Dienstag, 26. April 2011

Predigt vom 24. April 2011 (Ostersonntag)

Als der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria von Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn der Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Seine Gestalt war wie der  Blitz und sein Gewand weiß wie der Schnee. Die Wachen aber erschraken aus Furcht vor ihm und wurden, als wären sie tot. Aber der Engel sprach zu den Frauen: "Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht die Stätte, wo er gelegen hat; und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern, dass er auferstanden ist von den Toten. Und siehe, er wird vor euch hingehen nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt." Und sie gingen eilends weg vom Grab mit Furcht und großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu verkündigen. Und siehe, da begegnete ihnen Jesus und sprach: "Seid gegrüßt!" Und sie traten zu ihm und umfassten seine Füße und fielen vor ihm nieder. Da sprach Jesus zu ihnen: "Fürchtet euch nicht! Geht hin und verkündigt es meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen; dort werden sie mich sehen."
Matthäus 28, 1-10


Liebe Gemeinde,

die Auferstehung Jesu ist ein welterschütterndes Ereignis. Nirgendwo in der Bibel wird das deutlicher ausgedrückt als hier, in der Ostererzählung des Matthäus: Die Erde erbebt. Und die Herzen der Menschen erbeben. Ein Engel fährt vom Himmel herab wie ein Blitz und öffnet das verschlossene Grab. Die Grabwachen fallen um wie tot. Und der Tote erscheint unter den Lebenden. Aus Furcht wird Freude. Aus dem, was sie gesehen und gehört haben, wird Verkündigung, die Botschaft, die seither die Welt verwandelt.

Jeder erzählt von der Auferstehung Jesu etwas anders. Schon in der Bibel. Zwei Frauen, drei Frauen, noch mehr Frauen; ein Engel, zwei Engel, gar kein Engel. Im Entscheidenden stimmen sie überein: Das Grab ist leer, der Gekreuzigte lebt. Menschen begegnen ihm und werden erschüttert und verändert und sagen sein Wort weiter.

Erschütterung des Herzens ist immer, wo wir der Grenze zwischen Tod und Leben nahe kommen. Das Grab, der Friedhof ist naturgemäß ein Ort der Erschütterung. Wo wir am offenen Grab eines Menschen gestanden haben, der uns nahe war, wo wenig später Erde oder eine Steinplatte ihn vor uns verbarg, wo wir uns nicht mehr vorstellen mochten, was darunter noch von ihm übrig bleiben mochte, da ist jedem von uns schon das Herz erschüttert gewesen. Der Stein vor dem Grab steht für diese Grenze, die den Tod vom Leben scheidet.

Vielleicht gibt es ja für uns ein Jenseits, ein Jenseits dieser Grenze. Aber es entzieht sich uns, wir haben nur unvollkommene Bilder, an denen unser Denken scheitert. Und dann sind sie wieder, die Zweifel, die uns sagen wollen: Das Jenseits ist ein Nichts. Bis wir verzweifelt feststellen, dass wir uns Nichts nicht vorstellen können.
Und genau hier, an der Grenze zwischen Tod und Leben, erschüttert die Auferstehungsbotschaft unsere Erschütterung.

Zunächst macht sie die Erschütterung noch größer: Er ist nicht hier. Es ist anders, als ihr denkt. Eben noch das Spektakel mit Engel und Steinwegwälzen, und schon heißt es: "Hier gibt‘s nichts zu sehen; gehen Sie bitte weiter!"

Aber dann weist sie uns den Weg aus dem Tod ins Leben. Statt in die Spekulation über das Leben nach dem Tod kehren wir aus dem Tod ins Leben zurück und begegnen dem Auferstandenen. Dem, der als erster aus dem Tod ins Leben zurückgekehrt ist.

Ja, das ist erschütternd, diesem Toten bei den Lebendigen zu begegnen. Aber er ist ja nicht mehr der Tote. Er ist der Lebende unter den Lebenden, um ihnen die Todesangst zu nehmen.

Fürchtet euch nicht!, ist seine Botschaft. War schon die Botschaft seines Boten. Wo die einen zu Tode erschrocken sind, die Wächter des Todes nämlich, da ruft der Engeln den Frauen zu: Fürchtet ihr euch nicht!

Dasselbe sagt der Auferstandene selber, als sie vor ihm niederfallen, seine Füße umfassen, weil sie es noch nicht fassen können, weil sie so erschüttert sind: Fürchtet euch nicht!

Wovor auch? Wovor sollen sie sich noch fürchten, wenn der Tod tot ist?

Die Auferstehung Jesu ist welterschütternd, weil sie unsere Todesgewissheit erschüttert.

Nichts ist so sicher wie der Tod, meinen wir. Das Leben ist begrenzt; der Tod ist für immer. Nutze die Zeit zum Leben, ehe es ans Sterben geht.

Der Auferstandene sagt uns: Es ist umgekehrt. Der Tod ist begrenzt; das Leben ist für immer.

Am offenen Grab eines Menschen lesen wir deshalb seine Worte, die unsere Todesgewissheit erschüttern und unsere Erschütterung auffangen sollen. Fürchtet euch nicht!

Die Auferstehung Jesu ist welterschütternd, weil sie unsere Lebensangst erschüttert.

Lebensangst ist die Kehrseite der Todesgewissheit. Die Angst, das Leben zu verpassen. Es vergeht, es könnte an mir vorbeigehen. Ich könnte es verpassen, verpfuschen, verwirken. Was ich in diesem Leben nicht erlebe, erlebe ich nie. Was mir in diesem Leben entgeht, entgeht mir für immer.

Der Auferstandene sagt uns: Ihr sollt das Leben und volle Genüge haben (Johannes 10, 10). Mit mir verpasst ihr nichts, aber ihr gewinnt alles. Selbst wenn ihr euer Leben verliert, werdet ihr das wahre Leben finden (Matthäus 16, 25 u.a.). Ihr sollt leben, auch wenn ihr sterbt (Johannes 11.25). Fürchtet euch nicht!

Manche haben gemeint, die Auferstehungsbotschaft würde das Leben, dieses Leben hier auf Erden abwerten, unwichtig machen. Alles nicht so wichtig, es geht ja weiter, das Beste kommt ja noch. Sie haben gemeint, man könnte dieses Leben leichten Herzens aufs Spiel setzen. Sie haben gemeint, man könnte leichtfertig den Leib töten, um die Seele zu retten. – Das alles ist ein Missverständnis. Der gekreuzigte Christus nimmt die Seinen ja nicht mit ins Grab. Er ruft sie nicht ab aus dieser Welt. Nein, er kommt ihnen aus dem Grab entgegen ins Leben. Und er schickt sie in diese Welt hinein.

Ostern ist der Sieg des Lebens über den Tod. Aber nicht die Bagatellisierung des Todes. Im Gegenteil: Wer an die Auferstehung glaubt, kann auch den Tod ernst nehmen. Und das Leben.

Die Auferstehung Jesu ist welterschütternd, weil sie unsere Gleichgültigkeit erschüttert.

Es könnte ja sein, dass uns die Frage nach Leben und Tod schon gleichgültig geworden ist. Vielleicht haben wir uns daran gewöhnt, dass das Leben vorbeigeht und dass es tödlich endet. Vielleicht verdrängen wir unsere Angst und Ungewissheit, oder wir machen einfach das Beste daraus.

Es könnte sein, dass uns auch die alte biblische Geschichte gleichgültig lässt. Zu widersprüchlich, zu unglaubwürdig, zu märchenhaft. – Vielleicht ist sie aber gerade deshalb so übertrieben erzählt worden, um die Erschütterung auszudrücken und auszulösen, die wir brauchen.

Die Botschaft von der Auferstehung will uns aufrütteln, erschüttern, damit wir den Tod ernst nehmen und das Leben.

Zuletzt und vor allem aber will sie uns froh machen.

Die Frauen liefen nach den Worten des Evangelisten vom Grabe weg mit Furcht und mit großer Freude. Und als sie Jesus begegnen, nimmt er ihnen nicht nur die Furcht – Fürchtet euch nicht! –, sondern er verstärkt ihre Freude: Freut euch!, so lautet sein Gruß, den wir üblicherweise mit Seid gegrüßt! übersetzen. Wörtlich heißt er: Freut euch!

Diese Frauen, die die ersten Auferstehungszeugen waren, haben die Osterfreude weitergetragen. Sie ist bis zu uns gelangt.

