wird?
Ich bin immer noch ganz bei Simon. Er nennt Jesus Meister. Das heißt, er will sein Schüler sein, will von ihm lernen. Das will ich auch. – Was kann ich hier von Jesus lernen?
Ich lerne von Jesus, dass er es offensichtlich darf, die Wirklichkeit neu zu interpretieren im Sinne der Liebe. Und ich lerne, dass es vor allem seine Liebe ist, die größer ist als die Liebe, die er von einem ehrlichen Schüler wie Simon erfährt, und die auch größer ist als die Liebe, die ihm diese Frau entgegenbringt. Seine Liebe ist größer, weil sie nicht urteilt und verurteilt und weil sie das, was sie sieht, zum Besten deutet. Es kann ja sein, dass die Salbung seiner Füße alles mögliche war: eine Mischung aus Verliebtheit, Verlegenheit und dem Handwerk einer Prostituieren. Jesus macht es durch seine Worte zu etwas Anderem: Hier ereignet sich Glaube und Buße, Liebe und Dankbarkeit in einem. Es kommt in diesem Moment auch nicht darauf an, ob der Glaube zuerst da ist oder die Liebe, und ob die Dankbarkeit schon vor der empfangenen Vergebung kommt. Es ist ein umfassender Moment des Glaubens, der Liebe und der Lebenswende eines Menschen.
Die Frau geht verändert weg von Jesus. Weil sie verändert ist durch Jesus. Sie braucht die zweideutige körperliche Nähe und Zuwendung Jesu jetzt nicht mehr, denn sie weiß sich eindeutig geliebt.
Was für eine Liebe! Nicht die Liebe, mit der Jesus von manchen seiner Freunde und Anhängerinnen geliebt wird. Sondern die Liebe, mit der er Menschen liebt, sie verändert und befreit. Und dabei sogar ihre Liebe verändert und befreit.
Ich glaube, nicht nur diese Frau ist verändert und befreit nach Hause gegangen. Ich glaube, auch Simon ist durch diese Begegnung in seinem Haus verändert worden. Er hat etwas gelernt über die Art und Weise, wie Jesus liebt und wie er durch seine Liebe die Wirklichkeit verändert. Von der Liebe Jesu lernen – auch da möchte ich ganz bei Simon sein.
In Love With Jesus? – Nein, ich würde solche Worte immer noch nicht gebrauchen, um meine Beziehung zu Jesus zu beschreiben. Aber ich verstehe, dass sie ein Ausdruck dafür sein können, was Jesus einem Menschen bedeutet, dem er mit seiner Liebe begegnet ist.

Ich singe dir ein Liebeslied … – Das lasst uns jetzt tun in einer etwas älteren Form …
Predigtlied: Ich will dich lieben meine Stärke (EG 400, 1-5)

Sonntag, 4. August 2013

Predigt am 4. August 2013 (10. Sonntag nach Trinitatis)

Die samaritanische Frau spricht zu Jesus: „Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten soll.“ Jesus spricht zu ihr: „Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir wissen aber, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden. Aber es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Spricht die Frau zu ihm: „Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen.“ Jesus spricht zu ihr: „Ich bin’s, der mit dir redet.“
Johannes 4, 19-26

