2. Korinther 4, 16-18
Liebe
Schwestern und Brüder,
Ich
glaube nur, was ich sehe. Ich glaube, dass bei La Gomera die rote
Sonne im Meer versinkt. Ich glaube, dass die Erde eine Scheibe ist
und dass da hinten irgendwo das Meer aufhört und mit dem Himmel
zusammenstößt. Ich glaube, dass sich Sonne, Mond und Sterne um die
Erde drehen, jeden Tag einmal. Ich glaube, dass mein Zug losfährt –
bis ich merke, dass es doch der andere ist am gegenüberliegenden
Bahnsteig. Ich glaube, was ich im Fernsehen sehe. Nur, was ich
morgens im Spiegel sehe, das glaube ich nicht.
Ich
glaube nur, was ich sehe. – Das ist das Bekenntnis des
Vulgäratheismus. Ich hab's gerade erst wieder irgendwo gelesen. Du
kannst dir im Internet inzwischen einen beliebigen Artikel zu einem religiösen Thema suchen; du wirst immer mindestens einen Kommentar
darunter finden in dem Sinne, dass religiöse Menschen bekloppt sind,
weil sie an etwas glauben, das man nicht sehen kann – oder, wenn's
ein bisschen anspruchsvoller sein darf, das man nicht beweisen kann.
Aber
hast du dir mal überlegt: Wenn die Menschen immer nur das geglaubt
hätten, was man sehen kann, dann wäre niemals jemand losgefahren,
um zu sehen, ob da auf der anderen Seite des Wassers vielleicht doch
noch was ist, oder ob man vielleicht doch von der anderen Seite
wieder zu Hause ankommt? Es gäbe kein elektrisches Licht und auch
keine anderen elektrischen Geräte, denn Strom kann man ja nicht
sehen, dürfte es also gar nicht geben. Radio, Mobiltelefon, und
selbst das Fernsehen, dem wir doch so gerne glauben, das gäbe es
nicht, weil es ja auch keine unsichtbaren elektromagnetischen Wellen
gibt. Wir wüssten kaum etwas über den menschlichen Körper und
seine Krankheiten, denn man kann ja nicht hineinsehen. Bakterien oder
gar Viren? – Ein Gerücht, denn man kann sie nicht sehen. Usw. usf.
Ihr
merkt schon: Dieselben Leute, die nur glauben wollen, was sie sehen,
glauben doch an viel mehr, als sie sehen. Denn oft liegt ihnen gerade
das naturwissenschaftliche Denken. Und das Verrückte daran ist: Das
hat genau damit begonnen, dass Menschen nicht an das geglaubt haben,
was sie sehen: Die Sonne versinkt im Meer? – Glaube ich nicht, hat
jemand gesagt. Die Erde ist eine Scheibe? – Aber wieso komme ich
nie am Rand der Scheibe an?, hat sich jemand gefragt. Könnte die
Erde vielleicht auch eine Kugel sein? – Die Gestirne kreisen um die
Erde. Aber warum machen manche das nicht gleichmäßig? – Wagen
können nur fahren, wenn sie gezogen oder geschoben werden. Noch nie
hatte jemand einen selbst fahrenden Wagen, ein Automobil gesehen,
bis jemand die Idee hatte und sie umgesetzt hat. Wie verrückt muss
das am Anfang gewirkt haben: Eine Kutsche ohne Pferde! Entsprechend
sahen die ersten Autos ja auch noch aus.
Ich
glaube, was ich nicht sehe. Vielleicht wird es einmal zu sehen sein.
Vielleicht wird das Unsichtbare sichtbar, das Unmögliche möglich.
Das ist die Haltung der Forscher, der Pioniere, die die Menschheit
vorangebracht haben. Wir nennen solche Menschen, die etwas zu sehen
vermögen, was es noch gar nicht gibt, auch Visionäre. Sie sehen das
Unsichtbare.
Trotzdem:
Es fällt uns Menschen für gewöhnlich schwer, zu glauben, was wir
nicht sehen. Das hängt damit zusammen, dass wir Augentiere sind. Das
Sehen ist für uns der wichtigste der Sinne. Personen, Gegenstände,
Orte stellen wir uns zuerst und vor allem sichtbar vor: Wie sieht
etwas aus? Welche Farbe, welche Form, welches Gesicht, welche
Haltung? – Danach orientieren wir uns zuerst. Wenn ich jemanden
beschreiben soll, dann sage ich bestimmt zuerst: die große Frau mit
den blonden Haaren, und nicht: die, die immer dieses besondere Parfüm
nimmt, oder: die mit der schönen warmen Stimme. Wir orientieren uns
am Sichtbaren.
Aber
das hat eben auch Nachteile: Was wir sehen, ist für gewöhnlich nur
die Oberfläche der Dinge oder auch die Oberfläche der Menschen. Es
ist der Augenschein, das Äußere.
