Montag, 28. November 2011

Predigt am 27. November 2011 (1. Advent)

Überarbeitete Predigt von 2005

Ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: "Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?" Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. Und einer von den Ältesten spricht zu mir: "Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel."
Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Gestalten und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande.
Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß. Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Gestalten und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen, und sie sangen ein neues Lied:
"Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel;
denn du bist geschlachtet
und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft
aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen.
und hast sie unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht,
und sie werden herrschen auf Erden."

Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Gestalten und um die Ältesten her, und ihre Zahl war vieltausendmal tausend; die sprachen mit großer Stimme:
"Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und  Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob."

Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen:
"Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!"
Und die vier Gestalten sprachen: "Amen!"
Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.

Offenbarung 5, 1-14



Liebe Schwestern und Brüder,

keine Zeit im Jahr ist so von Bräuchen gefüllt wie die Zeit vor Weihnachten, die Adventszeit. In diesem Jahr, wo wir das erste Mal Advent und Weihnachten im warmen Süden erleben, bin ich selber gespannt, wie das hier sein wird und wie viel von den guten alten Adventsbräuchen auch hier lebendig sein wird.

Nun ja, wir haben Adventskränze, wir singen Adventslieder, die Frauen haben schon Plätzchen gebacken, und vielleicht wird auch Dresdner Christstollen eingeflogen (oder eingekauft). Zu Hause werden ab morgen, wenn der Trubel mit unserem Gemeindefest vorbei ist, dann auch unsere Mannln, wie man im Erzgebirge sagt, Raachermannl, Nussknacker, Bergmann und Engel, das Engelorchester, die Pyramide und die Krippe ihren Platz finden. Wo und wie ich den Lichterbuuchn aufstellen soll, das weiß ich immer noch nicht so richtig.

Advent und Weihnachten ist etwas ganz Besonderes, eine Zeit, die anders ist als der Rest des Jahres, und deshalb lieben wir sie – jedenfalls die meisten von uns (und die anderen geben es nicht zu).

Feste Sitten und Gebräuche, die wir schon von Kindheit an kennen und praktizieren, sie geben unserem Leben Kontinuität, Halt, eine gewisse Sicherheit: So wie es immer war, wie es immer schon gut war, so soll es sein und bleiben.

Denn ansonsten ist ja vieles, allzu vieles ungewiss. Wir wissen nicht, was kommt, was die Zukunft bringt, nicht mal, was das neue Jahr bringt, das bald beginnt. Aber erst mal kommt die Advents- und Weihnachtszeit, und was die uns bringt, das wissen wir ziemlich gut. Und wenn es auch Weihnachtsüberraschungen gibt, im Grunde sind sie doch eingeplant.

Ja, abgesehen von Advent und Weihnachten gehen wir in eine sehr ungewisse Zukunft. Das ist geradezu das Wesen der Zukunft, dass sie ungewiss ist. Es hängt von allzu vielen Faktoren und Einflüssen ab; die können wir nicht überschauen und ihre Folgen nicht absehen. Und deshalb können wir auch nicht, keiner kann es, in die Zukunft sehen.

Diese Ungewissheit über die Zukunft versetzt uns immer wieder in Sorge. Vielleicht verspüren wir in dieser Zeit, in der wir leben, diese Ungewissheit noch stärker und bedrohlicher als zu anderen Zeiten. Wir erleben eine politische und wirtschaftliche Krise, die unser persönliches Leben bisher nur am Rande gestreift hat. Aber jeder fragt sich: Wird das so bleiben? Was wird mit unseren Ersparnissen? Was wird mit unserer Währung? Was bedeutet es für die politische Stabilität, wenn es nicht mehr immer weiter aufwärts geht? Was ist mit all den Bewegungen und Verschiebungen der Gleichgewichte in der Welt? Schwäche der USA, Stärke Chinas, Veränderungen in der islamischen Welt? Neue Abhängigkeit von Russland usw.? Was ist mit der rasanten technologischen Entwicklung, mit der wir kaum noch Schritt halten? … Ich breche hier einfach ab; euch fällt bestimmt noch mehr ein.

Kurz: Wir kennen die Zukunft nicht, alles ist möglich oder auch nicht, und wir ahnen, dass sie nicht nur Gutes bringen wird. Diese Ungewissheit macht uns Angst. Die Zukunft ist zwar offen, aber sie ist uns zugleich verschlossen. Sie ist uns letztlich wie ein Buch mit sieben Siegeln. Wir wissen nicht, was kommt.

Und damit sind wir schon mitten in unserem Predigttext, wir sind in der Offenbarung des Johannes. Johannes ist auch voller Ungewissheit und Sorge um die Zukunft. Er sitzt als Verbannter auf der Insel Patmos. Über das römische Reich rollt die bis dahin größte Welle der Christenverfolgung. Nicht alle halten dem Druck stand. Manche schwören ihrem Glauben ab. Risse gehen durch die Gemeinden. Und keiner weiß, was die Zukunft noch bringen wird.

