Sonntag, 27. September 2015

Predigt am 27. September 2015 (17. Sonntag nach Trinitatis)

Jesus ging weg von Genezareth und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: „Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt.“ Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: „Lass sie doch gehen, denn sie schreit uns nach.“ Er antwortete aber und sprach: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: „Herr, hilf mir!“ Aber er antwortete und sprach: „Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“ Sie sprach: „Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“ Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: „Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst!“ Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.
Matthäus 15, 21-28


„Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!“
Ein Sponti-Spruch der 68-er.
Der Ort, wo das Unmögliche realistisch ist, ist kein Ort von dieser Welt.
Es ist der Nicht-Ort: Utopia.
Der Ort der Unmöglichkeiten.
Dort werden Träume wahr.
Dort werden Wünsche erfüllt.
Jesus ging weg von Genezareth und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon.
Zwischen den bekannten Orten am See Genezareth und den alten phönizischen Städten am Mittelmeer, dort ist der Nicht-Ort für Jesus.
Im Grenzland.
Im Heidenland.
Dorthin zieht er sich zurück.
Vielleicht ist Gott ihm dort näher:
vertrauter und fremder als im heiligen Land,
wo jeder Gott in der Westentasche zu haben meint,
wo alle alles wissen und besserwissen,
was Gott sagt,
was Gott tut,
wie Gott ist.
Dort im Grenzland, im Heidenland, dort in Utopia ist Gott anders: fremder, vertrauter – und: eigentlich unmöglich.
Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: „Ach Herr, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt.“
Unmöglich:
Eine Frau und ein Mann.
Eine Palästinenserin und ein Jude.
Eine Ungläubige und der Messias.
Sie dürften einander nicht begegnen.
Sie gehören beide nicht hierher.
Aber hier, nur hier geschieht diese unmögliche Begegnung:
Im Grenzland.
Im Niemandsland.
In Wünsch-dir-was-Utopia.
Im Land des unmöglichen Gottes.
Unmöglich, wie sie sich aufführt.
Was sie sich einbildet:
dem jüdischen Messias mit einem griechischen Kyrie eleison kommen zu können – Herr, erbarme dich!
Unmöglich aber auch die Zustände, die sie dazu bringen:
Die Tochter vom bösen Geist geplagt.
Wie das aussieht, wird uns nicht verraten.
Aber es kann nur furchtbar sein: dämonisch.
Keine menschlichen Mächte und Möglichkeiten sind der teuflischen Gewalt gewachsen.
Keiner konnte helfen, keiner konnte heilen – in den großen Städten Tyrus und Sidon.
Unmöglich, sagten die Ärzte, die Heiler, die Quacksalber und Scharlatane.
Unmöglich, sagten die Leute:
So was dürfte es gar nicht geben.
So was dürfte eigentlich gar nicht leben.
Unmöglich, hatte vielleicht auch ihr Mann gesagt,
der Vater des Kindes, und sich aus dem Staub gemacht – überfordert.
Und so treibt sie die Hoffnung der Verzweiflung hinaus an den Ort, wo Wünschen vielleicht noch helfen kann.
Wo vielleicht ein fremder Gott das Unmögliche möglich macht.
Sie ist realistisch, sie versucht das Unmögliche.
Und trifft auf ihn: den Unmöglichen.
Und er antwortete ihr kein Wort.
Unmöglich.
Kein Wort.
Keine Kommunikation.
Keine Begegnung.
Keine Hilfe.
Kein Heil.
Und das von Jesus,
dem lieben Heiland,
dem Retter
und Menschenfreund.
Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: „Lass sie doch gehen, denn sie schreit uns nach.“
Lass sie gehen!
Schick sie weg!
Sie schreit uns nach.
Sie nervt uns.
Sie ist unmöglich.
So sagen die Jünger.
Reden über sie, nicht mit ihr.
Unmöglich: diese Jünger, die in der trauten Gemeinschaft mit ihrem Meister nicht belästigt werden wollen.
Er aber antwortete: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: „Herr, hilf mir!“ Aber er antwortete und sprach: „Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“
Unmöglich!
Chauvinist.
Zionist.
Rassist.
Würden wir sagen, wenn es nicht Jesus wäre.
Hey, Jesus, darfst du das?
Diskriminieren: Einen Unterschied machen zwischen Juden und Heiden, zwischen Gläubigen und Ungläubigen?
Darfst du das?
Fremde mit Hunden auf eine Stufe stellen?
Oder müssen wir das jetzt für dich umerklären, wegerklären:
Er hat’s gar nichts so gemeint?
Er wollte die Frau nur auf die Probe stellen?
Freunde, ich glaub das nicht.
Ich glaube eher, dass Jesus wirklich so unmöglich war.
Ich glaube, dass er geglaubt hat, was er gesagt hat:
dass zuerst das eigene Volk, das Gottesvolk, dran ist, dann erst die Fremden.
Und dass es keinen Anspruch für alle gibt auf Gottes Hilfe.
Ich glaube, dass Jesus hier versagt hat.
Beinahe.
Er hatte es noch nicht verstanden, dass sie hier bei Wünsch-dir-was waren, an diesem utopischen Ort, wo man das Unmögliche erwarten durfte.
Und dass Gottes Heil kein Kuchen ist, den es zu verteilen gilt.
Sie sprach: „Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die von dem Tisch ihrer Herren fallen.“
Unmöglich, auch sie!
Ja, Herr, sagt sie und kniet vor ihm im Staub.
Ja, Herr, ich bin deine Hündin.
Ja, Herr, ich will deinen Kindern den Kuchen nicht wegfressen.
Ja, Herr, ich will nur die Krümel, die Reste, was übrig bleibt.
Ich bleibe unterm Tisch, ich springe nicht auf den Stuhl.
Ich will nur ein Hundeleben leben.
Wenn dafür meine Tochter leben darf.
Unmöglich!
Und ich könnte weinen, dass Jesus sie dazu bringt, sich so, so unmöglich zu machen.
Alles hätte sie getan für ihre Tochter, alles.
Und einen Menschen so tief zu erniedrigen, dass er bereit ist alles zu tun, dass er bereit ist ein Hundeleben zu führen, das ist einfach nur schlimm.
Schlimm von Jesus.
Das ist die dunkle Seite von Utopia.
Eine kniet im Staub vor dem, den sie Herr nennt.
Und wimmert und wedelt um die Reste vom Tisch des Herrn, um ihres Hundelebens willen.
So sieht es leider meistens aus, wenn man das Unmögliche versucht und an der Realität scheitert.
Der Erfinder dieses Spruches – vom Realismus, der das Unmögliche versucht – war ein übler Chauvinist, ein sadistischer Comandante, der für eine angeblich bessere Welt über Leichen gegangen ist: Che Guevara.
Er ist nur ein Beispiel dafür, wie die Utopie von der gerechteren Welt umschlägt in brutale Unterdrückung – und das geschieht immer wieder..
Das Unmögliche wird eben nicht Wirklichkeit.
Nicht in dieser Welt.
Wir sind hier nicht bei Wünsch-dir-was.
Aber das Unwirkliche, das Unvorstellbare, das, was wir am liebsten nicht wahr haben wollen, das wird möglich – und wirklich: dass die Befreier und Wohltäter der Menschheit zu Mördern und Unterdrückern werden.
Utopia können wir nicht herbeizwingen.
Dann wird es zu Dystopia, dem Ort des Bösen.
Ich glaube, dass Jesus hier an einem Scheideweg stand.
Ich glaube, dass das eine weitere Versuchung des Teufels war.
So wie damals an jenem anderen Nicht-Ort, in der Wüste.
Die Versuchung der Macht, die andere ausschließt vom Heil, vom guten Leben, und sie erniedrigt zu heillosen und hoffnungslosen Menschen, zu bettelnden und wimmernden Hundeexistenzen.
Die vorletzte Versuchung Christi – vielleicht.
Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: „Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst!“ Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.
Jesus kriegt die Kurve noch.
Im allerletzten Moment.
Ihm gehen die Augen auf.
Vielleicht auch die Augen über.
Diese Frau ist realistisch: Sie erwartet das Unmögliche.
Sie erwartet es von mir.
Sie erwartet es von Gott.
Das ist Glaube.
Was sonst?
Die Ungläubige ist es, die wirklich glaubt.
Unglaublich glaubt.
Und er ist es, der das nicht glauben konnte.
Nicht sehen wollte.
Der meinte, das Heil und das Leben wäre nur für einige wenige.
Der so tat, als wäre Gottes Liebe ein knappes Gut, ein Kuchen, den man sorgfältig unter die Kinder Israels aufteilen müsste.
So groß ist dein Glaube, staunt Jesus.
So groß ist Gottes Liebe, begreift er jetzt.
Und er kriegt die Kurve.
Kriegt sich ein.
Denkt um.
Kehrt um.
Bekehrt sich.
Ja, Jesus bekehrt sich.
Bekehrt sich zur Liebe, die zu einem Menschen sagen kann:
Dir geschehe, wie du willst.
Dein Wille geschehe.

Eine unmögliche Geschichte eigentlich.
Eine Geschichte vom Wünsch-dir-was Glauben, von der Gegen-alle-Vernunft-Hoffnung und von der Weiter-als-alle-Grenzen-Liebe.
Eine Geschichte, in der sich Jesus zur Menschlichkeit bekehrt.
Eine unmögliche und ganz realistische Geschichte.
Eine Geschichte aus Utopia.
Nein, eine Geschichte aus dem Reich Gottes.


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