Sonntag, 20. November 2016

Predigt am 20. November 2016 (Ewigkeitssonntag)

Und ich sah: einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen
und das Meer ist nicht mehr.
Und ich sah: die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.
Und ich hörte: eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen!
Und er wird bei ihnen wohnen
und sie werden seine Völker sein,
und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein.
Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein,
noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein;
denn das Erste ist vergangen.
Und der auf dem Thron saß, sprach:
Siehe, ich mache alles neu!
Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss!
Und er sprach zu mir: Es ist geschehen.
Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende.
Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.
Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein.
Offenbarung 21, 1-7

Manchmal stehe ich da draußen irgendwo und schaue in die Ferne, auf jene Linie ganz da hinten:
Wo das Meer den Himmel berührt und wo am Abend die Sonne verschwindet.
Oder da oben, wo die Berge zu Ende sind und der Himmel beginnt.
Diese Linie, hinter die wir nicht mehr sehen können:
der Horizont.
Weil die Erde rund ist und wir nicht um die Krümmung herumschauen können.
Und weil die Berge hoch sind und uns den Blick verstellen auf das, was auf der anderen Seite ist.
Manchmal stehe ich da draußen irgendwo und denke an unsere Toten, an jemanden den ich kannte, den ich lieb hatte, und der nicht mehr da ist.
Und ich denke: Ja, das ist auch so eine Linie: Wo die Erde den Himmel berührt und wo am Abend unseres Lebens die Sonne untergeht.
Diese Linie, hinter die wir nicht mehr sehen können: der Tod.
Der Horizont unseres Lebens.
Um diese unsere gekrümmte Welt in Raum und Zeit können wir nicht herumschauen.
Wir sehen nicht, was auf der anderen Seite ist.
Ereignishorizont.
Das sagen die Astrophysiker zu der Grenze eines Schwarzen Loches, hinter der nichts mehr, keine Materie, kein Licht, keine Strahlung, gar nichts wieder nach außen dringen kann, weil die Anziehungskraft, die Gravitation des Schwarzen Loches so riesig ist.
Der Tod ist so etwas wie ein Schwarzes Loch.
Wenn einer den Ereignishorizont überschritten hat, dann dringt nichts von ihm mehr nach außen.
Und wir können nichts wissen, nichts sagen von dem was da drinnen ist.
Jenseits des Horizonts.
In der Singularität.
Wir ahnen nur, was wir von unseren natürlichen Horizonten wissen und was Udo Lindenberg mal gesungen hat: „Hinterm Horizont geht’s weiter“.
Vielleicht ist die Welt, das Universum, in dem wir leben, selber so eine Singularität.
So was wie ein Schwarzes Loch von innen.
Es könnte unendlich viele davon geben, aber wir kommen nicht aus unserer Welt heraus.
Nur das Denken und Spekulieren führt uns dazu, dass wir sagen: Es muss mehr geben.
Die Welt ist alles, was der Fall ist, sagte ein Philosoph.
Aber es gibt noch mehr als das, was der Fall ist, mehr als alles.
Es gibt das, was der Fall sein könnte (aber es nicht ist in dieser unserer Welt).
Es gibt das, was der Fall sein wird (aber es noch nicht ist in dieser unserer Welt).
Die Sprache, der Konjunktiv und das Futur, führt uns auf die Spur anderer Welten: möglicher Welten, künftiger Welten.
Ja, vermutlich ist unsere Sprache und unser Denken und Spekulieren über diese unsere Welt hinaus selber eine geheime Spur davon, dass da mehr ist, als das, was der Fall ist.
*
Und ich sah:
Einen neuen Himmel und eine neue Erde;
denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen und das Meer ist nicht mehr.
Manchmal hat einer irgendwie einen Blick erhascht von der anderen Seite, von jenseits des Horizonts.
So einer war Johannes; sie haben ihn deshalb auch den Seher genannt: Er hat etwas gesehen, was wir normalerweise nicht sehen können.