Darum singen wir: Auf, auf, mein Herz mit Freuden, nimm wahr, was heut geschicht!

Mögen wir es wahrnehmen, möge die Freude uns ergreifen, mögen wir ohne Furcht mit Christus ins Leben gehen.


Samstag, 23. April 2011

Predigt vom 22. April 2011 (Karfreitag)

Als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie Jesus dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: "Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes." Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig und sprachen: "Bist du der Juden König, so hilf dir selber!" Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: "Dies ist der Juden König."
Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: "Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns!" Da wies ihn der andere zurecht und sprach: "Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan." Und er sprach: "Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!" Und Jesus sprach zu ihm: "Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.
Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei. Und Jesus rief laut: "Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!" Und als er das gesagt hatte, verschied er.
Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: "Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen!" Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.
Lukas 23, 33-49


Liebe Gemeinde,

Jesus am Kreuz – wir sehen ihn ja auch hier vor uns – das ist das Bild absoluter Hilflosigkeit. Gebunden an Händen und Füßen, festgenagelt auf die Kreuzesbalken. Der kann nichts mehr tun. Für sich nicht und für andere auch nicht. Er ist nicht mehr zu retten. Er ist am Ende.

Das war das Ziel derer, die ihn dorthin gebracht haben. Sie wollten ihn ausschalten. Er sollte nichts mehr tun können, vor allem ihnen nichts mehr tun können. König der Juden wollte er sein. Ein gekreuzigter König aber ist machtlos. Sie können ihn verlachen, verspotten, seine Habseligkeiten unter sich aufteilen, obwohl er noch nicht mal tot ist. Er kann ja nichts machen.

„Hilf dir doch selber, zeig es uns doch, dass du der Messias bist, der Christus, der König der Juden“ – so schallt es ihm von allen Seiten entgegen: Von den Würdenträgern, von den Kriegsknechten, selbst von den Verbrechern, die mit ihm hingerichtet werden.

„Hilflose Helfer“ – so hieß mal ein Buchklassiker. Jesus ist jetzt der hilflose Helfer. Er hat anderen geholfen und kann sich selbst nicht helfen. Und die, die ihm gerne helfen würden, sie stehen von ferne, müssen das Elend mit ansehen und können doch nichts tun.

Die Jesus, den Gekreuzigten so sehen, sie sehen nichts. Weil sie nicht hören. Die Worte Jesu – noch am Kreuz – sind Worte, die helfen. Es sind machtvolle Worte, wirksame Worte. Gerade dort, wo alle dachten, er könnte nichts mehr tun, er wäre am Ende.

Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! – Ein machtvolles Wort, ein Wort voller Souveränität und Gottvertrauen. Jesus bittet für seine Feinde, für die, die ihn hassen, verspotten und töten. Was er gelehrt hat, das lebt er auch – Vergebung und Feindesliebe – er lebt es und stirbt es.

Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. – Ein Wort, das die Ausweglosigkeit von Sünde und Tod überwindet. – Denn es ist ja gesagt zu einem, der gewiss ein großer Sünder ist, der als Verbrecher die Todesstrafe erleidet. Und es ist gesagt zu einem Sterbenden; für ihn gibt es kein Zurück mehr ins Leben. Aber Jesus verspricht das Paradies: Das Paradies steht dem offen, der seine Sünde bereut, der, wie der Verbrecher am Kreuz, Jesus um Hilfe bittet. Aus der Sünde aus auswegloser Verlorenheit, aus dem Tod führt der Weg ins Leben, in die ewige Gemeinschaft mit Jesus und Gott.

Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! – Das ist das letzte Wort Jesu. – Die Hände der Menschen konnten seinen Leib töten. Ihre Worte des Spottes und der Verachtung aber konnten seinen Geist nicht verletzen. Er war, er ist, er bleibt in den Händen, seines himmlischen Vaters. Auch im Tod.

Das sind die drei Worte Jesu am Kreuz, die Lukas überliefert – die anderen Evangelisten nennen andere. Drei Worte, die helfen. Sie stehen dem dreimaligen Hilf dir selbst gegenüber. Darauf verzichtet Jesus, sich selbst zu helfen. Aber er hilft anderen bis zuletzt. Die Hilflosigkeit des Kreuzes ist bei weitem keine Unfähigkeit, anderen zu helfen. Und das Entscheidende sind am Ende nicht die Taten, die seine Hände und Füße tun, sondern seine Worte. Worte, die weiterklingen bis zu uns.

Was diese Worte bewirken können, sehen, nein hören wir auch an dem Hauptmann des Hinrichtungskommandos. Tief beeindruckt lobt er Gott und bekennt: Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen. Was für eine Erkenntnis bei diesem Heiden! Da beginnt schon so etwas wie Glaube!

Von den Menschen, die dabeistehen, heißt es, sie schlagen sich an die Brust und kehren wieder um. – Gehen sie einfach nach Hause? Zumindest sind sie innerlich bewegt, aufgewühlt, vielleicht sind sie aber auch schon auf dem Weg der Buße. Sich auf die Brust schlagen, ist die Geste des Schuldbekenntnisses, und umkehren ist ein anderes Wort für Buße tun. Auch da beginnt schon so etwas wie Glaube!

Wir sehen: Der hilflose Gekreuzigte ist der, der noch immer und gerade als Gekreuzigter helfen kann. Ja, von seinem Kreuz geht die Hilfe aus, die uns wirklich und wahrhaftig helfen kann. Sie kann uns helfen zur Besinnung und zur Buße, zum Glauben, zur Vergebung und zum ewigen Leben.

Das griechische Wort für „helfen“ hat noch eine tiefere Bedeutung als das deutsche. Man muss sich eigentlich immer entscheiden, wie man dieses Wort übersetzt. Es kann auch „retten“ heißen. Rette dich selber!, rufen sie ihm zu. Aber er rettet andere. Und er tut es gerade dadurch, dass er sich selber nicht rettet.

Der Gekreuzigte ist also nicht einfach nur ein Helfer, er ist der Retter: Hilft uns aus allem Leide, rettet von Sünd und Tod – so heißt es im Weihnachtslied. Was zu Weihnachten noch Verheißung ist, ist am Karfreitag wahr geworden.

Und weil das Wort „retten“ hier noch diesen tieferen Sinn hat, kann man es auch mit „selig machen“ übersetzen. Der Gekreuzigte hilft, er rettet, er macht selig. Er ist der Helfer, der Retter, der Heiland.

Jesus am Kreuz – das ist das Bild absoluter Hilflosigkeit. Und doch ist paradoxerweise in seiner Hilflosigkeit unsere Hilfe, unserer Rettung, unser Heil.

Jesus am Kreuz – da zeigt sich nicht die Ohnmacht Gottes. Da offenbart sich die Allmacht Gottes, die Macht nämlich, die Sünde, Tod und Teufel überwindet und die Vergebung, Leben und Rettung schafft.

Montag, 18. April 2011

Predigt vom 17. April 2011 (Palmsonntag)

Als Jesus in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Glas mit unverfälschtem und kostbaren Nardenöl, und sie zerbrach das Glas und goss es auf sein Haupt. Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: "Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben." Und sie fuhren sie an. Jesus aber sprach: "Lasst sie in Frieden! Was betrübt ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im voraus gesalbt für mein Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt getan hat.
Markus 14, 3-9

Liebe Gemeinde,

heilige Verschwendung – so könnte man diese Geschichte überschreiben. Sie fügt sich gut ein in diese Reihe von Predigttexten, die uns in letzter Zeit begleitet hat: Maria, die ihre Zeit an Jesus verschwendet, um ihm zuzuhören, während ihre Schwester sich den praktischen Dingen des Lebens – Kochen und Backen – widmet. Die arme Witwe, die ihre letzten Ersparnisse verschwenderisch in die Kollekte tut, obwohl sie dann selber nichts mehr für ihren Lebensunterhalt haben wird. Und heute nun die Frau, die ihr teures Parfümöl an Jesus verschwendet.

Übrigens, wenn man die Bibel quer liest – das Lukas- und das Johannesevangelium mit einbezieht und miteinander verbindet –, dann könnte man annehmen, dass es dieselbe Maria ist, die schon damals ihrer Schwester nicht geholfen hatte, um lieber mit Jesus zusammen zu sein. Ihr erinnert euch vielleicht: Der Typ Kanzelschwalbe. Und jetzt salbt sie Jesus mit Nardenöl.

