Amos 5,21-24
Liebe Schwestern
und Brüder,
stellt euch vor,
Gott sagt zu uns: "Ich mag eure Sonntagsgottesdienste nicht mehr. Ich finde
sie unausstehlich. Ich kann es nicht mehr hören, wenn ihr stolz eure
Kollekteneinnahmen verkündet und euch erzählt, wie voll die Kirche
wieder war. Ihr findet euren Gesang beeindruckend, ihr seid stolz auf
euren Kirchenchor, auf eure Organistin, und sogar noch Gitarrenspiel
im Gottesdienst. - Vergesst es! Ich kann es nicht mehr hören!"
Wahrscheinlich
können wir dieses alte Prophetenwort nur deshalb überhaupt
ertragen, weil es nicht zu uns gesagt ist, sondern zu den Menschen im
damaligen Nordreich Israel vor 2.750 Jahren.
Und trotzdem: Wenn
es nichts mit uns zu tun hätte, wäre es dann heute unser
Predigtwort?
Müssen wir uns
nicht zumindest fragen: Was ist damals schief gelaufen zwischen Gott
und seinem Volk? Worauf müssen wir achten, dass es bei uns nicht
auch schief läuft? Und: Wie soll ein Gottesdienst aussehen, der Gott
gefällt, so dass er eben nicht auch zu uns sagen muss: Tu weg von
mir das Geplärr deiner Lieder?
Ich denke, es ist
gut, wenn wir mal grundsätzlich überlegen, was Gottesdienst eigentlich
ist. Wenn man über das Wort Gottesdienst nachdenkt, kann man
ja schon darauf kommen, dass es zwei Seiten hat: Auf der einen Seite
ist es ein Dienst, den wir Gott erweisen; also: Wir dienen Gott. Auf
der anderen Seite ist es ein Dienst, den Gott uns erweist; also: Gott
dient uns.
Wir müssen aber
noch eine weitere Unterscheidung machen: Es gibt den Gottesdienst im
engeren Sinne, den Sonntagsgottesdienst, zu dem wir gerade versammelt
sind. Und es gibt den Gottesdienst im weiteren Sinne, den
Gottesdienst im Alltag der Welt, wie das so schön heißt.
Unser ganzes Leben und Tun soll auf Gott bezogen sein, soll
Gottesdienst sein: Arbeit und Freizeit, das Miteinander in Familie,
Nachbarschaft, Gesellschaft und Staat – das alles soll für uns
Gottesdienst sein.
Und nun neigen wir
dazu, diese beiden Unterscheidungen so miteinander zu verbinden, dass
im Sonntagsgottesdienst vor allem wir Gott dienen wollen, und im
Alltagsgottesdienst vor allem Gott uns dienen soll: Wir opfern Zeit
und Geld für Gott, wenn wir hierher zum Gottesdienst kommen. Wir
singen und beten, wir erheben unsere Herzen, und meinen, dass wir
Gott damit einen Gefallen tun. Und dafür, so denken wir weiter,
sollte Gott uns dann im Alltag dienen: uns vor Krankheit, Unfall und
Gefahren schützen, unserer Arbeit Erfolg verschaffen, uns in den
Problemen des täglichen Lebens Kraft geben. Also: Am Sonntag dienen
wir Gott, und im Alltag dient Gott uns.
Dabei ist es
eigentlich genau umgekehrt: Im Sonntagsgottesdienst will Gott uns
dienen, mit seinem Wort, mit seinem Sakrament, mit seinem Segen. Er
will uns wohl tun, und unsere Herzen zu sich ziehen. Er will uns
Kraft geben für den Alltag. Und dann, wenn der Alltag wieder kommt,
dann sind wir wieder damit dran, Gott zu dienen. Denn das ist unser
Gottesdienst im Alltag der Welt: dass wir Gott lieben, indem wir
seine Gebote achten, und dass wir unseren Nächsten lieben, indem wir
Recht und Gerechtigkeit üben, um es mit den Worten unseres
Predigttextes sagen.