Sie haben ihn auch den Apokalyptiker genannt: Der, dem etwas offenbart wurde, was man sonst nicht sehen kann. Für uns ist Apokalypse zum Wort geworden für den Weltuntergang, für das Ende von allem, was der Fall ist.
Das ist zwar nicht richtig, aber es passt trotzdem: Die Apokalypse als Weltuntergang ist der Ereignishorizont, hinter den wir nicht sehen können und hinter dem doch eine neue Welt erscheint:
Ein neuer Himmel und eine neue Erde, wenn der erste Himmel und die erste Erde vergangen sind.
Kein Schwarzes Loch.
Kein großes Nichts.
Sondern das große Mehr (mit H), das ganz Andere, Jenseits, Transzendenz, Himmel, Gott.
Johannes malt uns die Bilder einer neuen Welt vor Augen und kann dabei doch nur Farben und Formen der alten Welt gebrauchen.
Darum sind seine Worte und Bilder so sonderbar und so schwer zu verstehen.
Sie kommen aus einer anderen Dimension.
Das Beste an dieser anderen Dimension:
Dort wohnt Gott.
Und dort wohnen die Menschen.
Beieinander – Gott und Mensch und Menschen.
Völker in ihrer Vielfalt.
Endlich gelungenes Multikulti.
(Die Lutherbibel 2017 hat in diesem Text nämlich eine Überraschung: Wo es bisher hieß: und sie werden sein Volk sein, heißt es jetzt: und sie werden seine Völker sein. Ja, so steht es auch in den wichtigsten und ältesten griechischen Handschriften.)
Da sind sie gemeinsam zu Hause – Gott und Menschen.
Die Hütte Gottes bei den Menschen, schreibt Johannes.
Das Zelt Gottes bei den Menschen, wörtlich.
Gott hat ja schon früher sein Zelt aufgeschlagen bei den Menschen.
Das Bundeszelt, die Stiftshütte, später einen Tempel und dann Gotteshäuser, Kirchen und Kathedralen.
Aber die waren immer durch Zeltwände, Zäune, Mauern und Türen vom Rest der Welt getrennt.
Es waren heilige Räume in einer unheiligen Welt.
Und dann ist Jesus gekommen.
Von ihm heißt es auch, dass er unter uns wohnte, bei uns zeltete, wörtlich.
Aber auch, dass er nicht willkommen war in dieser seiner Welt und dass sie ihn wieder los sein wollten, rausgeschmissen und draußen vor den Toren des alten Jerusalems ans Kreuz genagelt haben.
Aber Johannes sieht das neue Jerusalem.
Wo Gott und Menschen zu Hause sind – in derselben Hütte.
Unter einem Dach.
Wo sie sich keinen Schmerz mehr zufügen.
Sondern sich gegenseitig die Tränen abwischen:
Gott und Mensch, Vater und Sohn, Mutter und Tochter.
So hat es Johannes gesehen, geahnt, geträumt:
So muss es sein hinterm Horizont, wo sich Himmel und Erde berühren.
Sich vereinen.
In einer neuen Welt.
*
Manchmal stehe ich da draußen und schaue in die Ferne, und ich sehe nicht so weit.
Ich sehe die Berge und das Meer und den Himmel.
Und diese Linie.
Nicht weiter.
Manchmal sind wir hinausgefahren auf dieses Meer (mit Doppel-E).
Den Horizont haben wir natürlich nie erreicht.
Wir haben die Asche unserer Toten mitgenommen und da draußen gelassen, im Meer.
Asche, verstreut im Salzwasser.
Wir haben unsere Toten losgelassen und sind ohne sie zurückgekehrt.
Und natürlich haben wir sie auch nicht losgelassen, denn sie sind ja in unseren Herzen und unseren Gedanken.
Und dann stehen wir manchmal da draußen und sehen auf das Meer und denken an sie.
Und wir spüren das Salzwasser auf unserer Haut – und das in unseren Augen.
Johannes hat einen merkwürdigen Satz geschrieben:
Das Meer ist nicht mehr.
Ein noch merkwürdigerer Satz wenige Verse davor:
Und das Meer gab die Toten heraus, die darin waren.
Vielleicht ist es das:
Dass das Meer der Tränen ausgetrocknet wird. Dass es keine Toten mehr gibt. Und dass die Linie, wo sich Himmel und Erde berühren, nicht mehr ozeanweit entfernt ist.
Dass da überhaupt kein Horizont mehr ist, hinter dem Gott und das Leben verborgen sind.
Ja, manchmal stehe ich da draußen und schaue in die Ferne und denke an die Ewigkeit.
Und manchmal, manchmal, ist da kein Horizont mehr, und die Ewigkeit ist da.