Hand aufs Herz: Wenn wir nicht durch Jesus und seine Worte vorprogrammiert wären, würden wir nicht auch auf Seiten derer stehen, die sich über diese Frau echauffieren? Was hätten wir gesagt, wenn wir dabei gewesen wären?

Was sie tut, gehört sich einfach nicht: Sie stört die Runde an Simons Tisch, dringt ein, nimmt den Ehrengast in Beschlag und das auch noch in einer höchst anzüglichen Weise. Es ist einfach peinlich!

Was sie tut, ist die reine Verschwendung: Ein ganzes Alabasterfläschchen mit Salböl, das Teuerste vom Teuren: Narde ist eine Duftpflanze, die nur im Himalaja wächst. Das ist kein Billig-Parfüm vom Drogerie-Discounter! 300 Denare teuer, sagen sie: ein Denar ist ein Tageslohn, 300 Denare fast ein Jahreseinkommen. Wahnsinn! Die Frau ist wahnsinnig! – Wenn schon, dann hätte es doch auch ein Tröpfchen getan.

Vielleicht schwingt da auch Neid mit: Man muss ja erst mal was haben, um verschwenden zu können. Es ist die altbekannte Vernunftnummer: Wozu braucht man schon einen Porsche oder eine teure Villa oder eine Jacht! Ist doch nur Verschwendung! – Natürlich braucht man das alles nicht. Aber verschwenderisch leben zu können, ist am Ende doch angenehm, und wer es nicht kann, wird leicht neidisch.

Und dann kommt das soziale Argument: Die Armen, die sozial Schwachen, die Kinder in Afrika … Die Anwesenden rechnen nach: 300 Tageslöhne – man könnte eine Familie fast ein ganzes Jahr lang satt machen, man könnte 300 Familien einen Tag lang satt machen. Wäre das nicht besser, als das Geld gleichsam in Luft aufzulösen, in Wohlgeruch und weiter nichts?

Diese Sicht ist uns doch nicht fremd, und es ist moralisch fast unmöglich, zu sagen: Nein, heute verschwenden wir lieber unsere Mittel, um Jesus zu ehren, anstatt irgendwelchen Armen zu helfen.

Diese Frau geht ganz anders heran, als wir es tun würden, vor allem ganz anders als die Männer, die dabei sind. Sie kümmert sich nicht darum, was sich gehört und was nicht. Sie folgt ihrem Herzen.

Sie rechnet nicht: Sie berechnet nicht, was sie selber davon hat, was sie selber dadurch verliert, was andere davon haben oder nicht. Es spielt keine Rolle. Sie folgt ihrem Herzen.

Sie geizt nicht, sondern sie gibt, was sie hat: alles und das Beste. Weniger wäre zu wenig. Sie folgt ihrem Herzen.

Und dieses Herz ist ganz bei Jesus. Vielleicht hat das auch mit menschlicher Liebe zu tun, mit Erotik: Sie berührt ihn, sie gießt das Duftöl auf seinen Kopf, verreibt es vielleicht mit ihren Händen … Aber vielleicht ist in dieser Liebe auch viel mehr: die Ahnung dessen, dass sie es nicht nur gefühlt mit dem großartigsten Mann der Welt zu tun hat, sondern tatsächlich mit dem bedeutendsten Menschen, der je gelebt hat, dem Menschen Gottes, dem Gottmenschen.

So ganz genau wissen wir es nicht, was ihr Herz bewegt, aber dass sie ganz und gar ihrem Herzen folgt, das sehen wir. Und Jesus hat es gesehen, hat sie gelobt, sie in Schutz genommen und ihr Tun für uns gedeutet. Für uns, denen unkonventionelles Verhalten und Verschwendung eigentlich suspekt sind. In Jesu Augen, mit denen auch wir zu sehen eingeladen sind, ist es heilige Verschwendung.

Als erstes sagt Jesus: Lasst sie in Frieden! Was betrübt ihr sie? – Schon das könnte ein guter Grund sein, jemanden nicht zu tadeln, selbst wenn wir sein Verhalten tadelnswert finden – oder es einfach nicht verstehen: Ihn oder sie nicht betrüben! Man kann sich sein Teil denken, aber das ist noch lange kein Grund zur offenen Kritik zu schreiten. Jesus meint: Vielleicht findet ihr das nicht so toll, was der eine oder die andere tut; aber lasst sie doch, sie meint es gut!

Aber er fügt noch deutlich mehr hinzu: Sie hat ein gutes Werk an mir getan. – Die Gäste argumentieren ja mit guten Werken, mit Armenhilfe und Sozialarbeit nämlich. Jesus sagt: Es gibt noch andere gute Werke.
Wir mögen an das Doppelgebot der Liebe denken: Gott lieben und seinen Nächsten wie sich selbst. – Man kann es so sehen, dass die Kritiker die Nächstenliebe gegen die Gottesliebe ausspielen. Dabei ist doch Gott lieben noch ein kleines bisschen wichtiger als den Nächsten zu lieben.

Aber auch wenn man in Rechnung stellt, dass die Menschen damals noch nicht einfach in Jesus Gott selber erkannt haben, auch dann muss man bedenken, was Nächstenliebe bedeutet: Der Nächste, das ist wörtlich mein Nachbar, mein unmittelbarer Mitmensch, der mir am nächsten ist. Ich muss mich zuerst um meine Ehefrau, meine Kinder, meine Eltern kümmern, ehe ich mich um Arme kümmern kann. Natürlich ist mein Nächster, der, der vor mir liegt, weil er unter die Räuber gefallen ist. Aber nicht jeder, der irgendwo unter die Räuber gefallen ist, ist mein Nächster. Das überfordert mich. Nächstenliebe reicht, so weit wie meine Arme reichen. Fernstenliebe ist nicht Jesu Gebot. – Für die Frau mit dem Salböl ist Jesus der Nächste. Offenbar ist er ihrem Herzen so nahe. Und so ist das, was sie tut beides, ein Werk der Gottes- und der Nächstenliebe.

Jesus fährt fort: Ihr habt allezeit Arme bei euch; mich aber habt ihr nicht allezeit. Jesus ist schon etwas Besonderes, und so nimmt er ganz selbstverständlich auch das Besondere für sich an.

Ich finde das auch heute ganz wichtig. Uns liegt Sozialarbeit und das Geben für Hilfsbedürftige am Herzen. Zurecht. Aber es ist nicht unsere Hauptaufgabe als Christen, als Kirche. Wir müssen auch damit leben und umgehen, dass wir in dieser Beziehung immer an Grenzen kommen. Ihr habt allezeit Arme bei euch. Wir haben nicht die Verheißung, nicht den Auftrag und nicht die Mittel, die Armut zu beseitigen. Wir können im Rahmen unserer Möglichkeiten da oder dort helfen, mehr nicht. Und wahrscheinlich werden wir öfter Nein sagen müssen, als es uns lieb ist, wenn wir um konkrete Hilfe gefragt werden. Wir werden Nein sagen müssen auch zugunsten dessen, was unsere Verheißung und unser Auftrag ist: Jesus ehren, Gottesdienst feiern, Gottes Wort singen und sagen, Gemeinde sein, Menschen zum Glauben und zur Gemeinschaft einladen.

Ich sage das ganz bewusst auch im Blick auf unsere Gemeinde und unser Tun hier. Der Kirchenvorstand hat in seiner letzten Sitzung beschlossen, dass wir künftig an einem Sonntag im Monat die Kollekte für unseren Sozialfonds oder für andere soziale Projekte sammeln wollen. Aber wir müssen wissen, dass wir damit nur in ganz begrenztem Maße helfen können, und dass die geistlichen Aktivitäten unserer Gemeinde Vorfahrt haben müssen. Und – ich füge das aus begründetem Anlass hinzu –: Unser Auftrag und unsere Nächsten hier auf Teneriffa sind die Menschen deutscher Sprache.

Ich sage das alles nicht aus Hartherzigkeit, sondern euch zum Trost und zur Erleichterung des Gewissens: Arme haben wir allezeit, und wir können ihnen im Rahmen unserer Möglichkeiten Gutes tun. Jesus aber ist der Wichtigste, ist der Mittelpunkt für uns. Für ihn zuerst lasst uns tun, was wir können!