In dieser Lage wird ihm eine schier unglaubliche Reihe von Visionen zuteil. Visionen von Christus, die ihm und den Gemeinden, mit denen er im Briefkontakt steht, Trost und Hoffnung machen sollen.

Uns sind diese Visionen aufgeschrieben in der Offenbarung, dem letzten Buch der Bibel. Für viele von uns ist das nicht gerade ein Buch des Trostes und der Hoffnung, denn es ist voller bedrohlicher Bilder: von Schrecken, Vernichtung und Tod, die über die Erde gehen. Es hat sich gezeigt, dass viele die Visionen dieses Buches auf die unterschiedlichsten Ereignisse der Weltgeschichte hin gedeutet haben. Viele Deutungen haben sich im Nachhinein als irrig erwiesen. Und so stehen wir einigermaßen unsicher und geängstet vor den dunklen Bildern, die dieses Buch entwirft. Es heißt Offenbarung, aber es ist nur wenig offenbar von dem, was hier gesagt wird. Vieles erscheint eher dunkel und verworren, als klar und hell. Ist die Offenbarung nicht selber ein Buch mit sieben Siegeln für uns? – Ein Buch, das scheinbar einen Blick in die sonst so verschlossene Zukunft gewährt, aber doch eben so, dass es zugleich einen Schleier von fremdartigen Bildern darüber wirft?

Wer kann uns die Zukunft wirklich erschließen? Wer kann uns deuten, was geschehen wird? Wer bringt Sinn in die Zeitläufte? Wer macht aus der Angst vor dem, was kommen wird, Hoffnung und Vorfreude?

Mit dieser Frage sind wir schon eingetaucht in die Vision des Johannes. Vor seinen Augen erscheint es: das sprichwörtliche Buch mit den sieben Siegeln. Das Buch, das die Geheimnisse der Weltgeschichte verbirgt, Gottes Plan bis zum Ende der Welt. Wer kann darin lesen? Wer kann es verstehen? Wer kann die Siegel aufbrechen? – Niemand, heißt es, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen. Es ist wie ein Zauberbann: Jeder Versuch die Zukunft zu deuten scheitert. Sie bleibt verborgen. Keiner hat die Fähigkeit, wirklich in die Zukunft zu schauen. Wahrsager und Scharlatane mögen sich daran versuchen, das Schicksal vorherzusagen. Sie sind damit noch nie weit gekommen. Schriftsteller und Filmemacher erzählen von künftigen Entwicklungen und Bedrohungen der Menschheit, aber was sie schreiben – das wissen sie selber – ist Fiktion. Im besten Fall spiegelt sich darin unsere Gegenwart. So genannte Futurologen, Zukunftsforscher, geben sich seriös und wissenschaftlich, sie können aber letztlich auch nichts anderes, als gegenwärtige Entwicklungen und Trends zu analysieren und daraus etwas für die Zukunft abzuleiten; und am Ende kommt es doch meistens anders. – Nein, da ist keiner, der das Buch aufschlagen und lesen und verstehen kann.

Auch christliche Deutungen der Offenbarung geben bestenfalls für vergangene Ereignisse mehr oder weniger plausible Deutungen, aber sicher nicht für die Zukunft. Wer geistesgegenwärtig ist, mag vielleicht unsere Gegenwart in dieser Zukunftsansage finden, aber für das, was von heute aus noch Zukunft ist, kommt er nicht über die verschlüsselten Bilder hinaus.

Es ist zum Weinen! – Dem Seher jedenfalls kommen die Tränen. Gott zeigt ihm alles, was kommt, aber es bleibt für ihn wie für alle anderen ein Buch mit sieben Siegeln.

Doch da ist schließlich einer, der für würdig befunden wird, das Buch der Zukunft aufzuschlagen und die Siegel zu öffnen, mit denen es verschlossen ist. In einer Sprache, die nur Eingeweihte verstehen, wird er vorgestellt: Der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel David, das Lamm, das geschlachtet ist.

Es ist die Sprache der ersten Christen. Verstehen wir sie noch? – Der Löwe aus Juda, die Wurzel David, das geschlachtete Lamm – all das ist Jesus Christus.

Der Löwe – er gilt als das stärkste Tier, als der König, der, der alle seine Feinde besiegt. Jesus Christus, geboren als Kind des Stammes Juda ist der Sieger über alle seine Feinde. Der Sieger über Sünde, Tod und Teufel.