Wonach
orientieren sich Menschen bei der Partnerwahl? Es ist nachgewiesen:
Entgegen allen anderslautenden Beteuerungen spielt das Äußere dabei
eine ganz wichtige Rolle.
Und
entsprechend achten wir auch bei uns selber auf die Äußerlichkeiten:
Wie sehe ich aus? Wie steht es um meine Figur? Was ziehe ich an? Was
steht mir? Wie schminke ich mich? Usw. usf.
Manchmal denke ich:
Wenn doch all die schönen Frauen genau so viel Zeit auf die Pflege
ihres Charakters, ihrer inneren Werte legen würden, wie auf die
Pflege ihres Äußeren!
Und
manchmal denke ich: Wenn dieser oder jener doch mehr auf die inneren
Werte sehen könnte, als auf die Äußerlichkeiten, ihm würde manche
Enttäuschung erspart bleiben!
Wenn
du nur glaubst, was du siehst, dann ist Liebe eben auch nur Sex.
Zu
glauben, was wir nicht sehen, zu sehen, was noch nicht da ist, das
unsichtbare Innere wichtiger zu nehmen, als das sichtbare Äußere –
das ist die Wahrnehmungsweise des Glaubens. Es ist eine andere
Lebenshaltung als die, die wir gewöhnlich haben. Damit bleiben wir
nicht an der Oberfläche, sondern gehen in die Tiefe.
Unser äußerer Mensch
verfällt. – Wir können noch
so viel Zeit und Geld in unser gepflegtes Äußeres investieren. Wir
können eine noch so gesunde Lebensweise pflegen, indem wir uns
einreden, dass es unserem Körper gut tut, wenn wir ihn quälen. Wir
können noch so tapfer leugnen, dass das Gegenüber, das uns morgens
aus dem Spiegel anschaut, wir selber sind. – Wir kommen trotzdem
nicht daran vorbei, dass unsere Jugendfrische nachlässt, unsere
Kräfte weniger werden und unsere Gesundheit labiler ist als früher.
Nur
wenn das alles ist, was wir haben – Jugend, Schönheit, Gesundheit
–, dann sind wir wirklich arm dran. – Wenn das die wichtigsten
Werte im Leben sind, dann zeigt das im wahrsten Sinne des Wortes, wie
oberflächlich wir geworden sind. Das alles ist eben nur der äußere
Mensch. Und der verfällt.
Eine
ganze Weile kann man versuchen, das nicht zu glauben, es
oberflächlich zu kaschieren. Es wird um so plötzlicher und
erschreckender sichtbar werden. Und dann nur glauben, was wir sehen,
heißt: an den Tod glauben. Er behält doch das letzte Wort.
Freilich,
das wollen wir dann auch nicht mehr sehen. Wir verschließen unsere
Särge und stellen stattdessen ein Foto darauf, damit wir der
Wahrheit des Todes nicht ins Auge blicken müssen.
Mit
der Wahrnehmungsweise des Glaubens sehen wir beides: Ja, der äußere
Mensch verfällt. Ja, das Sichtbare ist dem Vergehen geweiht. Das
leibliche Leben endet in Tod und Verwesung. Aber wir sehen eben auch
die andere Seite, die Tiefendimension des Lebens: Der innere
Mensch wird von Tag zu Tag erneuert. Das, was wir wirklich sind –
wenn wir denn mehr sind, als man äußerlich von uns sieht, wenn wir
mehr sind als unsere gepflegte Benutzeroberfläche –, das, was wir wirklich
sind, unsere Seele, unser Geist, unser Betriebssystem, Christus in
uns, das verfällt nicht, das geht nicht kaputt, das veraltet nicht,
das lebt und bleibt und es ist jeden Tag wieder wie neu. Es hat eine
Qualität, die sichtbare Dinge nicht haben können. Es ist
unsichtbar, aber es ist ewig.
Mit
der Wahrnehmungsweise des Glaubens können wir auch erkennen, dass
das sichtbare Leiden, unsere Trübsal, wie der Apostel sich
ausdrückt, nicht alles ist. Es bleibt doch an der Oberfläche. Was
auch immer Schreckliches geschieht in unserem Leben, es ist nicht
alles, und es trifft nicht die unsichtbare, ewige Mitte unserer
Existenz. Es wiegt nicht so schwer wie die ewige Herrlichkeit, die
Gott uns schenkt.
Unser
Gottesdienst, unsere christliche Gemeinde, sie sind dazu da, dass wir
diese Wahrnehmungsweise des Glaubens immer wieder üben. Eben weil
wir so leicht an der sichtbaren Oberfläche bleiben – Augentiere,
die wir sind –, eben darum brauchen wir die Erinnerung an die
Tiefendimension unseres Lebens, an die inneren Werte, an das, was
ewig bleibt.
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