Jesus sagt: Sie hat meinen Leib im voraus gesalbt für mein Begräbnis. – Das ist merkwürdig. Es gibt dem – rational betrachtet so sinnlosen – Tun dieser Frau einen tiefen symbolischen Sinn. Sicher hat sie das nicht gewusst, dass Jesu Begräbnis bald anstand. Die Anwesenden werden schockiert gewesen sein über diese Aussage Jesu. Die Salbung bekommt etwas Prophetisches. Und in der Tat ist der Leichnam Jesu dann nicht, wie es üblich war, gesalbt und balsamiert worden. Die Frauen, die das am Ostermorgen nachholen wollten, kamen zu spät. Die, die es bei jener Mahlzeit getan hat, kam rechtzeitig.

So kann es auch sein: In dem, was von außen betrachtet sinnlos erscheint, kann ein tiefer Sinn verborgen sein.

Und so ist diese Begebenheit im Leben Jesu so bedeutend geworden, dass wir daran erinnern und sie im Gedächtnis behalten, so wie der Herr es vorausgesehen hat.

Ihr Beispiel lässt sich nicht ohne weiteres verallgemeinern. Aber Verschwendung, so sehen wir, kann schon sinnvoll sein, vor allem, wenn es heilige Verschwendung ist, Verschwendung für den Herrn.

Dienstag, 12. April 2011

Predigt vom 10. April (Judika)

Gott versuchte Abraham und sprach zu ihm: "Abraham" Und er antwortete: "Hier bin ich." Und er sprach: "Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde."
Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte. Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne und sprach zu seinen Knechten: "Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen."
Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und gingen die beiden miteinander. Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: "Mein Vater!" Abraham antwortete: "Hier bin ich, mein Sohn." Und er sprach: "Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?" Abraham antwortete: "Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer." Und gingen die beiden miteinander.
Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, dass er seinen Sohn schlachtete.
Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: "Abraham! Abraham!" Er antwortete: "Hier bin ich." Er sprach: "Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen." Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich in der Hecke mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes Statt.
1. Mose (Genesis) 22, 1-13


Schrecklich ist's, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen (Hebräer 10, 31). – Liebe Schwestern und Brüder, Abraham ist in die Hände des lebendigen Gottes gefallen, und es ist schrecklich. Gott versuchte Abraham, und es ist eine schreckliche Versuchung: Opfere deinen einzigen Sohn, den du lieb hast! Ein schrecklicher, entsetzlicher, grausamer Gott, der Menschenopfer fordert. Eine schreckliche, entsetzliche, grausame Versuchung, dieses Opfer zu vollziehen!

Der da oben, der liebe Gott, das sind Worte, die ich in letzter Zeit häufiger gehört habe, wenn es um unseren Gott ging. – Schrecklich kann Gott doch nicht sein, das wäre ja schrecklich! – Unser Gott ist der liebe Gott: Der tut nichts, der will nur spielen. Gott als Schoßhündchen oder bestenfalls noch als Anstandswauwau, so möchten wir es gerne!

Und dann sind wir erschrocken, schockiert, entsetzt – betroffen, wenn etwas passiert, das der liebe Gott doch hätte verhindern müssen. Erdbeben, Tsunami, Krieg, Terror ... Lieber Gott, wie kannst du das zulassen? – Erdbeben, Tsunami, Krieg, Terror fordern Menschenopfer. Und Gott? Hat er damit zu tun? Oder geht es ihn nichts an?

Als junger Mann habe ich Wolfgang Borchert gelesen, der die Geschichte eines Kriegsheimkehrers auf die Bühne gebracht hat: „Draußen vor der Tür“. In der tritt Gott als hilfloser alter Mann auf, der beklagt, dass sich die Menschen von ihm abgewandt haben und dass keiner mehr an ihn glaubt. Ein armer, alter, ohnmächtiger Gott. – Schrecklich! Aber schrecklich, weil er nichts tut und nichts vermag!

In der Zwischenzeit hat man die Ohnmacht Gottes zum theologischen Programm gemacht. Damit meint man, aus dem Schneider zu sein. Gott ist nicht mehr verantwortlich. Wir sind selber verantwortlich. Gott hat Mitleid, das ja. Aber er tut nichts. Er leidet mit uns, an uns. Aber er hilft nicht. – In die Hände des ohnmächtigen Gottes zu fallen, das ist sicher nicht so schrecklich. Aber was haben wir von einem lieben Gott, der eben nur lieb ist, über seine Kinder weint und sie am Ende doch alle in den Himmel bringt? – Klar, genau das: dass er uns alle in den Himmel bringt. Aber wenn er das sowieso tut, warum dann an ihn glauben? Warum dann auf ihn hören?

Hat nicht diese verdammte religiöse Gleichgültigkeit unserer Zeit genau damit zu tun, dass wir meinen, vor Gott nichts mehr fürchten zu müssen? Dass er seine Schrecklichkeit verloren hat?

Ich bin dankbar, dass wir diesen Text, diese schreckliche Geschichte in unserer Bibel und sogar noch in unserer Predigtreihe haben. So kommen wir an dem schrecklichen Gott nicht vorbei.

So wie Abraham an dem schrecklichen Gott nicht vorbeikam. Gott, der ihn berufen hatte, der ihn geführt hatte, bewahrt und gesegnet, der wurde ihm mit einem Male zum Feind, zum Dämon, zum Abgrund. Er forderte zurück, was er gegeben hatte. Den Sohn der Verheißung, das Kind der Liebe, den gegebenen Segen. Er forderte das Menschenopfer. Das war nicht der liebe Gott, der Kuschelgott; das war der schreckliche Gott, dem niemand ohne Furcht und Zittern begegnen darf.

Dieser Gott ist nicht schwach und alt und ohnmächtig; er ist mächtig und stark, schrecklich und furchteinflößend. Und er ist der Allmächtige. Dem alles zuzutrauen ist. Ohne den nichts ist, was ist. Auch kein Erdbeben und kein Terroranschlag.

Wenn wir etwas von Gott verstehen wollen, dann müssen wir verstehen, dass wir ihn nicht verstehen. Dann müssen wir erfahren, dass er der ganz Andere ist, der Fremde. Der Heilige.

Abraham ist in die Hände des lebendigen Gottes gefallen. Einem toten Gott, einem bloß ohnmächtigen und leidenden Gott hätte er sich entziehen können; dem lebendigen Gott kann er sich nicht entziehen.

Auf ihn hatte er gehört, ihm war er gefolgt, als er ihn aus seinem Vaterland weggerufen hatte in ein fremdes, fernes Land. Ihm hat er vertraut gegen alle Vernunft, als er ihm, dem 75-Jährigen samt 65-jähriger Frau noch einen Sohn versprach. Dem Allmächtigen war das nicht unmöglich.

Und dann ist es ihm ebenso möglich, seine Verheißung zurückzunehmen, den Sohn zurückzufordern. Zu verstehen ist das nicht.

Wir mögen erahnen, was hinter den knappen Worten der Erzählung steht an Herzensqual, an Schmerz und Verzweiflung! Der lange Weg zum Berg Morija: drei Tagesmärsche. Und dann der letzte Abschnitt, nur Vater und Sohn. Und gingen die beiden miteinander. Nach langem Schweigen die Frage: Mein Vater! – Ja, mein Sohn! Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. – Eine Lüge, eine Beschwichtigung, eine ganz vage Hoffnung bestenfalls. Verzweifelt möchte Abraham die grausame Wahrheit verbergen, nicht wahrhaben ... Und gingen die beiden miteinander.

Wir können es nicht wirklich erklären, warum Abraham diesen schweren Weg antritt. Es ist wohl die Unerbittlichkeit des Allmächtigen, die ihn zwingt.

Immanuel Kant, der große Philosoph, hat gemeint, Abraham hätte nicht losgehen dürfen. Er hätte sich dem schrecklichen Befehl des grausamen Gottes widersetzen müssen: um der Unbedingtheit des Sittengesetzes willen. Selbst Gott dürfte nichts Böses vom Menschen verlangen. Nein, das dürfte er nicht, wenn er der Gott der Aufklärung wäre, der blasse Philosophengott, der nichts ist, als eine personifizierte Idee. Er ist aber der Gott der Bibel, der lebendige, der unberechenbare, der ganz andere, fremde, heilige Gott.

Ich gebe es zu, der Gedanke Kants fasziniert mich. Er kehrt quasi die Geschichte um. Die Versuchung ist es gerade, der vermeintlichen Stimme Gottes zu gehorchen. Nach Kant hätte Abraham antworten müssen: "Dass ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiss; dass aber du, der du mir erscheinst, Gott seist, davon bin ich nicht gewiss und kann es auch nicht werden, wenn sie die Stimme auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallete."