Liebe Schwestern und Brüder,
Religionen sind Wege zu Gott, sagt man. Da gibt es diesen Tempel und jenen Berg, wo Menschen beten. Kirchen und Moscheen, Schreine und Heilige Orte. Ikonen und Reliquien, Amulette und Talismane. Heilige Texte und Heilige Tänze, Meditationen und Fastenübungen. Und immer wieder heilige Menschen: Priester und Propheten, Gurus und Lamas, Heiler und Schamanen. Die Welt ist voller Religion, und die Welt der Religion ist bunt. Noch viel bunter geworden in einer globalisierten Welt, in der es keine Einheitsreligion für alle mehr gibt. Noch nie stand uns so viel Religion, standen uns so viele Wege zu Gott offen.
Aber führen diese Wege wirklich alle zu Gott? – Manchem gilt man schon als engherziger Zweifler, wenn man diese Frage stellt. Gott ist doch überall und hinter allem, und wenn es nur irgendwo nach Transzendenz riecht, dann hat das schon mit Gott zu tun. „Wie kannst du nur sagen, dieser Wunderheiler sei nicht von Gott gesandt“, wurde mir vorgehalten, „wo Gott doch viel größer ist als dein kleinkariertes christliches Dogma!“ Klingt logisch: Gott ist groß genug für alles Mögliche, was nach Religion riecht.
Mir erscheint etwas anderes logisch: Es können nicht alle Wege zum selben Ziel führen. Natürlich gibt es verschiedene Wege, längere und kürzere, Feldwege und Autobahnen, auf denen man tatsächlich über kurz oder lang das Ziel erreicht. Aber es gibt auch Irrwege und Abwege, die einen sonstwohin bringen, aber nicht dorthin, wo man eigentlich hin will.
Freilich: Für viele ist das kein Problem, weil sie gar nicht wissen, wo sie hin wollen. Aber wenn es wirklich darum geht, zu Gott zu finden, dann kann der Weg eben nicht egal sein. (Und der Weg kann auch nicht das Ziel sein, wie eine populäre und wahrscheinlich missverstandene Weisheit des Konfuzius nahelegt.)
Die Samaritanerin am Jakobsbrunnen weiß das. Sie fragt nach dem richtigen Weg zu Gott: Unser Weg, der Weg der Samaritaner, die auf ihrem Berg Garizim Gott anbeten, oder euer Weg, der Weg der Juden, die im Tempel von Jerusalem Gott anbeten?
Man könnte meinen: Ein frühes Beispiel von interreligiösem Dialog. Samaritaner und Juden stehen sich nahe, denn sie glauben beide an den Gott Abrahams. Und sie stehen sich fern, weil sie sich über den Weg zu Gott nicht einig sind. – Aber interreligiöser Dialog geht ja regelmäßig aus wie das Hornberger Schießen: Beide Seiten haben ein bisschen Recht und keiner hat die ganze Wahrheit. Es gibt viele Wege zu Gott, und man soll den des andern akzeptieren. – Sie aber fragt Jesus nach der Wahrheit, nach der ganzen Wahrheit. Es können nicht beide Seiten Recht haben. Sie hat in Jesus den Propheten erkannt, der die richtige Antwort von Gott her weiß. – Also kein Dialog auf Augenhöhe, sondern die Bereitschaft, zu fragen und die richtige Antwort von Gott anzunehmen.
Ja, vielleicht kann in diesem Sinne jede Religion ein Weg zu Gott sein, wenn sie genau das ist: Fragen und Bereitsein, die richtige Antwort anzunehmen. – Religion als die Frage des Menschen, der nach Gott sucht: ja. Denn Fragen und Suchen ist immer richtig. Aber nicht Religion als die Antwort. Denn es können nicht alle Antworten aller Religionen gleich richtig sein.
Jesus macht da Unterschiede. Zum Beispiel zwischen Juden und Samaritanern: Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir wissen aber, was wir anbeten. – Ein ganz schön respektloser Ton für einen religiösen Dialog. Aber dafür eine klare prophetische Ansage: Das Heil kommt von den Juden. Der entscheidende Unterschied ist gar nicht, wo man Gott anbetet, sondern was oder wen man als Gott anbetet. Nicht der Berg Garizim in Samaria oder der Tempelberg in Jerusalem sind entscheidend, sondern der Gott, der dort angebetet wird. Und da zählt kein Formelkompromiss: Ist doch so und so der Gott Abrahams. – Der wahre Gott ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Es ist der Gott Israels.
Das ist für uns bis heute wichtig und zentral, auch wenn es zwischendurch mal in Vergessenheit geraten ist: Der Gott, den Jesus verkündet, ist weder ein allgemeiner Gott der Religionen noch ist es der spezielle Gott der Christen. Es ist der Gott Israels. Auch daran werden wir durch den heutigen Israelsonntag erinnert. Im Blick auf das Verhältnis von Juden und Christen können wir das tatsächlich so sagen: Judentum und Christentum sind verschiedene Wege zu dem einen Gott. Bei anderen Religionen, selbst wenn sie sich auch auf Abraham berufen, kann man das nicht einfach so sagen.
Ja, das ist wirklich das Besondere bei Jesus: Er eröffnet einen neuen Weg zum alten Gott Israels. Es ist nicht der Weg über den Tempelkult in Jerusalem, nicht der Weg über den Gesetzesgehorsam, der uns zu Gott führt, ebensowenig wie die verschiedensten Kulte, Rituale und Übungen der verschiedenen Religionen. Sondern es ist der Glaube. – So würde Paulus es ausdrücken. – Jesus sagt hier (nach Johannes): Anbetung im Geist und in der Wahrheit. Ich glaube, er meint dasselbe wie Paulus. Gott möchte, dass sich Menschen innerlich, vertrauensvoll an ihn wenden als ihren Vater. Glaube ist Anbetung im Geist und in der Wahrheit.
Es fällt fast nebenbei, dieses große Wort, das Jesus für Gott verwendet, immer und immer wieder: Vater. Der Gott Israels ist der Vater für alle, die sich an ihn wenden, die sich zu ihm halten, die ihm vertrauen und sich ihm anvertrauen. Er ist der Vater, der seine Kinder bedingungs- und umstandslos liebt. Er ist der Gott, der auf den ganzen religiösen Schnickschnack verzichten kann, weil er keine Opfer, keine Rituale und keine frommen Übungen braucht, weil er nichts anderes will als unsere Herzen.
Religionen sind Wege zu Gott, sagt man. Aber diese Wege führen nicht zu Gott, nicht zu Gott dem Vater, es sei denn Gott kommt uns auf diesem Weg entgegen.
Und genau das ist das Besondere an der jüdischen und dann an der christlichen Religion: Gott kommt seinen Menschen entgegen. Er zeigt sich, offenbart sich, spricht sie an, und sie müssen nur noch antworten, Ja sagen, ihm ihr Herz öffnen.
Gott kommt seinen Menschen entgegen: Er schafft sich Orte in dieser Welt, wo wir ihm begegnen können. Volk und Land Israel sind ein Ort in dieser Welt, wo Gott sich zeigt – wenn wir es denn sehen wollen. Die heilige christliche Kirche, die wir bekennen und die sich in vielfältiger Form zeigt, ist ein Ort, wo Gott sich zeigt – wenn wir es denn sehen wollen. Gottes Wort und Sakrament sind Orte, wo Gott sich zeigt – wenn wir es denn sehen wollen. Und so ist unser Gottesdienst mit Wort und Sakrament nicht zuerst Ritual und religiöse Übung, sondern Gottes Entgegenkommen. Hier kann und will uns Gott begegnen. Hier können und wollen wir ihm unser Herz hinhalten. Ihn anbeten im Geist und in der Wahrheit.
Nicht alle Religionen sind Wege zu Gott. – Ich würde mir wünschen, dass die Menschen Gott viel mehr auf den Wegen suchen würden, auf denen er uns entgegen kommt.