Sonntag, 11. Dezember 2011

Predigt am 11. Dezember 2011 (3. Advent)


Wir aber, die wir stark sind, sollen das Unvermögen der Schwachen tragen und nicht Gefallen an uns selber haben. Jeder von uns lebe so, dass er seinem Nächsten gefalle zum Guten und zur Erbauung. Denn auch Christus hatte nicht an sich selbst Gefallen, sondern wie geschrieben steht: „Die Schmähungen derer, die mich schmähen, sind auf mich gefallen.“ Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben. Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, Christus Jesus gemäß, damit ihr einmütig mit einem Mund Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.
Denn ich sage: Christus ist ein Diener der Juden geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind; die Heiden aber sollen Gott loben um der Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht: „Darum will ich dich loben unter den Heiden und deinem Namen singen.“ Und wiederum heißt es: „Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!“ Und wiederum: „Lobet den Herrn, alle Heiden, und preist ihn, alle Völker!“ Und wiederum spricht Jesaja: „Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais und wird aufstehen, um zu herrschen über die Heiden; auf den werden die Heiden hoffen.“
Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.
Römer 15, 1-13


Liebe Schwestern und Brüder,

heute im Gottesdienst hat schon wieder der Chor gesungen; das ist schön. Wisst ihr, wie ein Chor dazu kommt, gut zu singen und zu klingen? – Chorklang und Chorgesang ist ja eigentlich ein kleines Wunder: Eine Gruppe von Menschen, jeder mit seiner eigenen Stimme, singt gemeinsam und es klingt. – Wie geht das?
Es geht nur durch Einheit in der Verschiedenheit. Wir sind uns einig, was wir singen. Wenn einer „Tochter Zion“ singen will, der andere aber „Mache dich auf und werde Licht“, dann sind das zwar beides schöne Adventslieder, aber gleichzeitig singen kann man sie halt nicht, sonst klingt es gleich ganz fürchterlich. (So was erlebt man gelegentlich, wenn in der Probe einer nicht aufgepasst und ein falsches Stück aufgeschlagen hat.)

Wir brauchen aber noch mehr Einigkeit. Einigkeit über Tonart, Takt und Tempo. Das gibt am besten ein Chorleiter, oder hier: unsere Chorleiterin vor. Ein Chorleiter bringt die notwendige Einigkeit in den Chor. Und über die Grundlagen hinaus gestaltet der Chorleiter oder die Chorleiterin das Stück, indem sie Tempi und Dynamik in das Stück hineinbringt. So entsteht ein harmonisches Ganzes, das unseren Ohren wohltut.

Freilich: der Chorleiter allein kann das nicht. Es funktioniert nur, wenn der Chor sich auch nach ihm richtet. Die letzte Entscheidung, wie ein Stück gestaltet wird, liegt beim Chorleiter, und der Chor hat sich danach zu richten, ob das dem einzelnen gefällt oder nicht. Jemand hat mal etwas drastisch formuliert: Chor ist Diktatur.

Ein Wohlklang entsteht aber nicht allein dadurch, dass alle sich nach einem richten. Sondern mehr noch, dass alle aufeinander achten. Ein Chor, der nur aus Solisten besteht, von denen sich jeder besonders hervortun möchte, klingt auch nicht gut. Denn in einem Chor kommt es nicht auf die Einzelstimme an, sondern auf den Gesamtklang. Der Gesamtklang entsteht, wenn einer auf den anderen hört. Am besten ist es, wenn ich nicht nur die Stimmen der anderen Tenöre neben mir höre, sondern auch auf Sopran, Alt und Bass achte, wie sie gemeinsam klingen und mich in diese Harmonie einfüge.

Und dann kommt noch etwas dazu: Es gibt starke und schwache Sänger in einem Chor. Wir sind – zumindest in unseren Kirchenchören – keine Perfektionisten. Da singen auch Leute mit, die nicht immer den richtigen Ton treffen, deren Stimme etwas brüchig oder ungeübt sein mag, die nicht vom Blatt singen können, die sich leicht verunsichern oder rausbringen lassen. Und es singen Leute mit, die da etwas besser sind, die mit ihrem schönen und richtigen Gesang die anderen anführen und mitnehmen können.

Und das gefällt mir besonders, dass das geht. Auch die schwächeren Sängerinnen und Sänger tragen zum Gesamtklang bei, und die stärkeren unterstützen sie, nehmen sie mit, halten es auch aus, wenn es neben ihnen mal falsch klingt.

Kurz gesagt: Ein Chor klingt dann gut, wenn beim Singen alle auf den Chorleiter achten und auch alle aufeinander achten.

Ich glaube, in diesem Bild wird vielen von uns ganz gut deutlich, was Paulus meint, wenn er vom Miteinander der verschiedenen Christen in einer Gemeinde schreibt. Die christliche Gemeinde ist harmonisch, hat Ausstrahlung, verkündet Gottes Lob, wenn alle auf Christus ausgerichtet sind – unseren Chorleiter, im Bilde gesprochen – und wenn alle aufeinander achten.