Das Problem vor
2.750 Jahren war, dass die Menschen genau diese Verwechslung
gemacht haben: Sie wollten Gott dienen mit schönen Gottesdiensten
und eindrucksvollen Opfern an den Feiertagen. Dafür sollte Gott
seinen Segen zu ihren Alltagsgeschäften geben. Es war ein religiöser
Handel: Wir tun was für dich, Gott – am Feiertag. Du tust was für
uns, Gott – im Alltag. Damals meinte man, große Tieropfer und der
Wohlgeruch von verbrannten Opfergaben würden Gott beeindrucken, dazu
möglichst exquisite Kirchenmusik für Solo, Chor und Harfe. Und dann
müsste Gott doch so nett sein und über die Dinge hinwegsehen, die
im Alltag nicht so ganz nach seinen Geboten liefen.
Das war damals eine
ganze Menge. Der Prophet spricht zum Beispiel von Menschenhandel. Offenbar
gerieten einige in so tiefe Schulden, dass sie nichts mehr hatten als
ihren eigenen Leib, den sie in Zahlung gaben – Schuldsklaverei.
Mädchen mussten sich prostituieren, und erhielten doch kaum das
Lebensnotwendigste dafür. Auf der anderen Seite waren die, die die
Ausweglosigkeit der Armen und Schwachen ausnutzten, ja die mit
gefälschten Gewichten und minderwertigen Waren ihren Gewinn
vervielfachten, die ihren Wohlstand zur Schau stellten und
öffentliche Besäufnisse veranstalteten. Ihre Frauen bezeichnete der
Prophet ganz unverhohlen als fette Kühe. – Genau diese feine
Gesellschaft war es, die sich dann am Sabbat zum Gottesdienst traf
und meinte, sie könnte sich mit religiösen Leistungen bei Gott
freikaufen.
Aber Gott ist
unbestechlich. Er liefert Segen und Vergebung nicht als Gegenleistung
für frommes Verhalten am Sonntag. Im Gegenteil: Er erwartet, dass
das Verhalten im Alltag dem Gottesdienst am Sonntag entspricht. Wenn
du nicht bereit bist, dein Leben im Alltag als Gottesdienst zu
gestalten, dann kannst du dir den Sonntagsgottesdienst auch schenken.
Gottesdienst im
Alltag der Welt: Dafür stehen die Worte Recht und Gerechtigkeit.
Bei Recht denken
wir zurecht an Gesetze, die einzuhalten sind, und an eine
Rechtsprechung, die diesen Gesetzen Geltung verschafft. Recht tun
bedeutet also zunächst ganz schlicht und einfach: sich an die
Gesetze halten. Zum Beispiel an Steuergesetze. Es ist Unrecht, sich
selber auf Kosten anderer oder auf Kosten des Staates Vorteile zu
verschaffen, die einem nicht zustehen. Und es bleibt Unrecht, auch
wenn andere dasselbe tun.
Wenn in der Bibel
von Recht die Rede ist, dann ist dabei noch an mehr gedacht. Recht
ist, was Gott recht ist. Gottes Gebote sind so einfach, dass wir sie
uns an den zehn Fingern abzählen können. – Ich beobachte, dass
fast jeder zustimmt, wenn man sagt, dass die Zehn Gebote eine
wichtige Grundlage für ein anständiges und gottgefälliges Leben
sind. Ich beobachte aber auch, dass man dann doch schnell Abstufungen
vornimmt, was davon wichtiger ist und was nicht, was man davon halten
kann und was nicht. Und dann ist man schnell an dem Punkt, wo außer
„nicht töten“ und „nicht stehlen“ nicht mehr viel bleibt von
den Zehn Geboten. Nicht ehebrechen? – Es hat eben nicht mehr
so gestimmt, und die andere war irgendwie besser, schöner, jünger … Vater und Mutter ehren? - Naja, aber die machen uns doch das
Leben schwer. Nicht schlecht reden über andere? – Geht das
überhaupt? Worüber soll man denn dann überhaupt noch reden, wenn
man nicht lästern kann? Nicht begehren? – Aber hallo, das
geht doch gar nicht! Und die Gebote mit Gott: Keine anderen Götter
anbeten? – Ich kenne genug Leute, die den Götzen Gesundheit
anbeten. Wie wohltuend fand ich es, als kürzlich bei einer
Geburtstagsgratulation jemand nicht sagte: "Das ist das wichtigste", als ich Gesundheit wünschte, sondern als ich Gottes Segen
wünschte! Den Namen Gottes nicht missbrauchen – Ja, um Gottes
Willen, geht das denn? Und den Feiertag heiligen? – Mal
ehrlich: Ich verstehe es nicht ganz, wenn jemand, der als Rentner
sieben Tage in der Woche frei hat, ausgerechnet am Sonntagvormittag
wandern gehen muss.