Dieses Kant'sche Argument ist um so wichtiger, als wir im Umgang mit denen, die im Namen ihres Gottes meinen, Menschen opfern zu müssen, entgegenhalten, eine solche Religion sei inakzeptabel. Sie ist es auch. Wir dürfen keinen anderen Standpunkt einnehmen als den, der das Töten im Namen der Religion, im Namen Gottes ablehnt.

Und doch müssen wir es hinnehmen, ertragen, aushalten, dass der lebendige Gott, dem wir im Leben und im Sterben vertrauen, uns zum unverstandenen Fremden, ja zum Grauen werden kann. Dass er uns Schreckliches abverlangt.  Wir werden es aushalten müssen, dass Gott nicht in unser Schema vom lieben Gott passt.

G
ottes Fremdheit, Gottes Grausamkeit kann sich erst vom Ende her erschließen. Die Abraham-Geschichte hat ja ein Happy-End. Die Verheißung ist nicht hingefallen, der Sohn lebt. Gott hat wahr gemacht, was Abraham seinem Sohn zur Beschwichtigung weismachen wollte: Er hat sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Stellvertretend.

Das Lamm Gottes.

Wir kommen nicht umhin die Geschichte zu Jesus hin auszuziehen. Wenn wir uns dem Gott widersetzen, in dessen Hände zu fallen schrecklich ist, dann widersetzen wir uns auch dem Kreuz Jesu. Der liebe Gott könnte uns doch mit Sicherheit vergeben und annehmen, auch ohne seinen Sohn am Kreuz zu schlachten – so sagen manche, viele. Es ist eine grausame Geschichte, so sagen sie zurecht. War es ein Missverständnis, dass Jesus sich aufs Kreuz legen ließ? – Ich glaube es nicht. Aber erst vom Ende her kann sich der Sinn des Kreuzes erschließen: Der Sohn lebt. Er ist das Opferlamm, das stellvertretend für uns stirbt. Aber er lebt und wir sollen auch leben.

Warum Gott diesen grausamen Weg gegangen ist, warum er seinen Sohn erfahren ließ, wie schrecklich es ist, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen, das werden wir wohl nicht aufklären können. Aber eines sehe ich daran: dass es Gott schrecklich ernst ist – schrecklich ernst mit seiner Liebe zu uns.

Montag, 11. April 2011

Predigt vom 3. April 2011 (Lätare)

gehalten in Playa de Las Américas, und am 9. April 2011 in San Sebastián


Jesus sprach: "Mein Fleisch ist die wahre Speise und mein Blut ist der wahre Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm. Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und ich lebe um des Vaters willen, so wird auch, wer mich isst, leben um meinetwillen. Dies ist das Brot, das vom Himmel gekommen ist. Es ist nicht wie bei den Vätern, die gegessen haben und gestorben sind. Wer dies Brot isst, der wird leben in Ewigkeit." Das sagte er in der Synagoge, als er in Kapernaum war.
Viele nun seiner Jünger, die das hörten, sprachen: "Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören?" Da Jesus bei sich selbst merkte, dass seine Jünger darüber murrten, sprach er zu ihnen: "Ärgert euch das? Wie, wenn ihr nun sehen werdet den Menschensohn auffahren dahin, wo er zuvor war? Der Geist ist's, der lebendigt macht; das Fleisch ist nichts nütze. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben. Aber es gibt einige unter euch, die glauben nicht." Denn Jesus wusste von Anfang an, wer die waren, die nicht glaubten, und wer ihn verraten würde. Und er sprach: "Darum habe ich euch gesagt: Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm denn vom Vater gegeben."
Johannes 6, 55-65

Liebe Schwestern und Brüder,

mindestens einmal im Monat feiern wir Heiliges Abendmahl, so auch heute. Wir versammeln uns um den Altartisch, den Tisch des Herrn. Wir teilen Brot und Wein – wenn auch nur in kleinen Portionen. Wir werden daran erinnert, dass Jesus Christus für uns sein Leben in den Tod gegeben hat: Christi Leib, für dich gegeben! – Christi Blut, für dich vergossen! Wir essen und trinken, und wir glauben: Er ist hier, wo wir feiern. Er nimmt uns an, so wie wir sind. Er vergibt und befreit. Und wir nehmen ihn an, so wie wir Brot und Wein annehmen, aufnehmen in unser Leben. Wir fassen einander an den Händen: Wir gehören zusammen, weil wir zusammen ihm gehören.

Was da geschieht, im Heiligen Abendmahl, das können wir nur schwer in Worte fassen. Es ist und bleibt geheimnisvoll: Geheimnis des Glaubens – wie es in manchen Abendmahlsliturgien heißt.

Das Geheimnis des Glaubens kann man freilich auch leicht missverstehen. Wo die passenden Worte fehlen, reden wir schnell mit unpassenden Worten aneinander vorbei. Das Heilige Abendmahl, das uns am Tisch des Herrn vereinigt, es trennt zugleich zwischen Christen unterschiedlicher Konfessionen. Es ist eines der Haupthindernisse zur Einheit der Kirche.

Die einen sagen: Ich und meine evangelischen Amtsbrüder und -schwestern, wir hätten gar nicht die geistliche Vollmacht und Befähigung ein gültiges Abendmahl zu feiern.

Die anderen sagen: Darauf kommt es nicht an, sondern auf die richtigen Worte, so wie Jesus sie gesagt hat, so wie sie in der Bibel stehen, machen das Abendmahl zu einem echten Herrenmahl.

Wieder andere meinen: Entscheidend sind nicht die Worte, entscheidend ist der Glaube. Ich muss glauben, dass ich wirklich das Mahl des Herrn empfange und darin Vergebung, Zuspruch und Stärkung, sonst nützt es mir nichts.

Andere noch verschärfen das: Wenn du nicht glaubst, dann wird das Mahl für dich nicht Gottes Heil, sondern Gottes Gericht sein.

Die einen sagen: Brot und Wein werden wahrhaftig und unsichtbar in Leib und Blut Christi verwandelt.
Die anderen sagen: Brot und Wein sind sichtbares Zeichen, Symbol für die Gegenwart Christi, die ich aber eigentlich im Geiste erfahre.

Dazwischen stehen diejenigen, die sagen: Christus ist, wie auch immer, im Brot und im Wein gegenwärtig.

Ich deute damit nur einige Punkte an, die unter den Christen verschiedener Herkunft umstritten sind und die es nach wie vor schwer machen, an einem Tisch miteinander das eine Mahl des einen Herrn zu feiern. Dahinter stehen komplizierte theologische Fragen, die man durchaus ernst nehmen muss.

Es ist noch keine vierzig Jahre her, dass auch evangelische Christen aus unterschiedlichen Kirchen, die doch auch damals schon in der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland, vereint waren, noch nicht miteinander Abendmahl feiern konnten. Lutheraner und Reformierte waren seid dem 16. Jahrhundert untereinander zerstritten über die Frage, ob Brot und Wein nun Leib und Blut Christi sind oder Leib und Blut Christi bedeuten.

Mir scheint, all diese Streitpunkte kommen daher, dass wir es eben mit einem Geheimnis zu tun haben, dem wir uns immer nur auf unterschiedliche Weise annähern können. Und manche nähern sich von entgegengesetzten Richtungen an.

Zumindest hat das Herrenmahl eine Perspektive: Es ist das Mahl des kommenden Gottesreiches. Im Himmel wird es keine getrennten Tische für Katholiken, Lutheraner und Reformierte mehr geben.

Interessant ist ja, dass die Rede Jesu, in der er sich als Brot des Lebens bezeichnet, schon damals, in unserem heutigen biblischen Abschnitt, zu Missverständnissen und Streit, Ärger und Spaltungen führt.

Wir haben nur einen kleinen Ausschnitt dieser Rede gehört. Eigentlich ist es das ganze 6. Kapitel im Johannesevangelium, das um dieses eine Thema kreist: Jesus, das Brot des Lebens. Jesus, das Brot, das vom Himmel kommt. Jesus, die wahre Speise.

Und eigentlich ist es ein ganz leicht verständliches Bild: Brot, das Grundnahrungsmittel. Es vergeht wohl kaum ein Tag, an dem wir nicht in irgendeiner Form Brot essen. Es ist kräftig, nährt, macht satt, schmeckt gut. Manchen ist vielleicht noch die Auswahl an verschiedenen schmackhaften Brotsorten vom Weltgebetstag gegenwärtig.