Sonntag, 13. November 2016

Predigt am 13. November 2016 (Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres)

Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat –, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt.
Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf mit Geduld.
Römer 8, 18-25

Es ist schwer.
Es belastet.
Es zieht nach unten.
So vieles.
Das Alter und das Älterwerden.
Wir haben wieder Geburtstage gefeiert diese Tage.
Der Zähler geht immer weiter, irgendwann bleibt er stehen.
Die Krankheiten, die sich irgendwann nicht mehr wegmachen lassen.
Wenn einer den Verstand verliert.
Ich meine wörtlich: Die Welt nicht mehr versteht, Bekannte nicht mehr erkennt, nicht weiß, was er tut und wo er ist.
Und die lichten Momente werden immer weniger.
Wenn Krieg und Gewalt und Terror nicht aufhören, wenn den Zynikern der Macht Menschenleben und Menschenwürde am Allerwertesten vorbeigehen – wie in Syrien.
Wenn sich ein Partnerland des Westens in einen islamofaschistischen Unrechtsstaat verwandelt – wie in der Türkei.
Wenn einer, der sich selbst nicht unter Kontrolle hat, die mächtigste Nation der Welt regieren soll.
Und auch wenn angebliche Demokraten demokratische Entscheidungen nicht akzeptieren mögen.
Wenn christliche Bischöfe sich unter dem Zeichen des Halbmondes fotografieren lassen und dabei das Kreuz ablegen.
Wenigstens zieht uns das Wetter nicht so runter.
Kein Herbst.
Keine toten Blätter und kahlen Bäume.
Keine Nebelnässe und keine Winterreifen.
Das haben wir zurückgelassen.
Darum sind wir hier.
Aber auch das geht zu Ende.
Abschiedssaison für uns.
Für andere vielleicht auch.
Oder es ist sowieso nur ein kurzer Urlaub von der Kälte.
Die Insel mit Sonne und Meer und warmherzigen Menschen wird bald wieder weit weg sein.
Alles hat ein Ende.
Und was noch nicht gleich endet, das verändert sich – und oft nicht zum Guten.
Es ist schwer.
Es belastet.
Es zieht nach unten.
So vieles.
Es zieht die Waagschale nach unten.
Es zieht unsere Bilanzen ins Minus.
Was bleibt unterm Strich?
Leiden.
Und Freuden, die immer schon mit dem Vorzeichen der Vergänglichkeit versehen sind.
Es ist alles ganz eitel,
so der Prediger, 12 Kapitel im alten Testament.
Eitel, Haschen nach Wind.
Vergänglich, sinnlos.
Ja, sagt Paulus, es ist alles ganz eitel.
Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit.
Und wir mit ihr.
Und sie mit uns.
Es geht dem Menschen wie dem Vieh, sagt der Prediger.
Es ist alles aus Staub geworden und wird wieder zu Staub.
Da hängt sie die Waagschale, tief unten.
Und dann wirft Paulus ein Wort, ein einziges Wort in die andere Waagschale:
Hoffnung.
Hoffnung – du winzig-kleine.
(Kleines Senfkorn Hoffnung, haben wir früher gesungen.)
Hoffnung, kannst du uns hochziehen, uns aufrichten?
Hoffnung, wiegst du schwer genug gegen all das Leiden und das Sterben, gegen den Winter, die Dunkelheit und den Tod?
Hoffnung kann wachsen.
Groß werden, schwer werden.
Größer als alles, was uns nach unten zieht.
Die Schöpfung leidet.
Und wir mit ihr.
Und sie mit uns.
Aber sie leidet in Hoffnung, sagt Paulus:
Es sind keine Todesschmerzen.
Es sind Geburtsschmerzen.
Die Wehen einer neuen Welt,
einer neuen Zeit,
des Gottesreichs.
Noch hat es das Licht nicht erblickt.
Und wir haben es noch nicht gesehen.
Noch beten wir, es möge kommen.
Noch tragen wir es in uns.
Spüren seine Bewegungen, die zur Welt drängen.
Noch leiden wir Geburtsschmerzen.
Noch haben wir Angst vor dem großen Augenblick.
Und doch sind wir guter Hoffnung:
Auf das Gottesreich.
Hoffnung kann wachsen: riesengroß.
Ein Baum, in dessen Zweigen die Vögel nisten.
So wird es sein, das Gottesreich, sagt Jesus.
Herrlich, sagt Paulus.
Und er denkt ein großes schweres hebräisches Wort von der Macht und Unermesslichkeit Gottes.
Davon, dass ER groß und herrlich und überwältigend da ist.
So, dass kein Platz mehr ist für anderes.
So, dass alles, was schwer ist, alles, was nach unten zieht, federleicht wird, gegenüber der Gottesherrlichkeit.
Sie wiegt schwerer.
Sie wiegt alles auf.
Sie beginnt mit der senfkornkleinen Hoffnung in uns.
Jesus hat sie ausgesät.
Als er als Sämann über die Erde ging.
Und nun lassen wir sie wachsen.
Was uns nach unten zieht, ist nicht eigentlich das Leiden und das Sterben, die Kälte und der Tod.
Was uns nach unten zieht, ist, dass wir Gottes Herrlichkeit nicht sehen – noch nicht sehen.
Uns erscheint alles andere so groß und so schwer, weil wir nicht sehen, was viel größer ist und viel schwerer wiegt.
Aber so ist das nun mal:
Was man hofft, kann man noch nicht sehen.
Es ist Zukunft.
Nicht dieser Zeit Leiden, sondern die Herrlichkeit, die auf uns zu kommt.

