Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für allemal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben. Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht: so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.
Hebräer 9, 15.26b-28
Liebe Schwestern und Brüder,
ein neues Schimpfwort hört man auf deutschen Schulhöfen und Straßen
immer öfter: „Du Opfer!“ – Und es heißt: Du bist schwach, du
bist unterlegen, du bist dazu bestimmt, gedemütigt, benutzt und
geschlagen zu werden. Und wir, wir sind diejenigen, die dich
demütigen, benutzen und schlagen – „Du Opfer!“
Mir tut es weh, wenn ich das höre. Denn bisher hatte das Wort
„Opfer“ noch einen anderen Klang. Dem Opfer, dem unschuldigen
Opfer gleich gar, gehörte unser Mitleid, unsere Zuwendung, unsere
Solidarität. Sei es dem Opfer von Krieg und Hunger in der Ferne. Sei
es dem Opfer von Gewalt und Verbrechen in der Nähe – so wie uns in
letzter Zeit das Schicksal der elfjährigen Lena aus Emden berührt
hat, die Opfer eines Gewaltverbrechens wurde. Und selbst die
Verkehrsopfer, an die wir uns im allgemeinen gewöhnt haben, gehen
uns spätestens dann nahe, wenn unter ihnen jemand ist, den wir
kannten. Menschen als Opfer wahrzunehmen bedeutete zugleich auch, mit
ihnen solidarisch zu sein.
Jemanden aber als Opfer zu verhöhnen, das ist Entsolidarisierung,
Unbarmherzigkeit, Entmenschlichung. Wir machen einen Schwachen oder
eine Gruppe von Schwachen zu Opfern, damit wir auf ihre Kosten stark
sein können. – Aber wie schwach ist das denn eigentlich, wenn wir
Schwache brauchen, um auf ihre Kosten stark zu sein!
„Du Opfer!“, das hätten sie damals auch zu Jesus sagen können.
Denn widerstandslos ließ er sich gefangen nehmen. Seinen Freunden
untersagte er, sich zu verteidigen. Alle Anschuldigungen ließ er
fast ohne Widerrede über sich ergehen. Und dann wurde er gefesselt,
geschlagen, verspottet, angespuckt, und die Dornenkrone war zugleich
Hohn und Folter. Schließlich nagelte man ihn ans Kreuz, stellte es
in der Vormittagssonne auf und ergötzte sich daran, wie er sich
Stunde um Stunde über die heiße Mittagszeit hinweg quälte und
litt, bis er – fast ein wenig unerwartet schnell – das Leben
aushauchte.
„Du Opfer!“ – Sie hatten ihm gezeigt, wer stark war und wer
schwach.
Die vielen, die Masse, die immer gerne auf der Seite der Sieger
steht, sie hatte schon lange vom Hosianna zum Kreuzige umgeschaltet.
Sie waren es zufrieden, dass Jesus zum Opfer geworden war. Von ihm
war doch nichts zu erwarten gewesen, er war zu schwach; dann sollte
er halt sterben.
„Du Opfer!“ - das ist der Widerspruch zur Rede von den
unschuldigen Opfern. „Du Opfer!“ - das heißt: Du bist selbst
schuld. Deine Schwäche, dein Aussehen, deine Behinderung, dein
Anderssein, das prädestiniert dich dazu, Opfer zu sein. Wärst du
wie wir, wärst du auf unserer Seite, wärst du auf der Seite der
Starken, dann wärst du nicht das Opfer geworden. – Du hast komisch
geguckt. Du hast mich provoziert. Du hast keinen Respekt gezeigt. Du
bist ein Jude, ein Neger, ein Kuffar, eine Schwuchtel, eine Schlampe.
Und darum bist du ein Opfer.
Und wenn wir erst anfangen, uns zu fragen: Habe ich vielleicht
wirklich provoziert? Sollte ich doch lieber wegsehen? Meine sexuelle
Orientierung verbergen? Den Rock nicht ganz so kurz tragen?, dann
haben wir schon verloren. Dann sind wir erst recht die Opfer
geworden.
„Du Opfer!“ – Jesus ist in diesem Sinne kein unschuldiges
Opfer. Er hat es ja darauf angelegt. Er hat sie provoziert. Er ist
selber schuld. Er hat sich selbst zum Opfer gemacht.
Mit unschuldigen Opfern haben wir Mitgefühl und Solidarität,
normalerweise. Aber wie ist es mit schuldigen Opfern?
Mit überhöhter Geschwindigkeit gegen den Baum: ein schuldiges
Opfer.
Mit der Annahme von falschen Freundschaftsdiensten und faulen
Ausreden aus dem Präsidialamt: ein schuldiges Opfer.
Wegen Unterschlagung von wenigen Euro aus dem Job entlassen: ein
schuldiges Opfer.
Nach jahrzehntelangem Rauchen an Lungenkrebs erkrankt: ein schuldiges
Opfer.
Selbst schuld! Das Mitleid hält sich in Grenzen.
Aber: Gibt es überhaupt unschuldige Opfer? Ist es nicht menschlich,
dass wir da oder dort und immer wieder schuldig werden? Verlangen wir
von bestimmten Menschen, dass sie übermenschlich sind, ohne Schuld,
während wir uns das Recht auf kleine Sünden zugestehen?
Jesus allein ist ein unschuldiges Opfer. Ohne Schuld, ohne Sünde. Es
ist die Schuld der anderen, aller anderen, unsere Schuld, dass er zum
Opfer wird.
Jesus Christus ist das einmalige Opfer, das die Sünden der vielen
auf sich nimmt.
Menschen bezeichnete man damals nicht als Opfer. Nicht mehr. Noch
nicht wieder.
Jesus Christus, das einmalige Menschenopfer. Das war fast nicht zu
verstehen. Man verglich ihn mit den vielen Tieropfern, die damals
dargebracht wurden. Das ist der Hintergrund für Bibeltexte, wie den
Hebräerbrief. Tieropfer waren normal. Es musste Blut fließen.
Stellvertretend für die Menschen.
Heute erscheinen uns Tieropfer archaisch und unmenschlich. Wir opfern
keine Tiere mehr. Wir opfern letztendlich wieder Menschen. Indem wir
uns auf die Seite der Täter stellen, um nicht selber Opfer zu
werden. Schuldig sind wir schließlich alle. Doch Opfer sollen die
anderen sein – nach Möglichkeit. „Du Opfer“ ist immer noch
besser als „Ich Opfer“.
Jesus Christus, das Opfer. Selbst schuld, weil er sich selber zum
Opfer macht. Er sagt lieber „Ich Opfer“ als „Du Opfer“. Er
sagt: Lasst mich euer Opfer sein! Denn ihr wollt ja nicht die Opfer
sein, obwohl es keine Unschuldigen treffen würde.
Und darum trifft es nun den einzig wirklich Unschuldigen. Und er ist
selbst schuld, dass es ihn trifft. Er hat es so gewollt. Er nimmt die
Schuld der Schuldigen auf sich. Er macht den Sündenbock, er ist das
Opfer für viele, für alle, für uns.
Du Opfer, Jesus Christus! Du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd
der Welt, erbarm dich unser.
Erbarm dich unser, dass wir aufhören, uns selbst und andere zu
Opfern zu machen. Amen.
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