Unser tägliches Brot gib uns heute, beten wir, weil Jesus es uns so gelehrt hat. Das tägliche Brot – der Inbegriff für das, was wir zum Leben brauchen – wirklich brauchen.

Wer noch die Erfahrung gemacht hat, dass das Lebensnotwendige nicht selbstverständlich ist, dass es hart erarbeitet, vielleicht sogar erbettelt, erkämpft, für teuren Gegenwert eingekauft werden muss, der weiß, was diese Bitte bedeutet.

Jesus beginnt mit dem Elementaren, dem täglichen Brot. "Erst kommt das Fressen, dann die Moral", hat Brecht gesagt. Jesus macht zuerst 5000 Leute satt, dann belehrt er sie darüber, was sie darüber hinaus brauchen. – Das Traurige ist: Sie wollen beim Fressen, beim täglichen Brot stehen bleiben. Es würde ihnen reichen, wenn sie einen hätten, der ihnen das tägliche Brot ohne Mühe, oder besser noch die gebratenen Tauben vom Himmel garantieren würde.

Diesem Anspruch entzieht sich Jesus. Er möchte mehr geben. Er möchte das geben, was sich Menschen nicht selber erarbeiten können: Brot, das vom Himmel kommt. Mehr noch: er möchte das sein, was Menschen sich nicht selber geben können: Grundnahrungsmittel – nicht für den Leib, sondern für Seele und Geist.
Das Geheimnis Jesu ist seine Hingabe an die Menschen.

Brot ist nicht zum Anschauen da, sondern zum Verzehr bestimmt. Jesus lässt sich verzehren von dieser Welt. Gebrochen und zerrissen wie Brot. Er gibt sich ganz hin. Er gibt der Welt sein Leben – das ewige Leben. So ist er unser Nahrungsmittel zum ewigen Leben.

Jesus drückt sich drastisch aus, wenn er davon spricht, dass wir Menschen ihn essen sollen – mit Fleisch und Blut. Er drückt es so drastisch aus, weil seine Hingabe so drastisch ist: Er fährt nicht unberührt und schmerzlos zum Himmel auf. Er stirbt am Kreuz. Und da stirbt nicht irgendein menschlicher Scheinleib, der den Gottessohn nur umgibt, da leider er selber den Tod, mit allen Schmerzen des Leibes und der Seele.

Im Abendmahl haben wir teil an dieser drastischen Hingabe Jesu für uns: Christi Leib, für dich gegeben. Christi Blut, für dich vergossen. Wir essen und trinken, um es selber leiblich und geistlich zu erfahren, was Christus für uns ist. Er ist das Brot des Lebens. Bild und Wirklichkeit überschneiden sich: Wir essen Brot und nehmen Ihn auf in unser Leben. Wir trinken Wein und werden von seiner Lebendigkeit durchdrungen.

Geheimnis des Glaubens. – Wirklich erklären, wirklich begreifen können wir es nicht. Aber miteinander feiern. Ihr seid eingeladen an den Tisch des Herrn – auch heute wieder!

Samstag, 2. April 2011

Predigt vom 27. März 2011 (Okuli)

Unter Verwendung einer Predigt von 2005


Liebe Schwestern und Brüder,

Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an (1. Samuel 16, 7). Dieses schöne und bekannte Bibelwort passt hervorragend als Überschrift für unseren heutigen Predigttext.

Der Herr Jesus Christus, und die Menschen, die zu ihm gehören, seine Jünger, sehen gemeinsam auf dieselbe Szene, und sie sehen doch Verschiedenes.

Im Tempel stehen 13 große posaunenförmige Opferbehälter. Dort legen die Tempelbesucher ihre Gaben ein, so wie wir am Ausgang des Gottesdienstes unsere Gaben einlegen. Nein, es ist anders als bei uns: Sie übergeben ihre Spenden an einen Priester, der daneben steht, und die Spendensumme ausruft. Da werden zum Teil beachtliche Summen genannt.

Es wäre interessant zu sehen, was das für eine Wirkung hätte, wenn wir bekannt geben würden, was ein jeder ins Kollektenkörbchen einwirft. – Ob das unsere Kollektenaufkommen vergrößern würde? Oder unsere Gottesdienstbesucherzahl verkleinern?

Bei uns ist es nicht so, vielleicht zum Glück. Wir legen diskret etwas ein, drücken dem Pfarrer vielleicht noch mal vertraulich was in die Hand oder überweisen einfach unseren Gemeindebeitrag. Vielleicht denken wir auch an das Wort Jesu, dass die linke Hand nicht wissen soll, was die rechte gibt (Matthäus 6, 3). Aber das ist nicht als Aufforderung zum Wenig-Geben gemeint, sondern als Schutz vor Stolz und Eitelkeit: Keiner soll sich mit seiner großen Spende brüsten; keiner soll sich wegen seiner kleinen Spende schämen. So geben wir nur die Gesamtspendensumme bekannt. Falls größere Einzelspenden genannt werden, dann jedenfalls nicht die Namen der Spender.

Anders ist es beim Sponsoring. Die Nordausgabe unseres Gemeindebriefs enthält beispielsweise namentliche Werbung von Firmen. – Das ist zum gegenseitigen Nutzen: Die Gemeinde bekommt Geld dafür, und die Firmen bekommen Aufmerksamkeit – und das bei einem seriösen Kundenkreis. – Nicht allen gefällt das: Ein Kollege, den ich diese Woche beim Inselpfarrerkonvent kennenlernte, war der Meinung, das sei Kapitalismus, mit dem die Kirche möglichst nichts zu tun haben sollte. – Ich halte das für eine legitime Werbemethode; mit Spenden im Sinne Jesu hat es allerdings wirklich nichts zu tun. Wer den Nutzen seiner Spende für sich selbst verbuchen will, der hat bei Gott keinen Nutzen mehr. Er hat seinen Lohn dahin, sagt Jesus.

Wie auch immer, die Jünger sehen mit ihren Augen und hören mit ihren Ohren, was da für Beträge eingelegt werden. Und ich stelle mir vor, dass sie bei manchem Betrag richtige Kulleraugen kriegen. Der Mensch sieht eben, was vor Augen ist. Er sieht, dass eine Spende von 500 Euro mehr ist als eine Spende von 50 Cent. Man kann eben tausend mal so viel damit machen. So ist unser menschlicher Blick.

Zwischen denen, die spektakuläre Beträge einlegen, kommen natürlich auch viele, die eine kleine Summe geben. Und dann ist da die alte Frau, an der Kleidung als Witwe zu erkennen, und sie legt zwei Cent ein – lachhaft wenig, keiner Aufmerksamkeit wert.

Wer schon mal mit Kollekte gezählt hat, kennt das: Wenn viel Kleingeld dabei ist, dann ärgern wir uns, dass da jemand offenbar seine Brieftasche ausgemistet hat. Viel Arbeit mit dem Zählen, aber es bringt nicht viel. Da loben wir uns die großen Scheine.

Als die Jünger aus dem Häuschen geraten, weil da einer einen fünfstelligen Betrag spendet, bleibt Jesus ganz gelassen. Aber als diese Witwe ihre Gabe gibt, da werden seine Augen ganz groß. Und er ruft seine Jünger und erklärt ihnen: „Diese Frau hat mehr gegeben als alle anderen.“ – „Na toll“, denken seine Jünger, „seit wann sind 2 Cent mehr als ein paar tausend Euro“? – Und hier erfahren wir, dass Jesus, der Herr, mehr sieht, als vor Augen ist: Die anderen haben alle etwas von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte. – Das können die Jünger nicht sehen, der Mensch sieht eben nur, was vor Augen ist. Jesus sieht, was wirklich ist. Die Umstände, die wir nicht überblicken und die Herzenshaltung eines Menschen.

Es steht ausdrücklich da, dass es „zwei Scherflein“ sind, die die Witwe opfert. Sie hätte ja wenigstens die Hälfte für sich zurückbehalten können. Aber sie gibt alles, was sie hat. Jeder von uns hätte Verständnis dafür, wenn sie überhaupt nichts geben würde. Es ist doch unvernünftig. Zwei Cent mehr oder weniger in der Tempelkasse, das ist irrelevant. Damit kann man nichts machen. Am besten ist es, sie behält das wenige. Damit hätte sie vielleicht noch einen Tag was zu essen gehabt. – Klingt zwar für uns komisch – mit zwei Cent –, aber wir können ja schlecht unsere heutigen Preismaßstäbe anlegen. Es war damals einfach die kleinste Münze, auch wenn man mehr dafür kaufen konnte als heute. – Ein wertloses Opfer, möchte man trotzdem meinen. Keinem ist geholfen: die Frau hat weniger als zuvor und der Tempel hat nicht mehr als zuvor.
Das ist menschlich gedacht, eigentlich ganz vernünftig, zu sagen: Du hast so wenig; gib einfach nichts! – Jesu Blick ist anders. Jesus hat den Blick Gottes. Den Blick, der das Herz ansieht. Was sieht dieser Blick?