So bleiben uns die Hoffnungssenfkörner.
Der Frühling und die Inselherrlichkeit.
Das Licht und die Wärme.
Die guten Worte und die liebevollen Menschen.
Und die Wunder:
wenn Kranke geheilt werden und Sterbende getröstet,
wenn Hungernde gespeist und Fremde aufgenommen werden.
Die Worte der Bibel,
die Zeichen von Taufe und Abendmahl
und das Wunder der Vergebung.
Und das Wunder, dass so viele, so viele die Hoffnung nicht aufgeben.
Trotz allem.
Winzige Hoffnungssenfkörner.
Mit dem ganzen Gewicht der Gottesherrlichkeit.
Mit der ganzen Macht des neuen Lebens, das aus ihnen wächst.
Sie ziehen unsere Waagschale nach oben – himmelwärts.

Sonntag, 6. November 2016

Predigt am 6. November 2016 (Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres)

Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.
Römer 14, 7-9

Wofür lebst du? Weißt du das?
Der 17-Jährige ist mit anderen Jugendlichen bei einer Rüstzeit (wie wir im Osten sagen), bei einer kirchlichen Freizeit. Sie haben Spaß miteinander, Gaudi im Schnee, lustige Spiele am Abend und mitreißende Lieder am Morgen. Und dann auch was mit der Bibel und mit dem eigenen Leben. Ein Fragebogen: Wonach richtest du dich bei den Entscheidungen in deinem Leben? – Schule, Beruf, Freunde, Freizeit, Hobbys, Sexualität … – Wonach richtest du dich? Nach den Eltern? Kumpels? Was dir selber Spaß macht? Den Lehrern? Dem Pfarrer? Nach der Bibel? Nach Gott? – Und er kreuzt an und merkt: Nach Gott und der Bibel eigentlich weniger.
Wofür lebst du? – In der Silvesternacht sitzen sie in einer kalten, dunklen Dorfkirche und der da vorne fragt: Wofür willst du leben? In dem neuen Jahr, das kommt? Und in dem großen, langen Leben, das vor dir liegt? Auf wen willst du hören? Wem willst du gehören?
Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herr; sterben wir, so sterben wir dem Herrn.
Ich will auf dich hören, ich will dir gehören, betet der junge Mann in der Stille der Kirchenbank. Und dann lässt er sich, wie die anderen auch, die Hände auflegen und segnen. Und er weiß: Ich lebe dem Herrn.
So oder ganz anders hast du es vielleicht auch erlebt: Irgendwann war dir klar: Ich lebe dem Herrn. Vielleicht war es eine bewusste Entscheidung, und du bist stolz darauf. – Brauchst du nicht zu sein, denn bevor du dich entscheiden konntest, hatte er sich schon für dich entschieden. Also sei nicht stolz, oder wie man bei uns im Erzgebirge sagte: Bild dr nischt ei! Sei lieber dankbar, dass du Gott kennst und ihm vertrauen kannst.