Gottes Gebote,
Gottes Recht – sie gehen weit über das hinaus, was staatliche
Gesetze fordern können: Gottes Recht, das heißt Gott lieben und
seinen Nächsten wie sich selbst.
Und das ist
vielleicht auch die kürzeste und einfachste Beschreibung für das
andere große Wort, für Gerechtigkeit. Gerechtigkeit hat
immer etwas mit anderen zu tun. Ich bin nicht für mich selber
gerecht; Selbstgerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit. Sondern ich bin
gerecht in meinem Verhalten andern gegenüber. Gerechtigkeit ist
immer sozial. – Darum ist der Ausdruck "soziale Gerechtigkeit" ein Pleonasmus, also so etwas wie ein "weißer Schimmel" oder "kaltes Eis". Wahrscheinlich wird der Ausdruck "soziale
Gerechtigkeit" aber deshalb so gerne gebraucht, weil man damit die
Verantwortung für die Gerechtigkeit von sich weg auf die
Gesellschaft delegieren kann.
Wenn die Bibel von
Gerechtigkeit spricht, dann meint sie das Verhalten einzelner
Menschen untereinander (oder auch gegenüber Gott). Gerechtigkeit
nimmt den anderen in den Blick. Er ist ein Mensch wie ich: Er hat
Interessen und Bedürfnisse wie ich. (Er hat Fehler und Schwächen wie ich.) Er hat Rechte und Freiheiten wie
ich. Und gerecht verhalte ich mich, wenn ich ihm, meinem
Nächsten gerecht werde – oder gerecht zu werden versuche.
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Vor allem heißt das
eins: Ich werde den anderen Menschen als Menschen behandeln, seine
Würde achten, wie immer das auch konkret aussehen mag. – Da mögen
dann wieder die Zehn Gebote eine gute Orientierung sein. Und so
reichen sich Recht und Gerechtigkeit die Hand.
Es ströme das Recht wie das Wasser
und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. –
Das ist die Beschreibung für den Gottesdienst im Alltag der Welt.
Und
von daher bekommt dann auch der Sonntagsgottesdienst seine
Bedeutung. Der ist vor allem die Art von Gottesdienst, in der Gott
uns dient. Da sind wir nämlich an der Quelle. Von hier aus strömen
Recht und Gerechtigkeit in unser Leben hinein. Hier sind wir nicht
zuerst Gebende, sondern Empfangende. Gott gibt uns sein Wort. Gott
lässt uns sein Recht wissen, sagt uns, was ihm recht ist. Und Gott
spricht uns seine Gerechtigkeit zu. Das heißt auch: Er vergibt uns.
Es ist nämlich
nicht so, dass wir erst zu Gott kommen dürften, wenn unser
alltäglicher Gottesdienst perfekt wäre. Nein, wir kommen zu ihm
durchaus mit dem Wissen unserer Unvollkommenheit, unserer
Ungerechtigkeit, unseres Unrechts. Wir kommen zu ihm mit dem Wissen,
dass wir ihm nichts bringen können, was uns freikauft und vor ihm
gerecht macht. Wir kommen, um von ihm freigemacht zu werden, ohne
Verdienst und Gegenleistung. Aber dann auch frei gemacht, um wirklich
seine Gerechtigkeit zu leben.
Das ist letztlich
der Sinn unseres Gottesdienstes: dass Gottes Gerechtigkeit von hier
aus in unser Leben strömt – und weiter hinein in die Welt, in der
wir leben und in der wir berufen sind, Gott zu dienen.
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