Mutter Teresa erzählt einmal eine ganz ähnliche Begebenheit:
Eines Tages ging ich die Straßen hinunter. Ein Bettler kam auf micht zu und sagte: „Mutter Teresa, alle schenken dir etwas; auch ich möchte dir eine Kleinigkeit schenken. Heute habe ich nur 29 Centimes an einem ganzen Tag bekommen und ich möchte sie dir schenken.“ Ich überlegte einen Augenblick; wenn ich diese 29 Centimes nehme (die fast nichts wert sind), wird er an diesem Abend wohl nichts zu essen bekommen, aber wenn ich sie nicht annehme, werde ich ihn traurig machen. Also habe ich die Hand ausgestreckt und das Geld genommen. Niemals habe ich auf einem Gesicht eine so große Freude gesehen wie bei diesem Mann, so froh war er, Mutter Teresa etwas schenken zu können! Es war ein großes Opfer für ihn, der den ganzen Tag über in der prallen Sonne diese lächerliche Summe erbettelt hatte, mit der man nichts anfangen konnte. Aber ebenso wunderbar war es, dass diese wenigen Münzen, auf die er verzichtet hatte, einem Reichtum gleichkamen – denn sie wurden mit einer so großen Liebe gegeben. (Hoffsümmer, Kurzgeschichten)

Mutter Teresa hat hier wohl auch den Blick Jesu. Dieser sieht die Liebe hinter der Gabe. Er sieht nicht nur den Nutzen, sondern die Liebe, die Hingabe.

Denn weder der Bettler noch die Witwe in der biblischen Geschichte geben in erster Linie zum Nutzen der Menschen, schon gar nicht aus Eigennutz, wie irgendwelche Sponsoren. Sie geben für Gott, aus Liebe zu ihm. Und da ist die Frage nicht: Was können Menschen schon mit so einer Gabe anfangen?, sondern: Was kann Gott damit anfangen? – Gott kann mit viel oder wenig etwas anfangen.

Aber nicht mal darum geht es in erster Linie, sondern es geht darum, dass Gott mit einem Menschen etwas anfangen kann.

Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an. – Als dieses Wort zum ersten Mal gesagt wurde, da ging es auch um einen Menschen, mit dem Gott etwas anfangen konnte; es ging um den neuen König für das Volk Israel. Und das war dann der junge und unscheinbare David.

Mit einem Menschen, der alles, was er hat, Gott gibt – so wie die Witwe – mit dem kann er etwas anfangen. Sie hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte. Der griechische Urtext gibt noch mehr her als diese – durchaus richtige – Übersetzung. Sie hat alles eingelegt, was sie hatte, ihr ganzes Leben. So steht es da. Es ist nicht nur die kleine oder große Spende, es ist Lebenshingabe. Und das sieht Jesus, sieht Gott. Mit einem Menschen, der ihm sein ganzes Leben hingibt, mit dem kann er etwas anfangen, und wenn es ein Bettler oder eine arme Witwe ist.

Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an. Wir ändern jetzt die Blickrichtung und versuchen mit den Augen der Witwe zu schauen. Sie ist ein Mensch, der zu Gott passt, denn sie sieht nicht mit ihren Augen, sondern mit ihrem Herzen. Sie sieht nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Sie sieht nicht darauf, was man mit zwei Cent machen kann; sie sieht auf Gott. Sie sieht nicht darauf, dass sie nun nicht mehr weiß, wovon sie die nächste Mahlzeit bezahlen soll; sie sieht auf Gott, ihren Schöpfer, der für sie sorgen wird. Sie gibt, was sie hat, und das ist alles, und das ist sie selbst. Ihr Blick ist gleichsam von der Erde zum Himmel gewendet. Was immer sie auf Erden hat, es ist für den Himmel bestimmt – für Gott. Kein vernünftiges Abwägen mehr, sondern Hingabe. Liebe. Denn so ist das mit der Liebe. Sie wägt nicht ab, sondern sie gibt, sie gibt sich selbst.

Jesus macht seine Jünger auf diese Frau aufmerksam, weil sie Vorbild ist für Jünger – und Jüngerinnen. Nachfolger Jesu haben die Blickrichtung geändert. Von der Erde zum Himmel, von dem, was zurückliegt, auf das was kommt, von der eigenen Last zur Last des Kreuzes, die Jesus trägt. Vom eigenen Glück zur Seligkeit in Gott.

So wird diese Geschichte zur Anfrage an uns. Wie viel sind wir bereit zu geben? Ein wenig von unserem Überfluss für Gott? Eine namhafte Spende für die Kirche – oder für Hilfsbedürftige? Unsere Zeit und unsere Kraft für die Gemeinde? Oder „alles für den Herrn“ – unser ganzes Leben?

Solche Hingabe des ganzen Lebens hat es immer wieder gegeben. Menschen haben sich mit allem, was sie hatten und waren, in Gottes Dienst gestellt. Die genannte Mutter Teresa von Kalkutta war eine von ihnen. – Eine Ausnahme – eine Heilige. Der Mann von dem sie berichtet, die Witwe aus dem Evangelium, auch sie sind Ausnahmen. Menschen, aus denen uns Gottes Liebe anblickt.
Und wir?

Mir hilft der Blick Jesu. Der Herr aber sieht das Herz an. Ich weiß: Er sieht mich, er kennt mich, meine Fähigkeiten, meine Grenzen; das, was ich gebe, das, was ich nicht gebe. Vielleicht ist er traurig, wo ich nicht alles gebe. Aber er schaut mich nicht finster an, er droht mir nicht, er verurteilt mich nicht. So wenig, wie er die übrigen Spender verurteilt, die nur von ihrem Überfluss geben. Er blickt mich liebevoll an. Und wenn ich seinen liebevollen Blick spüre, dann hilft mir das, seinen Blick zu erwidern, auf ihn zu schauen, mich auf ihn neu auszurichten und ihm von meinem Leben zu geben, was ich eben geben kann.

Mögen sich seine Blicke und unsere Blicke treffen. Denn in diesem Augen-Blick ist Leben und Seligkeit. Amen.

Predigt vom 20. März 2011 (Reminiszere)

Wenn ich zu Christi Zeiten gelebt hätte: so würden mich die in seiner Person erfüllten Weissagungen allerdings auf ihn sehr aufmerksam gemacht haben. Hätte ich nun gar gesehen, ihn Wunder tun; hätte ich keine Ursache zu zweifeln gehabt, daß es wahre Wunder gewesen: so würde ich zu einem, von so langeher ausgezeichneten, wundertätigen Mann, allerdings so viel Vertrauen gewonnen haben, daß ich willig meinen Verstand dem Seinigen unterworfen hätte; daß ich ihm in allen Dingen geglaubt hätte, in welchen eben so ungezweifelte Erfahrungen ihm nicht entgegen gewesen wären.
G.E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, Werke Bd. VIII

Liebe Schwestern und Brüder,

das sind die Worte eines sehr klugen Menschen, der sich zu seiner Zeit mit dem christlichen Glauben herumgeschlagen hat. Es handelt sich um Gotthold Ephraim Lessing, bis heute bekannt als Dichter und Denker der Aufklärung – vor allem durch seinen "Nathan". Ja, wenn ich damals dabei gewesen wäre, ja, wenn ich seine Worte selber gehört, seine Wunder selber gesehen hätte, dann wäre es mir ein Leichtes gewesen, ihm zu glauben. Nun aber lebe ich viele Jahrhunderte später, und ich habe nur Geschichten, Überlieferungen, Erzählungen. Sie haben ihren Geist und ihre Kraft verloren. Wie kann der christliche Glaube in mir heute noch Kraft haben? Ich brauche einen Beweis des Geistes und der Kraft, so Lessing in Anspielung auf Worte des Apostels Paulus.