Dem Herrn leben – wie geht das nun eigentlich? – Unser junger Mann liest jeden Tag in der Bibel, und er betet auch regelmäßig. Er geht Sonntags zum Gottesdienst. Und er trifft sich mit anderen jungen Christen in der Jungen Gemeinde. Und dann gibt es noch eine Gruppe, einen Hauskreis, wo sie besonders ernsthaft als Christen leben wollen, da geht er auch hin. Er trägt jetzt einen Anstecker an der Jacke, da steht drauf: Jesus lebt. Und er versucht, anderen von seinem Glauben zu erzählen; das ist aber gar nicht so einfach, weil Schulfreunde einen Haufen andere Interessen haben, die sie miteinander verbinden, und der Glaube gehört eher nicht dazu. Wenn sie Party gemacht haben, dann hat er mit ihnen getrunken und geraucht und unanständige Witze erzählt. Aber dann hat er sich wieder geschämt: Du bist ein schlechter Botschafter für Jesus, du lebst noch gar nicht wirklich dem Herrn.
Dem Herrn leben – wie geht das richtig? – Es gab da manche, die das ganz genau wussten, zu wissen meinten. Die erklärten ihm die Bibel, so wie er sie noch nie verstanden hatte. Die sagten ihm, dass seine Taufe – als kleines Baby – gar keine echte Taufe wäre und dass er sich jetzt richtig taufen lassen müsste. Und sie wussten, was man als Christ alles nicht darf: Zum Beispiel keine Rockmusik hören, die ist vom Teufel, und auch keinen Jazz; dabei liebte er beides: Rock und Jazz. Ja, sogar vieles an klassischer Musik war verdorben: Haydn und Mozart waren Freimaurer – darum war ihre Musik auch schädlich. Und selbstverständlich durfte er keinen Sex vor der Ehe haben.
Und in ihm rumorten die Fragen: Stimmt das denn alles? Und vor allem: Warum sehen das nicht alle so, die sich auf die Bibel berufen? Sind das jetzt keine echten Christen, die immer noch in die Zauberflöte gehen und sich nicht wiedertaufen lassen? – Er las von Menschen, die auch ganz bewusst für den Herrn lebten und doch zu ganz anderen Einsichten kamen. Und er fand auch nicht alles so eindeutig in der Bibel, wie sie es ihm sagten.
So oder ganz anders, hast du es vielleicht auch erlebt: Es war klar, du lebst dem Herrn, und andere haben dir gesagt, wie das geht. Und irgendwann hast du angefangen, deine eigenen Fragen zu stellen: Stimmt das alles so? Und in dir wuchsen die Skrupel und die Zweifel, weil du nicht warst wie sie, oder wie sie zu sein vorgaben.
Ein paar Jahre später fing der junge Mann an Theologie zu studieren, weil er dem Herrn leben und seine Botschaft weitersagen wollte. Da machten ihm manche von seinen frommen Freunden Angst: Er könnte den Glauben verlieren, wenn er sich wissenschaftlich mit der Bibel beschäftigte. Das konnte er sich nicht vorstellen; denn wieso sollte denn der Gebrauch des eigenen von Gott gegebenen Verstandes von Gott wegführen? Und dann traf er welche dort beim Studium, die hatten tatsächlich vorsichtshalber gleich mal ihren Verstand abgeschaltet; sie weigerten sich einfach mitzudenken, sprich: die Proseminararbeit nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu schreiben. Sie kamen sich als Glaubenshelden vor, aber er fand sie einfach nur dumm: sie lehnten etwas ab, was sie noch nicht mal geprüft hatten. Prüfet alles und das Gute behaltet, stand da in seiner Bibel. Das wollte er tun. Und er staunte: Als er es lernte, die Bibeltexte Wort für Wort zu analysieren und ihre Geschichte und ihre Hintergründe zu begreifen, da verstand er vieles besser als vorher, und Gott wurde für ihn viel größer und nicht kleiner. Sein Glaube wandelte sich, aber er ging nicht verloren.