Denn die Kirche und Gemeinde ist ja, viel mehr noch als ein Chor, ein sehr bunter Haufen. Da klingt es vielstimmig. Da gibt es unterschiedliche Meinungen, Traditionen, Frömmigkeitsstile. Da gibt es viele einzelne, von denen sich mancher gerne besonders hervortun würde. Und hier bei uns auf Teneriffa ist es besonders bunt. Wir kommen aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands und Europas und treffen hier aufeinander: Norddeutsche, Österreicher, Rheinländer, Sachsen ... Wir haben Kirche und Gemeinde auf ganz unterschiedliche Weise kennengelernt: lutherisch-konservativ, nüchtern-reformiert, pietistisch-bibelfromm oder sozial engagiert. Manche sind von Klein auf im Glauben und in der Gemeinde geblieben und gewachsen. Andere haben erst später oder später wieder dazugefunden. Und dann kommt ja noch etwas dazu: Wir sind eine evangelische Gemeinde, aber wir sind zugleich auch eine ökumenische Gemeinde. Zu uns kommen auch viele Katholiken und manche Freikirchler. Und sie sind willkommen, ausdrücklich. Zuerst und vor allem sind wir christliche Gemeinde.

So ein bunter Haufen könnte leicht auseinanderfliegen: Wenn viele einzelne darauf beharren würden, dass sie mit ihrer Tradition und ihrer Erfahrung allein recht haben und den Ton angeben wollen. Wenn diejenigen, die schon immer zur Kirche gehören, die anderen verachteten, die erst später dazugekommen sind. Wenn ein einziger Glaubensstil zum Maß für alle gemacht würde. Wenn einzelne der Meinung wären, sie wären die allerwichtigsten und ohne sie würde es gar nicht gehen: Dann wäre unser Dasein als Gemeinde eine einzige Kakophonie. Es wäre zum Weglaufen und wir würden es erleben, dass die Leute weglaufen statt zu uns zu finden.

Paulus hat damals auch an so einen bunten Haufen von Leuten geschrieben. In der Gemeinde von Rom, der Hauptstadt, da trafen Leute aus den verschiedenen Gegenden der antiken Welt aufeinander und mussten miteinander auskommen. In der christlichen Gemeinde wurden auch soziale Schranken überwunden, die sonst überall galten: reiche und vornehme Römer trafen da auf Sklaven aus den nördlichen oder südlichen Barbarengebieten. Vor allem aber trafen Menschen aus dem Heidentum, die vormals römische, griechische oder ägyptische Götter verehrt hatten oder gar irgendwelchen esoterischen Geheimkulten angehört hatten, auf Anhänger des Gottes Israels, des Gottes Jesu, des lebendigen Gottes, also auf die Juden. Die Juden haben natürlich einen großen Vorlauf an Glaubenstradition und an biblischem Wissen. – Wie soll das alles zusammenpassen, zusammenklingen?

Paulus geht es im ganzen Römerbrief um diesen Zusammenklang. Er erörtert das in großer Theologie: Juden wie Heiden sind auf Gottes Gnade und Barmherzigkeit angewiesen, die durch Jesus Christus gekommen ist. Und er erörtert es in praktischen Lebensfragen. Und so und so schärft er es ein: Ihr gehört zusammen! Lasst euch nicht auseinanderdividieren! Macht aus euren Unterschieden eine Harmonie und keinen Missklang!
Und diese ganze Botschaft gipfelt in diesem einen Satz, der in unserem Text steht, den viele von euch kennen und der eigentlich einer der wenigen Lernsprüche sein sollte, die Christen einfach im Kopf haben: Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat, zu Gottes Lob.

Nehmt einander an: Nicht aus Sympathie und Herzenszuneigung. Nicht aus Toleranz, die den anderen einfach anders sein lässt, aber sich sonst nicht um ihn kümmert. Nicht aus pädagogischem Eifer, der den anderen sich selber ähnlich machen möchte. Nein, sondern aus christlicher Liebe. Und das heißt: Der Mitmensch, der Mitchrist steht vor Gott genau so da wie ich: als Sünder, der von sich aus nicht zu Gott findet, und als angenommener Sünder, den Gott gefunden hat. Christliche Liebe ist die Solidarität der angenommenen Sünder. Egal, wo wir herkommen, wir kommen aus der Begegnung mit Jesus Christus her. Das ist es, was uns zusammengeführt hat.

Zusammengeführt und zusammengefügt zu einer lebendigen Gemeinschaft, zu einem harmonischen Ganzen. Zu Gottes Lob, heißt es.

Wie der Kirchenchor ausdrücklich zu Gottes Lob singt, so lebt und existiert die christliche Gemeinde ausdrücklich zu Gottes Lob.

Es dient Gottes Lob, wenn wir einander annehmen, aufeinander achten, aufeinander hören und aus unserer Vielfalt und Mehrstimmigkeit einen Wohlklang machen.

Perfekt ist dieser Wohlklang noch lange nicht. Was ihm aber guttut, ist, auf den Chorleiter zu achten und die eigene Stimme nach seinem Dirigat und in seinem Sinne klingen zu lassen. Dieser Chorleiter, um es ganz klar zu sagen, das ist nicht etwa der Pfarrer oder ein Bischof oder Papst; dieser Chorleiter ist der Herr Jesus Christus selber.

Lasst uns auf ihn achten und lasst uns aufeinander achten.

Und jetzt frage ich mich nur noch, was das alles mit Advent zu tun hat. – Nun, ich denke, so ist Leben im Advent: Miteinander und füreinander da sein als wartende Gemeinde. Die Unvollkommenheit aushalten, die eigene, die des anderen, die der Kirche. Und doch schon zu Gottes Lob leben.

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