Mein Eindruck ist: Vielen von uns, 250 Jahre nach Lessing, geht es nicht besser. Der christliche Glaube ist ihnen kraftlos, geistlos geworden. Nette Geschichten, nette Worte, nette Leute. Manchmal auch nicht so nett – ich meine die biblischen Worte und Geschichten, die beim genaueren Hinsehen oft gar nicht so bequem in unsere Zeit, in unser Leben passen. – Ja, wenn wir damals dabei gewesen wären, als Jesus über diese Erde ging, dann wäre uns der Glaube leichter gefallen!

In unserem heutigen Predigttext begegnen wir Leuten, die dabei gewesen sind, als Jesus auf der Erde lebte. Und was lesen wir da? – Auch ihnen fällt es schwer zu glauben. Auch sie möchten einen echten Beweis haben, dass das mit Jesus auch stimmt, dass er wirklich von Gott kommt und ihnen etwas zu sagen hat.

Hört Worte aus dem Matthäusevangelium im 12. Kapitel

Einige von den Schriftgelehrten und Pharisäern sprachen zu Jesus: "Meister, wir möchten gern ein Zeichen von dir sehen." Und er antwortete und sprach zu ihnen: "Ein böses und abtrünniges Geschlecht fordert ein Zeichen, aber es wird ihm kein Zeichen gegeben werden, es sei denn das Zeichen des Propheten Jona. Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein.
Die Leute von Ninive werden auftreten beim jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen; denn sie taten Buße nach der Predigt des Jona. Und siehe, hier ist mehr als Jona. Die Königin vom Süden wird auftreten beim Jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und wird es verdammen; denn sie kam vom Ende der Erde, um Salomos Weisheit zu hören. Und siehe, hier ist mehr als Salomo.

Matthäus 12, 38-42

Ja, liebe Schwestern und Brüder, da stehen sie vor Jesus, die Schriftgelehrten und Pharisäer, also die religiösen Spezialisten, die Theologen, die Klugen und Gebildeten, zusammen mit den Frommen, die immer alles ganz genau wissen wollen und immer alles ganz richtig machen wollen, da stehen sie vor Jesus und fragen nach einem Zeichen, nach einem wirklich überzeugenden Beweis.

Sie haben es gesehen und gehört, wie Jesus Blinde und Lahme geheilt, Aussätzige rein gemacht und Taubstummen die Ohren geöffnet hat. Sie haben miterlebt, wie böse Geister vertrieben wurden. Und sie haben gehört, wie Jesus Gottes Gebote ausgelegt hat. Und doch konnten sie es nicht glauben. Die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen und die Wunder, die Jesus tat, waren ihnen noch lange keine ausreichende Beglaubigung. – "Gib uns doch endlich ein deutliches Zeichen", so bedrängen sie Jesus.

Ja, wie deutlich kann und muss denn so ein Zeichen sein, damit es wirklich und wahrhaftig und endgültig überzeugt?

Wenn wir Menschen nicht glauben wollen, dann kann uns auch kaum jemand überzeugen. Ich kenne diese Diskussionen mit Leuten, die nicht glauben wollen: Für die biblischen Geschichten gibt es leider keine überzeugenden Beweise (siehe schon Lessing). Die Wunder der Schöpfung erklären wir naturwissenschaftlich. Und das, was Menschen auch heute als Wunder erleben, wie sie von Gott geführt werden, zum Beispiel, das gilt ihnen als bloßer Zufall. Der Glaube sieht eben, was er sehen will, auch wo nichts ist – so die Kritiker. Selbst Heilungen von schwerer Krankheit – wir haben eine gute Bekannte, die zu unserer Gemeinde gehörte und zur Gnadenthaler Jesusbruderschaft, die wurde durch Gebet von Speiseröhrenkrebs geheilt – selbst solche wunderbaren Heilungen gelten dann eben als zufällige Spontanheilungen; bestenfalls hat da die positive Einstellung des Kranken eine Rolle gespielt.

Kaum etwas fällt schwerer, als seine vorgefasste Meinung zu ändern. Wer jahrzehntelang nicht geglaubt hat, warum sollte der es auf einmal tun? Erst recht, wenn er mit seinem Unglauben bisher gut gefahren ist?

Das ist die Crux, die wir im Osten Deutschlands erleben: Eine tiefgreifende Entfremdung vom Glauben, vom Christentum über mehrere Generationen hinweg. Was muss dann geschehen, um jemanden vom Glauben zu überzeugen, der bisher nicht glauben konnte, wollte, brauchte?

Und die Crux, die wir auch im Westen erleben: Eine fortschreitende Entfremdung vom Glauben. Die Gewissheit greift Raum: Es geht auch ohne Glauben, ohne Kirche, ohne Jesus, ohne Gott. – Klar, geht es auch ohne Gott. Es ist nur die Frage: wohin?

Damals sind es Schriftgelehrte und Pharisäer, die nicht glauben können oder wollen. Dabei müssten sie die Glaubensspezialisten sein. Diese Typen gibt es auch heute zur Genüge: Schriftgelehrte – die intellektuelle Elite, die alles genau wissen, die ihr fertiges Weltbild und zu allem eine Meinung haben und sich dabei klüger dünken als der Rest. Pharisäer – die, die alles richtig machen, die moralisch Überlegenen, die sich besser dünken als der Rest.

Kaum etwas fällt schwerer, als seine vorgefasste Meinung zu ändern. Wolf Biermann hat vor vielen Jahren ein schönes Lied geschrieben: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.

Denn da beginnt Glaube, wo wir bereit sind, uns zu ändern. Unsere Sicht, unser Verhalten, unsere Verhältnisse.

Jesus verweigert das Zeichen, das wir uns wünschen. Entweder wir sehen die Zeichen, die er uns gibt, oder wir sehen sie nicht. Wir haben keinen Anspruch auf mehr.

Sein Zeichen ist das Zeichen des Jona. Jona war der Prophet, der versucht hatte vor Gott wegzulaufen, der dann vom großen Fisch verschlungen wurde und dann doch wieder lebend an Land gespuckt wurde, damit er seinen Auftrag ausführen konnte.

Jesus wurde vom Tod verschlungen: gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes. Und dann wurde er doch wieder ins Leben gespuckt, aus dem Grab befreit: am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel.

Auch das Zeichen seines Todes und seiner Auferstehung haben sie nicht verstanden, die Schriftgelehrten und Pharisäer. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Wenn er Gottes Sohn war, dann konnte er nicht sterben, und wenn er ein Mensch war, konnte er nicht vom Tode auferstehen. Dass Jesus der Menschensohn war, der gekreuzigte Gott und der neue Mensch, das war für sie nicht zu fassen.

Ist ihnen das vorzuwerfen? Selbst der Jünger einer, Thomas, mochte es nicht glauben: Wenn ich es nicht selber sehe, wenn ich nicht selber seine Wunden ertaste, kann ich’s nicht glauben.Selig sind, die nicht sehen und doch glauben, hat Jesus ihm gesagt. (Johannes 20, 24-29)

Jesu Tod und Auferstehung sind die Zeichen des Glaubens. Für uns verdichtet im Zeichen des Kreuzes.

Das Kreuz ist eigentlich ein Antizeichen: Es steht für Schande, Schmerz und Tod. – In Schande, Schmerz und Tod Gott zu finden, scheint aussichtslos zu sein. Aber dort ist er. Nicht bei den Überlegenen, sondern bei den Unterlegenen, nicht bei den Siegern, sondern bei den Verlierern, nicht bei den Geretteten, sondern bei den Verlorenen.

Das Kreuz ist ein Antizeichen: Es steht als Zeichen des Todes für das ewige Leben. – Denn im Tod hat Gott den Tod besiegt. Der Gekreuzigte ist der Auferstandene. Darum werden auch die Unterlegenen von ihm erhöht, die Verlierer bekommen den Sieg zugesprochen, die Verlorenen werden gerettet.

Ist das ein starkes, überzeugendes Zeichen? Ist das der Beweis des Geistes und der Kraft? – Nein, für den Schriftgelehrten und den Pharisäer nicht. Für den, Besserwisser und Bessermacher nicht, für den, der Gott vorschreiben möchte, wie er sich zu beweisen hat.

Aber für den, der sich auf Jesus einlässt. Für den, der es wagt zu glauben.

Es ist eine Frage der Reihenfolge. Wenn ich erst auf den überzeugenden Beweis warte, um zu glauben zu können, dann komme ich nie zum Glauben. Aber wenn ich den Sprung in den Glauben wage, dann werde ich merken, wie Gottes Kraft sich an mir erweist. Ich springe und falle und seine Hand fängt mich auf.