Aber dieser Löwe ist zugleich das Lamm – es gilt als schwaches Tier. Es ist seinen Feinden ausgeliefert, wird von den Starken gerissen und getötet, und wird von den Menschen geschlachtet und geopfert. Jesus Christus ist der schwache, verwundbare Mensch, der von seinen Feinden getötet wird, geschlachtet am Kreuz.
Das Wunder ist, dass er gerade als schwaches Lamm stärker ist als seine Feinde. Schwäche ist seine Stärke. Daran werden wir auch mit der Jahreslosung für das kommende Jahr 2012 erinnert: Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. – Gottes Kraft in der Schwachheit, das ist der Löwe als Lamm: Gott wird Mensch. Und es ist das Lamm als Löwe: Christus besiegt den Tod. Das ist das Lamm Gottes, zu dem wir singen: Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd' der Welt, erbarm dich unser.

Und die Wurzel David. Eine Anspielung auf die Verheißung des Propheten, dass aus dem abgehauenen Baumstumpf des Königtums Davids ein neues Reis hervorbricht: der Messias. Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart.

Als Messias in der Nachfolge des Königs David, als Löwe von Juda und als geschlachtetes Lamm ist Jesus Christus derjenige, der das versiegelte Buch öffnen kann und öffnen wird. Er ist der Schlüssel zur sonst uns verschlossenen Zukunft. Siegel für Siegel bricht er auf. Und vor dem Auge des Sehers entrollt sich die Zukunft. Freilich immer noch erst in den Bildern der Apokalypse. Die ersten Bilder, die dann erscheinen, kennen wir: Die vier apokalyptischen Reiter: Macht, Krieg, Hunger und tödliche Seuchen. Sie sind schon lange auf der Erde unterwegs. Weitere Bilder, die dann folgen verstehen wir noch nicht.

Mut und Hoffnung macht das eigentlich nicht. Oder? – Am Ende stehen jedenfalls andere Bilder: die neue Stadt Gottes, seine Hütte bei den Menschen, eine Welt ohne Leid und Trauer und Schmerzen und Tod. – Das ist die Hoffnung: So düster die Zukunft auch aussehen mag, sie ist von Gott vorhergesehen. Und am Ende steht ein neuer Himmel und eine neue Erde, eine Welt ohne Zukunftsangst. Es ist die Welt Gottes und der Menschen, die doch heute noch getrennt voneinander sind. Diese neue Welt setzt sich durch, auch wenn die Zwischenzeit bis dahin von Dunkel und Leiden gezeichnet ist. Mit dieser Hoffnung kann der Seher Johannes seinen Gemeinden Mut machen: Die Zukunft ist in Gottes Hand, und führt zu Gottes Ziel.
Grund dafür ist Jesus Christus, die Wurzel David, das geschlachtete Lamm, der Löwe von Juda. Er hat überwunden, heißt es. Er hat alles, was Gott entgegensteht, schon besiegt, auch wenn das verborgen ist vor unseren Augen. Er ist die Mitte der Geschichte, die Hauptfigur der Weltzeit. Von ihm her erschließt sich alles. Selbst die Zukunft.

Wir wissen freilich immer noch nicht, was kommt. Die Offenbarung ist für uns kein Fahrplan der Endzeit. Manches ist uns noch verschlossen. Aber erschlossen ist uns, dass im Himmel regiert wird. Erschlossen ist uns, dass Christus der Schlüssel zur Zukunft ist, auch unserer persönlichen Zukunft.

Das ändert unseren Blick. Wir sehen nicht nur die apokalyptischen Schrecken über die Erde gehen, sondern wir hören auch schon den himmlischen Lobgesang. Und so ist der zweite Teil des Predigtabschnitts Lobpreis. So wie überhaupt das ganze Buch der Offenbarung durchzogen ist von Lobpreis. Angestimmt wird er im Himmel. Aber am Ende stimmt auch die Erde mit ein. Jedes Geschöpf, so heißt es. Vielleicht ist das noch Zukunftsmusik, dass alle Geschöpfe in das Lob Jesu Christi einstimmen. Aber die Christen auf Erden stimmen schon heute mit ein. Das ist gemeint, wenn im Abendmahlsgebet von den Engeln, den Mächten und Gewalten, den Kräften des Himmels die Rede ist, mit denen auch wir unsere Stimmen vereinen.

Es ist der Gesang der Vorfreude. Es ist Adventsmusik. Denn es ist Musik für den, der kommen wird. Für den, der uns die Zukunft eröffnet. Für den, der unsere Hoffnung stärker sein lässt als alle Ängste. – Ja, es ist Advent, nicht nur vier Wochen im Dezember, sondern überhaupt in dieser Weltzeit, in der wir leben. Es ist Advent, und wir wissen, was wir erwarten. Genauer: Wir wissen, wen wir erwarten. Es ist eine Zeit der Vorfreude.

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