Ihm wurden Sätze wie diese immer wichtiger: Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Und: Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.
Und: Wo der Geist, des Herrn ist, da ist Freiheit.
Alles Sätze von Paulus.
Also: Dem Herrn leben, das heißt nicht: Gesetze und Regeln und Vorschriften buchstabengenau beachten, sondern es heißt: Den Geist der Freiheit atmen und in der Freiheit leben.
Und so probierte er die Freiheit aus, ließ die Skrupel hinter sich. Hörte Rockmusik und hatte Sex vor und später in der Ehe, und nach der Ehe und vor und in der nächsten Ehe.
Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten, hatte Paulus geschrieben. Was nicht zum Guten diente, das musste er allmählich neu lernen, manchmal schmerzhaft. Nein, es war nicht alles gut und es ging nicht alles gut. Aber nichts war so schlecht, dass es ihn vom Herrn trennen konnte.
Du hast es wahrscheinlich ganz anders erlebt. Du hast andere Erfahrungen gemacht und bist andere Wege gegangen. Aber vielleicht hast du auch gelernt die Freiheit zu schätzen: dir nicht von anderen vorschreiben zu lassen, was und wie du zu glauben hast. Selber zu prüfen und nachzudenken. Eigene Fehler zu machen und aus den eigenen Fehlern zu lernen. Und dabei doch dir und dem Herrn treu zu bleiben.
Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.
Als Paulus diese Zeilen nach Rom geschrieben hat, da waren sie sich nicht einig, was das heißt: dem Herrn zu leben. Die einen legten die Regeln strenger aus: was du alles nicht essen darfst, weil das Fleisch den Götzen geweiht war, und welche Lieder du nicht singen darfst, weil sie die bei den Prozessionen zu Ehren der Götter auch gesungen haben, und welche Leibesübungen du nicht machen darfst, weil sie aus heidnischen Religionen kommen. Paulus sagt: Es ist alles erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Vor allem dient es nicht zum Guten, wenn ihr euch gegenseitig euren Glauben absprecht. Wir alle leben und sterben dem Herrn, auch wenn wir uns über manches nicht einig sind.

Wofür lebst du? Weißt du das?
Ich lebe dem Herrn, habe ich damals vor 35 Jahren gesagt. Seitdem ist viel geschehen, mein Glaube ist gewachsen, hat sich verändert, ist sicher cooler und abgeklärter als damals. Aber manchmal denke ich auch noch an den Fragebogen von damals und sage mir: Ich sollte genauer auf Gott hören, was er von mir will (Er, nicht die anderen, die in seinem Namen sprechen). Denn Christus ist mein Herr im Leben und im Sterben.
Deiner auch? – Deiner auch!